A peek behind

(AN: auch wenn ich ANs meist nervig finde: denkt euch diese folgenden Szenen als Brücke zwischen dem August und den Partyvorbereitungen bzw. der Party im September. Es soll die Mädels in kleinen Szenen mit ihren Freunden und Familie zeigen und sie etwas mehr charakterisieren. Ich hoffe das ist euch nicht zu kompliziert :) Viel Spaß, Myru)

Sophie

"Sophie, räumst du bitte das Geschirr aus?", rief Sophies Mutter aus der Küche. "Ich habe das doch letztes Mal schon gemacht!", rief sie genervt zurück. Sie strich sich über ihre Haare und wandte sich wieder ihrem Handy zu. Sie schrieb gerade mit ihrem Freund. "Ja, aber du bist jetzt wieder dran!", ertönte es aus der Küche. Sophie seufzte schwer und stand von ihrem Bett auf.

Wie nervig. Aber egal, auf die paar Minuten kam es eh nicht an. "Ich hab nie gesehen, dass Fiona mal was gemacht hätte", murmelte sie verächtlich. Fiona, ihre jüngere 13-jährige Schwester saß im Wohnzimmer und streckte ihr die Zunge raus, als Sophie an ihr vorbei ging um zur Küche zu gelangen. Sophie zeigte ihr nur missmutig den Mittelfinger. "Sophie! Das habe ich gesehen!", tadelte ihre Mutter aus der Küche. Fiona grinste triumphiert und Sophie verdrehte die Augen, bevor sie die Küche betrat und sich ans Werk machte. Danach ging sie schnurstracks wieder zurück in ihr Zimmer. Irgendwann würde sowieso jemand nörgeln, sie würde sich die ganze Zeit nur einschließen, aber bis dahin konnte sie genauso gut im Zimmer Musik hören und ihrem Freund schreiben. Ihre Familie konnte nervig sein, von Zeit zur Zeit. Sie hatte drei Geschwister und ihre Eltern stellten sich sowieso meist auf die Seite von Fiona. Sophies ältester Bruder Thomas war zum Glück schon längst ausgezogen. Er hatte sie früher am meisten genervt. Dann gab's noch Johanne, die neunzehn war und somit das zweite Kind der Familie. Sie hatte letztens erst ihr Abi gemacht und bewarb sich gerade an diversen Unis. Bei ihr war Sophie auch froh, wenn sie endlich mal auszog. Johanne tat immer so klug und maßte sich häufig an, Sophie "Tipps" in ihrem Leben zu geben, sei es Mathe (Wenn Johanne zumindest Ahnung von Mathe hätte!) oder Make-Up und Frisuren. Bei letzterem reagierte Sophie sehr allergisch. Sie hatte nicht umsonst Zeit ihres Lebens verbraucht, um auf YouTube die Haartutorials anzusehen und zur Perfektion zu üben. Mit Fiona kam Sophie noch am besten aus, obwohl ihre Eltern sie zu bevorzugen schienen. Klar, sie konnte auch nerven, aber Fiona hatte so schöne blonde Locken, die sich immer zu frisieren lohnten.

Sophie legte sich seufzend wieder auf ihr Bett. Mit dem Bauch nach unten. Sie nahm ihr Handyund sah sich ihren WhatsApp-Verlauf mit ihrem Freund an.

"Soo... wieder da", schrieb sie.

Er schickte ein Herzchen. Sein Name war Oliver und er ging in die elfte Klasse. Sie waren erst seit zwei Monaten zusammen. Es ging alles von ihm aus. Vor den Ferien hatte er angefangen mit ihr zu reden und auch etwas zu schreiben. Er war lustig und fragte sie damals relativ direkt nach einem Date. Da Sophie Single und aufgeschlossen war, stimmte sie zu und nach mehreren Dates hatten sie sich irgendwann geküsst und waren offiziell zusammen. Nun ja, es war nichts allzu ernstes. Sophie war nicht wirklich in ihn verliebt, doch er war es. Irgendwie zumindest. Und sie war keine, die so einen netten Kerl nicht mindestens eine Chance gab.

"Was machst du grad?", schrieb sie.

"An dich denken :* "

Sophie lächelte. Der Typ war schon süß, irgendwie. Und sie fand es echt nicht so schlecht einen Freund zu haben. Auch wenn sie nicht wirklich verliebt war. Er war lieb und aufmerksam und brachte sie zum Lachen. Wer wusste schon, ob sie nicht irgendwann wirklich Gefühle für ihn entwickeln würde?

"Süße, hast du heute Zeit?", schrieb er, "habe Lust mit dir irgendwohin zu gehen."

Sophie dachte nicht lange nach.

"Klar."

Es war nicht so, als würde sie ihn lieben. Es war nicht so, als würde sie ihn hassen. Aber das war ohnehin egal. Sophie hatte lange darauf hingearbeitet, dass ihre Welt so perfekt war, wie es nun mal war. Sie hatte angefangen Sport zu machen, sich mit den coolen Mädchen angefreundet, hatte einen Freund. Ihre Familie war zwar manchmal anstrengend, aber ziemlich normal. Es gab nichts, was es hätte vermasseln können. Sie seufzte und setzte sich auf. Irgendwie war es für eine Gesellschaft seltsam, dass sie damals als erst elfjähriges Mädchen sich schon Gedanken um ihr Aussehen machen musste. Sie war damals pummelig gewesen. Irgendwie hässlich. Doch nun gefiel sie sich. Sie hatte lange glänzende Haare, die sie ihren Haarpflegeprodukten verdankte. Sie hatte angesagte Klamotten, die sie unter anderem ihrem Babysitterjob verdankte. Und sie hatte coole Freundinnen, allesamt ziemlich hübsch waren. Sie gehörte dazu. Sie hätte es damals nicht für möglich gehalten, aber es gefiel ihr. Weg waren die Fotos von damals, weg die Sophie von damals.

Es lebe die neue Sophie. Hipp Hipp Hurra.

Laurin

Laurin wohnte in einer großen Eigentumswohnung ihrer Eltern. Sie war Einzelkind, genauso wie Amanda. Manchmal wünschte sie sich einen großen Bruder. Jemanden, der auf sie aufpasste, wenn sie sich verloren fühlte. Jemanden, der besser kannte als alle anderen. Szenen aus dem letzten Jahr kamen ihr in den Sinn. Szenen, die offiziell nie passiert waren. Sie lag auf dem Boden. Kam jemand um sie zu retten? Wollte sie es überhaupt?

Laurin schüttelte den Gedanken ab. Alles war in Ordnung.

Außer dass sie sich nicht wohl fühlte. Die Wohnung war leer. Und selbst in ihrem Zimmer, in dem sie sich immer wohlfühlte, spürte sie nichts als nur Einsamkeit. Ihre Eltern waren arbeiten. Es war schon immer so gewesen, dass sie wenig Zeit hatten und es war okay. Sie hatte sich lange damit abgefunden. Doch es änderte nichts an ihrer Einsamkeit. Sie spürte, dass es ihr wieder schlechter ging. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, nahm ihre Sachen und ging aus der Wohnung. Draußen war es warm, aber nicht mehr so schwül wie vor wenigen Stunden. Sie holte ihr Handy hervor und tippte auf die die erste Nummer ihrer Kurzwahl. Sie brauchte nicht lange, bis jemand abnahm.

"Jo?"

"Hey Paul", sagte Laurin leise. Sie spürte noch einen Kloß im Hals.

"Kommst du vorbei?"

"Bahnhof?"

"Ja, normal."

Im Hintergrund war ein Grölen seiner Freunde zu hören. Laurin lächelte.

"Bin in 20 Minuten da."

...

Pauls Clique traf sich immer am Hauptbahnhof und saß in einer Ecke an einem der nicht so häufig genutzten Ausgänge. Alle saßen in einem recht entspannten Kreis zusammen. Als Laurin dazu stoß waren saßen nur vier weitere Leute dort. Sie waren kaum zu übersehen. "Hey Leute!", begrüßte Laurin die Punks und setzte sich zu Paul auf seine Decke. "Hey Prinzessin", begrüßte Paul sie und umarmte sie. Er roch nach Gras, auch wenn er nicht mehr kiffte. Allerdings waren die meisten seiner anderen Freunde die größten Kiffer, demnach war es kein Wunder, dass er so roch. Er hatte einen Irokesen, der leuchtend rot gefärbt war. Sein Gesicht war relativ kantig und er hatte eine interessante grünbraune Augenfarbe. Am rechten Ohr hatte er mehrere Piercings. Paul und Laurin waren Freunde. Sehr gute Freunde. Niemand aus Laurins normalen Freundeskreis kannte ihn oder seine Clique, aber sie verband ohnehin ein Geheimnis, das sie seit einem Jahr teilten.

"Bier?", bot Vanessa an. Sie war sechzehn, etwas pummelig und hatte hellpinke mittellange Haare, die sie zu einem Zopf trug. Laurin schüttelte dankend den Kopf. "Kein Lust auf Bier, aber wenn du ne Kippe hast?" Vanessa gab ihr kommentarlos eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug rüber. Paul schnappte sich auch eine Zigarette und zündete zuerst Laurin, dann sich selbst die Zigarette an.

Die Punks waren irgendwie zu Laurins zweiter Familie geworden. Es war nicht so, als würde Laurin sich nicht bei ihren Mädels wohlfühlen. Doch das war etwas anderes. Sie wusste nicht genau was es war. Vielleicht, dass Paul sie besser kannte als jeder andere? Vielleicht, weil Paul sie besser kannte als Amanda, die sie als beste Freundin betitelte? Und anders als ihre quirligen Mädels waren die Punks so relativ entspannt. Bei ihnen musste sich Laurin nicht mit irgendwelchem Kram wie Mode oder Zickenkriegen beschäftigen. Klar, so zickig waren ihre Freundinnen nicht, aber gelegentlich waren sie anstrengend, wenn von der Prinzessin Laurin Recht und Ordnung verlangt wurde. Sie war garantiert nicht die Anführerin oder so, aber häufig erwies sich ihre pragmatische Ader sowie ihre Dickköpfigkeit als hilfreich in Konflikten.

Laurin liebte ihre Mädels, aber manchmal wollte sie einfach bei Leuten sein, die von ihr nichts besonderes erwarteten, außer sie selbst zu sein.

Laurin nahm einen Zug aus ihrer Zigarette und lehnte sich an Paul, der seinen Arm um sie legte. Sie war nur Gelegenheitsraucherin, aber rauchte eigentlich recht gern. Sie hatte nichts gegen den Geschmack von guten Zigaretten. Manchmal hatte sie auch schon einen Joint mitgeraucht, doch sie hatte keine besondere Wirkung mitbekommen.

Ihr gegenüber saß ein Pärchen, das ab und zu auch mal dabei war. Das Mädchen hatte lange hellblonde Haare und ein Piercing an der Unterlippe sowie eins am linken Nasenflügel. Der Junge hatte kurze blaugefärbte Haare. Beide wirkten noch recht jung, aber jünger als Laurin waren sie wahrscheinlich nicht. Dave, der Blauhaarige, schrammelte auf einer Gitarre, während seine Freundin ihm zuhörte. Laurin wusste immer noch nicht, wie sie hieß, denn sie redete kaum und schien an sich nicht so interessiert aus sich heraus zu kommen. Von Dave wusste Laurin nur, dass er fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war.

Laurin rauchte schweigend ihre Zigarette, bis Paul sie ansprach. "Hey, du hast doch bald Geburtstag oder?" Laurin zuckte zusammen. Sie hatte es fast vergessen. Sie zuckte mit den Achseln. Er grinste. "Hast du Bock zu feiern?"

"Ich feier schon", meinte sie.

"Ah..."

Die Enttäuschung tat ihr fast weh. Sie sah in seine grünbraunen Augen und seufzte. "Tut mir leid, Paul", sagte sie, "aber..." Er winkte ab. "Schon okay", meinte er, "ich glaube ich... oder eher gesagt wir wären keine allzu passende Partygesellschaft oder? In deiner Snob-Clique, mein ich." - "Das ist keine Snob-Clique!", rief Laurin aufgebracht. Er hob verteidigend die Hände hoch. "Schon gut, schon gut, Kleine. Wenn ich dir zu peinlich bin, dann ist das eh egal!" Verdammt, er war wieder beleidigt... Laurin sah auf den Boden. "Du weißt genau, warum das nicht geht", sagte sie leise, "sie würden mich fragen, woher ich euch kenne. Und... ich wüsste nicht was ich sagen soll..." "Dann sag doch einfach, dass du uns zufällig irgendwo kennengelernt hast! Party oder so! Jetzt tu nicht so, als würdest du nie feiern!" Laurin zuckte zusammen. Sie hätte nie gedacht, dass Paul sich so sehr darüber aufregen würde, nicht eingeladen zu werden. Ihm war es immer egal gewesen, was mit Laurins "zweitem Leben" war. Ihm war es normalerweise vollkommen egal, dass Laurin niemanden erzählte, dass die zwei auch nur Freunde waren. Also warum war es ihm auf einmal wichtig?

Verwirrt sah Laurin in eine andere Richtung. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch sie hatte nicht das Gefühl, dass sie ihn einladen sollte. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie an seine Brust. Er lachte ein wenig.

"Hey Zwerg, du musst mich nicht einladen, okay? Ich versteh's schon. Ich glaube, ich verstehe es viel zu gut..." Laurin entspannte sich wieder. "Ich denke, ich würde mich eh nicht bei den ganzen Leuten wohlfühlen", sagte er schließlich, "aber du holst dir gefälligst am nächsten Tag Kuchen bei uns ab, okay?" Laurin bewegte sich kurz etwas von ihm weg, um ihn in die Augen zu schauen. Sie glänzten schelmisch wie immer. Laurin lächelte. "Klar", sagte sie. Irgendwie freute sie sich mehr auf die Party auf der Straße mit einem gekauften Tütenkuchen für 90 Cent, als auf die riesige Party mit den anderen zusammen... warum hatte sie sich das nochmal eingebrockt? Ach verdammt, wenn sie nur wissen würde, was sie wirklich wollte...

Laurin wusste, dass ihr Doppelleben nicht von allzu langer Dauer werden konnte. Denn wenn man eine Seite an sich verbarg würden es die Hunde riechen. Und dann würden sie bellen und sie bis zum Stacheldrahtzaun scheuchen, bis sie hinaufkletterte und sich an dem Zaun verletzte...

Alice

"Weißt du, es geht mir ja nicht einmal darum, dass ich die Schule nicht vernachlässigen soll oder so! Aber das kann doch nicht sein, dass man mir verbieten soll zu spielen!" Alices Stimme war aufgebracht und sie hörte Clara an der anderen Leitung leise lachen.

"Das ist nicht komisch", rief Alice frustriert.

"Doch, doch, ist es!", rief Clara, wurde dann allerdings wieder ernster, "Hör mal, deine Eltern verbieten es dir doch nicht Klavier zu spielen. Du sollst nur nicht schon wieder so lange spielen, dass du keine Zeit mehr für Hausis hast oder was auch immer du tun sollst. Guck mal, selbst wenn du weiß nicht... drei Stunden Hausis machst, hast du doch noch paar Stunden zum üben. Chill mal!"

Alice seufzte und verdrehte die Augen. Nein, darum ging es gar nicht. Sie hatte das Gefühl, dass sie und Clara aneinander vorbei redeten. War sie wirklich so ignorant oder war es einfach nur unverständlich für die... "Normalos", wie Clara es nannte? "Ach weißt du was? Vergiss es. Ich hab eh noch was zu tun, wir sehen uns morgen!", sagte Alice missmutig und drückte auf den roten Hörer. "Hey, warte! - ", hörte sie noch Clara rufen, doch dann war sie schon wieder weg.

Clara verstand es nicht. Sie verstand es einfach nicht! Alice seufzte und legte sich auf ihr Bett. Es war ein schön kuscheliges Bett mit vielen kleinen Kissen. Sie könnte sich glatt einkuscheln und wieder einschlafen... ach was!

Sie war viel zu genervt dafür. Sie sah an die Decke. Die Decke war hoch. Oben hing eine hübsche weiße Hängelampe in der Form eines großen chinesischen Lampions. Ihr Zimmer war allgemein verspielt eingerichtet. Nicht so ein supermädchenhaftes rosa-lila-Zimmer wie bei Clara, allerdings dennoch mit zarten rosé-Tönen hier und da. Ihr Zimmer war nicht allzu groß, aber ziemlich hell und sie hatte einen kleinen Balkon, worauf sie eine größere Topfpflanze stehen hatte. Sie konnte sich nie merken, was für eine Pflanze es war, aber sie gab im Frühling bis Sommer lilane Blüten, die so in Trauben oder so ähnlich zusammengefasst waren. Obwohl... irgendwo musste es dort doch stehen. Alice linste kurz auf ein Schild, das in der Erde im Topf stand. Ah! Flieder.

Alice stand schließlich auf und verließ ihr Zimmer um das Haustelefon wieder an den normalen Platz zu stellen. Ihre Familie war relativ reich. Nicht so reich wie Minas Familie, aber reich genug sich eine kleinere Stadtvilla mit zwei Stockwerken zu leisten.

Das Erdgeschoss bestand aus eher einem zusammenhängenden Raum. Die Küche war eher eine Wohnküche, dann gab es eine leichte Abtrennung durch Bücherregale, wohinter sich dann der Flügel verbarg. Hinter dem Flügelbereich gab es dann eine größere Sofalandschaft und einen Fernseher. Die Ladestation des Telefons war in der Nähe des Fernsehers. Noch etwas missgestimmt steckte Alice das Telefon wieder auf die Ladestation. Ihre Mutter war nach ihrer heutigen Standpauke wieder einkaufen gegangen, würde aber nicht allzu lange brauchen. Zumindest hatte Alice keine Lust sich von der etwas sagen zu lassen, wenn sie sich kurzzeitig an den Flügel setzte. Ihr Vater war wieder arbeiten. Er war ein sehr gefragter Chirug und seit einigen Jahren hatte er sich auf die Schönheitschirugie spezialisiert. Das brachte ihm mehr Geld ein und das war ihm wichtiger, als tatsächlich Menschen zu retten.

Ihre Mutter war früher Krankenschwester gewesen, hatte dann aber gekündigt, als sie Mutter wurde. Alice war kein Einzelkind, auch wenn es manchmal so erschien. Sie hatte einen älteren Bruder namens Johannes, den sie liebevoll Hannes nannte. Er war 21 und studierte Jura in Hamburg. Zumindest war das die offizielle Version. Alice wusste, dass das seit einem Jahr nicht mehr stimmte. Ihm wurde das Burn-Out-Syndrom in Verbindung mit schweren Depressionen diagnostiziert und er war noch lange nicht in einem Stadium der Besserung. Ihre Eltern verleumdeten jedoch stetig, dass er nicht in der Uni saß und Bücher wälzte, sondern in einer Klinik und möglichst versuchte, sich nicht umzubringen.

Alice seufzte. Sie vermisste Hannes. Er war immer derjenige gewesen, der sie ermutigt hatte, Pianistin zu werden. Der sie immer ermutigte, ihren Traum zu leben und sich irgendwann von ihren Eltern abzusetzen. Er war immer der gewesen, der sie in Schutz nahm, wenn ihre Eltern sie wieder nichtsnützig nannten, weil sie ihren Erachtens nach zu lange Klavier spielte, zu lange mit ihren Freundinnen weg war oder sonst irgendetwas tat, das ihr einigermaßen Spaß machte. Er war es gewesen, der ihr verraten hatte, wen sie ansprechen musste, wenn sie in den Freistunden ein wenig üben wollte. Er war ihr großer Bruder gewesen, auf den sie immer gebaut hatte. Doch seit er nicht mehr da war... fühlte sie sich so verloren.

Sie ließ sich das nie anmerken und hatte nicht einmal Clara erzählt, wie einsam sie sich ohne Hannes fühlte. Auch wenn die anderen wussten, was wirklich mit Hannes war, oder es zumindest eben im Ansatz wussten... sie konnten ja nicht viel tun. Sie konnten ihn nicht wieder herbringen oder ihn heilen oder so.

Alice schluckte. Sie merkte, wie ihr die Tränen kamen.

Sie hatte einen strengen Plan jeden Tag. Sie durfte zu Hause zwei, maximal drei Stunden Klavier spielen. Hausaufgaben musste sie sofort erledigen. Computerzeit gab es so ungefähr für zwei oder drei Stunden. Um acht wurde zu Abend gegessen und dann durfte sie vielleicht noch etwas im Fernsehen gucken, wenn sie mit ihren Hausaufgaben schon durch war. Schlafen sollte sie spätestens um halb elf Uhr. Am Wochenende durfte sie auch etwas später schlafen gehen, aber auch das wurde dann kontrolliert. Mit Freundinnen weggehen oder feiern war etwas kritischer. Da musste sie ihre Eltern mehrere Tage bearbeiten und versichern, dass da garantiert nichts schlimmes passieren würde. Dass sie garantiert nichts trinken würde und irgendwo übernachtete oder nach Hause gefahren wurde.

Es war ätzend.

Alice wusste, dass ihre Freundinnen sie immer für ihr Talent am Klavier beneideten, oder für ihre guten Noten in der Schule. Doch die Wahrheit war: sie war kein Genie. Ihre guten Noten waren hart erarbeitet und Klavier zu spielen war ihr einziges Ventil, um sich einmal frei zu fühlen. Sie war weit weg davon perfekt zu sein, wollte aber auch nicht bemitleidet werden. Sie konnte nicht anders, als einfach das zu tun, was von ihr erwartet wurde. Sie konnte nicht anders, als einfach in ihren Alltag hineinzuleben, egal wie sehr sie daraus ausbrechen wollte.

Und irgendwo im Inneren fühlte sie immer diese Art Einsamkeit, die sie sehr langsam immer mehr ertränkte.

Clara

Clara erinnerte sich noch ganz genau an ihre erste kleine Party. Sie war damals fünfzehn geworden und mit Laurin, Sophie und Mina in einen kleinen Privatclub gelandet. Sie wusste noch, dass Alice und Amanda nicht dabei gewesen waren. Alice nicht, weil sie nicht durfte und Amanda nicht, weil sie am nächsten Tag irgendein Trainingslager oder so hatte.

Es war so eine kleine schnöselige Party gewesen. Mit irgendwelchen Bonzen, die Minas Familie irgendwie kannte. Aber die Location war wirklich hübsch gewesen. Einen wunderbaren Blick auf irgendeinen See oder sowas. Es war sowieso dunkel, also konnte man nicht soo viel erkennen. Die Musik war... ziemlich okay. Es war relativ normale Chartmusik gemischt mit Elektro. Eigentlich nicht allzu sehr Claras Sinn, aber es gab Alkohol und hübsche Menschen, von daher war es okay. Sophie und Mina hatten den ganzen Abend lang getanzt, während Laurin größtenteils an der Bar zu finden war. Clara war immer zwischen Tanzfläche und Bar gewechselt. Die meisten auf der Party waren nicht allzu alt. Die Ältesten waren vielleicht Anfang zwanzig. Die Jüngsten... nun ja fünfzehn. Trotzdem schien es niemanden auszumachen, dass sich Minderjährige betranken. War ja ne Privatparty. Clara wusste noch, wie lange sie gebraucht hatte, um sich für die Party bereit zu machen. Das richtige Kleid musste gewählt werden. Sie hatte ein kurzes Schwarzes angehabt und sich von Mina Schuhe geliehen. Dazu eine kleine schwarze Handtasche. Ihre Haare hatte Sophie frisiert. Sie wusste nicht mehr was genau sie angestellt hatte, aber da waren paar verspielte Zöpfchen dabei gewesen sowie Locken. Es sah ziemlich gut aus. Geschminkt war sie nicht zu stark, aber auch nicht zu wenig. Es war ihr Abend. Und es hatte ihr gefallen. Und dann hatte sie ihn gesehen. Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Wobei sie sich nicht einmal sicher war, ob er seinen Namen genannt hatte.

Er war groß, dunkelhaarig und schlank gewesen. Hatte ein schickes Hemd und eine teure Hose an. Seine Armbanduhr hatte sehr teuer ausgesehen. Er hatte zudem auch eine rote Fliege und ein schwarzes Jakett an gehabt. Er hatte älter ausgesehen, aber als Clara gefragt hatte, war er erst siebzehn. Der Dunkelhaarige hatte etwas besonderes an sich gehabt. Eine Ausstrahlung, die irgendetwas gefährliches an sich hatte, auch wenn er nicht wie ein schlechter Mensch wirkte. Irgendetwas geheimnisvolles. Eine Ausstrahlung die sagte, dass er alles bekommen könnte, was er wollte.

Und an dem Abend wollte er... sie.

Sie hatten lange miteinander getanzt, geredet und gelacht. Er hatte sie geküsst, sie hatte es erwidert und Clara hatte dabei deutlich einen oder zwei neidische Blicke gemerkt. Er hatte sie dann in einen kleinen Bereich geführt, irgendwo im weiter hinten. Da war eine Matratze gewesen mit vielen Kissen und eine Flasche teurer Prossecco stand in einer Ecke. Clara hatte gedacht, dass es eine der Nächte werden würde. Sie war verunsichert gewesen, und doch gleichzeitig hatte sie ihn so sehr gewollt. Doch es kam anders, als sie gedacht hatte. Sie hatten weiter rumgeknutscht und er hatte sie nach und nach auf die Kissen gedrückt. Doch dann... sie wusste immer noch nicht, was es zu bedeuten hatte. Irgendwann hatte er von ihr abgelassen, den Blick weit in die Ferne gehabt. "Du hättest es getan oder?", hatte er sie dann gefragt. Sie hatte zögerlich genickt. Dann war er plötzlich aufgestanden, hatte gesagt: "Bis hierhin und nicht weiter, Süße. Ich stehe nicht darauf, wenn ich es zu einfach habe." Dann war er gegangen und hatte sie sehr verdattert zurück gelassen...

Clara schob die Erinnerung beiseite. Es war damals nicht passiert doch sie wusste seitdem nicht, ob sie froh darüber sein sollte, oder gekränkt. Es war praktisch so, dass er gesagt hatte, dass sie leicht zu haben war. Sie musste zugeben, dass sie gerne flirtete und Kerlen den Kopf verdrehte. Doch sie fand es nicht unbedingt schlimm. Was war denn schlimm dran, bewundert und begehrt zu sein? Und doch... diese Begebenheit war irgendwie seltsam und sie fühlte sich dadurch, als hätte man ihr das Wort "Schlampe" auf die Stirn tättowiert.

Natürlich würden Leute sie genauso nennen, wenn sie wüssten, dass Clara sich seit ihrer ersten Party öfter mit zwielichtigen Typen traf und auf Partys Kerle abschleppte. Aber ohne es sich so sonderlich bewusst zu sein, gefiel es ihr einfach.

Es war fast wie eine Sucht. Eine Sucht nach Beachtung und Nähe und dennoch eine eigenartige Art der Kontrolle.

Wenn sie wollte konnte sie alles haben, was sie wollte. Wenn sie es wollte, dann konnte sie frei sein.

Zu Hause saß Alyssa auf Claras Bett und tippte auf ihrem Handy rum, während Clara an ihrem Laptop mit einigen Leuten chattete. Im Hintergrund lief eine YouTube-Playlist von Taylor Swift. Clara seufzte. Ihr war etwas langweilig. Im Chat war überhaupt nichts los und Alysssa wirkte ziemlich abwesend. "Mit wem schreibst du eigentlich grad?", fragte Clara schließlich, nachdem sie keine Lust mehr hatte sinnlos zu chatten und das Fenster zu gemacht hatte.

Alyssa zuckte leicht zusammen und grinste schließlich. "Das wüsstest du wohl gerne, hm?"

Clara zuckte mit den Achseln. "Mir ist laaangweilig", maulte sie, "wollen wir nicht irgendwas machen?" Alyssa legte ihr Handy weg und überlegte kurz. "Wie wär's mit backen?", schlug sie vor, "wir wollten doch dieses eine Rezept ausprobieren." Claras Augen leuchteten auf. Mit ihrer Schwester backte sie sehr gerne. Es war ein Wunder, dass die zwei trotz allen Süßigkeiten, die sie fabrizierten noch einigermaßen schlank waren.

"Jaaa lass uns baacken, yaaaayyy", rief Clara gedehnt und wedelte ihren Arm hoch in die Luft. Alyssa lachte. "Okay okay, lass uns in die Küche gehen."

Alyssa war irgendwie eine perfekte große Schwester, wie Clara fand. Lustig, überhaupt nicht spießig, machte fast jeden Mist mit und konnte super backen. Ziemlich hübsch war sie auch und man konnte sie fast immer um Rat fragen. Auch wenn man unter Schwestern sich manchmal auch ziemlich anzicken konnte.

Die zwei gingen in die Küche und holten die Zutaten hervor. Sie hatten diesmal Glück und hatten alles noch parat. Das Backen war wie immer eine spaßige Angelegenheit mit Gute-Laune-Musik aus dem Radio, Naschen vom Teig und kleinen traditionellen Mehlkrieg, bei dem wie so oft Clara verlor und ein total zugemehltes Gesicht bekam. Ab und zu kamen auch ihre Eltern vorbei. Die Mutter schimpfte wie immer halbherzig, dass sie überall Mehl verteilten. Claras Vater war Journalist und arbeitete häufig auch von zu Hause. Claras Mutter war Lehrerin an einer Realschule und unterrichtete Deutsch und Religion. Sie waren anständige Menschen. Eigentlich auch ein wenig spießig. Sie waren die Art Eltern, die sich daran erfreuten, dass ihre Töchter gerne zusammen backten, jede zumidest einmal versucht hatten Instrumente zu spielen und irgendwie engagiert in der Schule oder in der Kirche waren. Keine Eltern, die es besonders toll fänden, wenn sie wüssten, dass ihre Töchter ab und zu feiern gingen und Alkohol tranken. Oder gar mit Jungs auch nur befreundet waren. Aber es waren nun mal ihre Eltern und Clara hatte sie beide lieb.

Auch wenn sie langweilig waren. Clara lächelte in sich hinein, bei dem Gedanken, dass ihre Eltern bestimmte Seiten von ihr gar nicht kannte. Es hatte einen Reiz ein bestimmtes Doppelleben zu führen. Nach außen hin ein süßes Mädchen von Nebenan, das gerne Theater spielte und hilfsbereit und höflich war. Und am Ende eigentlich ein Mädchen, dass auch irgendwo abenteuerlustig war und auf ihre eigene Weise rebellierte. Ein Wolf im Schafspelz. Alyssa war ihr da irgendwie ähnlich. Auch wenn sich Clara sicher war, dass Alyssa nicht mal so häufig feiern ging, wusste sie, dass Alyssa weit davon entfernt war ein Unschuldslamm zu sein.

Und es würde sich erst später herausstellen, dass die zwei nicht die einzigen waren, die ihr wahres Ich durch ein perfektes Mienenspiel verbargen.


Amanda

Ich seufzte, als ich durch mein Fotoalbum blätterte. Wunderschöne Momente abgebildet, gut durchdacht und im richtigen Moment geknipst. Letztes Jahr war ich noch Feuer und Flamme für den Fotografie-Club gewesen, hatte meine damals neue Digitalkamera überall mitgenommen und hatte sogar bei einem Fotowettbewerb für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren den 20. Platz belegt. Bei der großen Teilnehmerzahl war ich wirklich stolz gewesen auf den 20. Platz. Allerdings hatte da auch viel Glück mitgespielt, da ich ein Bild abgeschickt hatte, bei dem ein Schmetterling auf einer Pflanze ruhte, während die Sonne gerade unterging. Es war ein einzigartiges Farbspektakel, bei dem ich riesiges Glück hatte, es aufnehmen zu können. Nach dem Bild hatte ich leider nie wieder solche tollen Aufnahmen gemacht.

Irgendwie bereute ich es fast, aus dem Fotografie-Club der Schule ausgetreten zu sein, aber ich hatte einfach viel zu viel zu tun. In der zehnten Klasse kamen die Mittlere Reife Prüfungen, für die ich gut hinarbeiten musste. Zudem war da auch noch Sport, welcher mir irgendwie wichtiger geworden war. Fotos knipsen war spaßig und tat ich zwar immer noch gerne, aber ich hatte irgendwie die Lust verloren, jede Woche mit den ganzen Foto-Nerds in einem Raum zu sitzen und über verschiedene Einstellungen und Linsen zu philosophieren. Sophie war allerdings immer noch in dem Club. Sie hatte ohnehin mehr Begabung als ich, das richtige Motiv zu finden. Sie hatte allgemein einen Sinn für Ästhetik.

Ich klappte das Album zu. Vielleicht könnte ich irgendwann nochmal schöne Partybilder oder ähnliches machen. Dann ließe sich sicher noch ein Album füllen. Ich war ein riesiger Fan von Fotoalben.

In meiner Familie wandte man sich gerne an mich, wenn man ein Album zu gestalten hatte.

Ich war ein Einzelkind. Wahrscheinlich bekam ich deshalb so viel Beachtung. Obwohl "viel Beachtung" vielleicht übertrieben war. Ich war innerhalb meiner Familie irgendwie so ein Papa-Kind, auch wenn ich meine Mutter auch über alles liebte. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit mit vielen klischeehaften Erinnerungen wie der erste Freizeitparkbesuch, die gemeinsamen Ausflüge zu Spielplätzen, die erste zerbrochene Vase und kleinen dummen Sachen, die man so als Kind so macht. Häufig war Laurin dabei, da ihre Eltern seltener Zeit für die Familie erbrachten als meine. Deswegen sah ich sie irgendwie als eine Art Schwester an. Irgendwie tat mir Laurin häufig leid, dass sie damals und auch später so oft alleine war. Aber sie wirkte nicht allzu traurig darüber und war dafür öfter bei mir. In der letzten Zeit sah ich Laurin außerhalb der Schule jedoch seltener. Ich nahm mir vor, sie mal wieder einzuladen.

"Amanda, magst du mir kurz mal helfen?", hörte ich meine Mutter unten rufen. Meine Mutter war eine typische Hausfrau irgendwie. Nachdem ich geboren war wollte sie lieber Vollzeitmutter werden, anstatt weiter auf ihre journalistische Karriere zu bauen. Sie sah noch überhaupt nicht alt aus, man schätzte sie immer zehn Jahre jünger, als sie eigentlich war. Sie war ähnlich groß wie ich, hatte mittellange glatte straßenköterblonde Haare und leuchtend grüne Augen. ich beneidete sie um ihre Augen. Ich hätte auch gerne so eine interessante Augenfarbe, anstatt ein stinknormales braun. Doch von der Kopfform waren wir uns ein wenig ähnlich.

Ich sprang von meinem Bett auf, ließ mein Album auf dem Bett liegen und ging nach unten um meiner Mutter in der Küche zu helfen. Es roch sehr lecker nach Hühnchen und Rosmarinkartoffeln. Bald gab es wohl Abendessen. Wir aßen immer relativ früh zu Abend. Es gab da keinen besonderen Grund, es war einfach nur eine Angewohnheit.

"Magst du bitte auf die Soße hier aufpassen? Ich muss nochmal fünf Minuten raus", erklärte mir meine Mutter, streifte ihre Schürze ab und hing sie an einen Haken. "Klar", sagte ich. Sie lächelte mich an, gab mir einen Kuss auf die Wange und war schon wieder weg. Ich rührte die Soße in dem kleinen Topf um und stellte den Herd eine Stufe kleiner.

Mein Vater hatte übrigens einen Doktor in Chemie und arbeitete in einer Arbeitsgruppe in einem Forschungslabor in der Stadt. Er hatte meist pünktlich um fünf Feierabend und war ein guter Familienvater. Wir gingen manchmal zusammen joggen. Ja, mit meiner Familie konnte ganz gut leben. Ich liebte meine Familie.

Ich rührte weiter in der Soße, als sie wieder zu brodeln anfing. Ich sah auf die Uhr. Minuten konnten wie Stunden wirken, wenn man auf etwas wartete...

Nach einer kurzen Weile kam meine Mutter endlich wieder. Sie sagte nichts weiter, bedankte sich nur kurz und scheuchte mich dann aus der Küche. Die Küche war durch und durch ihr Territorium.

Wir waren eine ganz normale Familie. Wir hatten keine Leichen wie andere Familien. Zumindest dachte ich das.


Mina

Bei Mina zu Hause wurde größtenteils spanisch geredet. Ihre Eltern waren Dominikaner und waren vor ihrer Geburt nach Deutschland gezogen. Mina war ziemlich stolz eine echte Latina zu sein, auch wenn sie bislang nicht so häufig in der Dominikanischen Republik war. Zuletzt war sie vor zwei Jahren dort. Mina wohnte in einer ziemlich reichen Gegend, nicht allzu weit von Alice entfernt. Ihre Familie hatte ein relativ großes Haus mit einem überdachten kleinen Swimmingpool im Garten. Doch der Garten an sich war nicht unbedingt etwas besonderes. Man mochte meinen, dass so reiche Leute wahrscheinlich viel Arbeit in den Garten steckten, aber bislang hatten ihre Eltern einfach nicht die Zeit gefunden, den Garten schön zu machen. Ein halbwegs gepflasteter Weg zum Pool war halbherzig angelegt worden und schon fast wieder zugewuchert. Im Garten wuchs zudem ein Apfelbaum, an dem eine kleine Schaukel hing. Mina saß gerne auf der Schaukel. Von der Schaukel aus hatte sie einen guten Blick auf das Haus. Auf der Veranda saß gerade ihre Mutter, eine hübsche dunkelhäutige Frau mit schönem lockigen Haar, das ihr Feuer mit dem Alter nicht verloren hatte. Sie saß auf einem der Liegen und las ein Buch. Ihr Vater befand sich wahrscheinlich im Haus irgendwo.

Die Sonne neigte sich so langsam in den Horizont. Der Himmel war in einem schönen Orange getaucht. Mina stieß sich etwas vom Boden ab und genoss die leichte Brise durch das Schaukeln. Ihre Border-Collie-Dame namens Cara lag mit etwas Abstand vor ihr im Gras und kaute an einem Stock herum. Mina seufzte entspannt. Am liebsten würde sie jeden Tag einfach nur im Garten entspannen. Es war ihre liebste Beschäftigung.

Barfuß das Gras unter sich spüren, mit ihrem Hund spielen und herumtoben, bis sie sich schließlich erschöpft hinlegte oder auf die Schaukel setzte. Irgendwie war es seltsam, dass sie eigentlich so ein Naturmensch war, dafür, dass sie sich nach und nach das Image einer stolzen Fashionista aufgebaut hatte. Doch wer wüsste es besser als sie, dass der Schein manchmal trügt?

Der Himmel bewölkte sich leicht. Doch es sah nicht so aus, als würde es bald regnen. Ihre Mutter war von der Veranda wieder weggegangen. Wie spät war es denn? War es schon Zeit für das Abendessen?

Plötzlich hörte Cara auf, ihren Stock zu kauen. Sie stellte ihre Ohren auf und wedelte mit dem Schwanz. Bellend lief sie in Richtung Haus.

Mina hörte es auch. Ein Auto schien gerade auf ihre Auffahrt gefahren zu sein. Konnte es sein? Schnell sprang Mina von der Schaukel hinunter und lief Cara hinterher und öffnete die Tür, die den Garten mit der vorderen Seite des Hauses verband. Kläffend lief Cara vor ihr hinaus. "Cara!", rief Mina laut, "lauf nicht weg!"

Doch so weit lief Cara nicht. Denn schon bei der Einfahrt bellte sie freudig einen jungen Mann an, der gerade aus seinem Audi stieg, und sprang ihn an. Er war ziemlich groß, hellhäutig, aber leicht gebräunt, sportlich gebaut und hatte hellbraune strubbelige Haare. Mina quietschte jubelnd, als sie ihn erkannte.

"Eric!", schrie sie und rannte ihren Bruder mit ihrer Umarmung beinahe um. "Oi!", rief er und fing sie gerade noch ab, "bring mich doch nicht um!" Auch die zwei sprachen spanisch zueinander.

Mina knuffte Eric in die Seite und er zerstrubbelte ihr lockiges Haar. Nur Eric, aber wirklich auch nur Eric, durfte ihr Haar zerwuscheln. "Was machst du hier?", fragte sie, "ich dachte du willst erst im Herbst wieder herkommen." Eric grinste. "Naja, so lange bleibe ich auch nicht, aber ich habe bis nächste Woche frei und dachte, ich besuche meine liebe Schwester und meine lieben Eltern. Gibt es schon Abendessen?" Mina zuckte mit den Achseln. "Komm erstmal rein!", sagte sie und ging schon mal vor, um die Tür zu öffnen, doch ihre Mutter kam ihr zuvor. "Oh! Eric! Das ist aber eine Überraschung!" Sie drehte sich in Richtung Hausinnere und rief: "Jabiel! Eric ist da!" Man hörte einen erstaunten Ausruf und Schritte irgendwo von oben. "Gut, dass du jetzt da bist, Eric, ich mache gerade Sanchocho", sagte die Mutter und Erics Augen leuchteten. Das war sein Lieblingsgericht. Gemeinsam gingen sie herein. Cara verzog sich hechelnd in die Küche und trank aus dem Napf. Die Küche lag links vom Eingang, etwas weiter hinten. Eric ging direkt mit zur Küche, um seiner Mutter zu helfen. Mina streckte sich gähnend und beschloss, in ihr Zimmer zu gehen und sich etwas legeres anzuziehen.

Ihr Zimmer lag im zweiten Stock, also dem Dachgeschoss. Früher lag Erics Zimmer gleich gegenüber von ihrem und sie teilten sich das große Bad in der Mitte. Sie erinnerte sich daran, als sie noch ziemlich genervt waren, wenn der eine zu lange brauchte. Auch wenn das eigentlich Schwachsinn gewesen war, da sie eigentlich genug Badezimmer im Haus hatten. Ein Elternbadezimmer ein Stockwerk darunter und ein kleineres Gästebadezimmer im selbigen Stockwerk. Mina hatte ein großes Zimmer. Zwar war eine Dachschräge im Raum, aber es gefiel ihr. Es war so etwas wie ihre kleine perfekte Höhle. Ein Dachfenster brachte ganz gut Licht in das Zimmer. Sie hatte einen großen roten Kleiderschrank und daneben einen Schminktisch gleich links von der Tür. Dem gegenüber war die Dachschräge, an der ihr Schreibtisch war. Es wirkte zwar etwas eng, aber sie konnte gut dort arbeiten. Sie hatte einen iMac, auf den sie sehr stolz war. Auf der rechten Seite befanden sich ein Regal und zwei Sitzsäcke. In der Mitte war ihr schönes großes Bett mit vielen Kissen. Allgemein war ihr Zimmer in rot und orange gehalten. Es hatte irgendwie etwas feuriges und ohnehin war ihre Lieblingsfarbe rot. In einer Ecke rechts von ihrem Bett stand ihr Schuhschrank. Er war nicht allzu groß, deshalb auch mittlerweile von Schuhen überflutet. Mina war nicht die ordentlichste Person, doch dieses Mal flogen nicht so viele Sachen im Zimmer herum, weshalb sie sehr stolz darauf war. Lächelnd öffnete sie ihren Schrank und suchte sich lockere Kleidung heraus. Sie entschied sich für eine bequeme pinke Jogginghose und ein schwarzes schlichtes Top. Nachdem sie sich umgezogen hatte besah sie sich im Spiegel. Eigentlich war sie schön. Sie hatte hohe Wangenknochen und ein ovales Gesicht. Ihre lockigen Haare fielen perfekt (auch wenn sie häufig genug genervt von ihren Haaren war). Sie war schlank und 1,70m groß. Und zudem hatte sie Stil. Selbst eine pinke Jogginghose und ein schwarzes Top wirkten bei ihr gut kombiniert und passend. Es mochte arrogant klingen, doch Mina mochte sich mittlerweile. Endlich! Nach all der Zeit...

Mina sah auf die Uhr. Zeit ihre Medikamente zu nehmen. Sie öffnete ihre linke Schublade und kramte weit nach hinten um ihre Tabletten zu zu nehmen. Die Packung der Tabletten hatte sie schon weggeworfen wie immer, der Beipackzettel lag aber noch dazu. Sie pflückte sich eine Tablette heraus und nahm sich die Flasche Wasser, die links neben dem Bett stand. Schnell schluckte sie herunter. Alles ist gut.

Mina wischte sich mit dem Handrücken etwas Wasser von den Mundwinkeln und machte sich auf den Weg nach unten. Es roch schon gut und sie freute sich auf das Abendessen mit der gesamten Familie.



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