9. Kapitel
London, Freitag 20:13 Uhr
Elisabeth läuft auf das kleine weiße Sofa zu, ich in Ihrem Schlepptau. Um uns herum sind nur tanzende Gewänder und scheppernde Gläser zu sehen und zu hören. Langsam wird mir bange. Ich setze mich zu einem Geist, in einem Schloss voller Geister. Das kann ich nie jemanden erzählen. Mit einem mulmigen Gefühl setze ich mich zu Beth, die schon auffordernd mit der linken Hand auf das Polster klopft. Dabei achte ich darauf, ihr weder zu nah, noch zu weit entfernt von ihr zu sein. Doch Beth schmunzelt nur und rutscht näher zu mir. Ich muss laut schlucken und suche nach Daemon, meine Augen finden ihn jedoch nirgends. Super.
"Du bist also die Freundin meines Bruders?", beginnt Beth und ich verschlucken mich fast an meinem eigenen Speichel. Heftig schüttle ich den Kopf und erkläre dann: "Wir sind nicht zusammen. Eher so etwas wie Freunde, nehme ich an." Es sind die ersten Worte, die Beth aus meinem Mund gehört hat. Hoffentlich klang meine Stimme selbstsicher. Das Mädchen neben mir nickt langsam bevor sie erneut spricht. "Du brauchst nicht so ängstlich drein zu schauen, ich werde dir nicht weh tun.", meint sie und ich verziehe das Gesicht. Anscheinend hat sie meine Blicke falsch gedeutet. "So ist das nicht. Ich habe keine Angst, gut ein wenig schon.. Es ist nur so.. Anders. Neu. Ich glaube ich bin überfordert. Heute Abend erst habe ich erfahren, dass Daemon nicht sterblich ist. Bis vor ein paar Tagen glaubte ich, Geister seien Wesen aus Gruselgeschichten. Und von einer Schwester hat mir Daemon auch nichts erzählt. Gut, wir kennen uns auch nicht einmal eine Woche lang, was dann wohl als Grund Nummer vier zählen würde. Und mit mir stimmt auch irgendwas nicht, immerhin kann ich Gedanken lesen." Mein Lachen klingt fast schon hysterisch. Eine warme Hand legt sich auf meine. Beths Hand. Gut, dass ich die Berührungen Geister spüren kann, war mir auch nicht klar. "Ich verstehe dich." Meine Augen treffen auf Elisabeths, die nur eine Spur heller als Daemons sind, und ich glaube ihr sofort. Dankbar lächelnd sage ich:"Wirklich? Ich verstehe nämlich so ziemlich überhaupt nichts.".
"Lass es mich dir erklären, aber das, was ich dir jetzt erzähle wird dir vielleicht nicht gefallen. Womöglich bekommst du Angst oder ähnliches, aber hör mir einfach zu. Ja?" Still nicken warte ich darauf ab, was wohl als nächstes kommen wird. Erzählt sie mir gleich, dass sie sich von Katzenbabys ernährt, ihr Bruder sie extra für sie Schlachten und sein Blut mich in eine unsterbliche verwandeln wird? Angewidert verziehe ich mein Gesicht und hoffe, dass ich mich nicht übergeben werde, wenn sie ihre Erzählung abgeschlossen hat. Als ich ein zitterndes Einatmen höre, blicke ich auf in hellgraue, klare Augen.
"Gut, beginnen wir am besten ganz Vorn. Mein Name ist Elisabeth Mary Broke und ich bin am 08. Januar 1650 in Settle Church geboren. Meine Familie, bestand aus meinem Vater Martin, meiner Mutter Annabel, meinem ältesten Bruder George, er war vier Jahre älter als ich, meinem Bruder Brian, er war ein Jahr älter als ich, Daemon, der der jüngste von uns war, und mir. Wir waren eine Familie des Mittelstandes, lebten in einem kleinen Haus, in dem Daemon sich mit mir und meine älteren Brüder sich miteinander die Zimmer teilen mussten. George verliebte sich mit siebzehn in eine fünfzehnjährige Nachbarstochter und verlobte sich schon früh mit ihr, um uns dann, zweit Tage nach ihrem sechszehnten Geburtstag, ein weiteres Familienmitglied mitzubringen. Ich war damals dreizehn und Daemon erst zehn Jahre alt. Anfangs glaubten wir, dass wir das Mädchen, die Ehefrau meines Bruders, schon mit durch füttern können bis sie abreisen. Wir hofften auf eine hohe Mitgift, jedenfalls taten das meine Eltern. Doch die Mitgift war dürftig und bald hatten wir immer weniger Geld. George wollte uns helfen, verspielte bei diesem Versuch allerdings all seine Ersparnisse, und konnte nicht mit seiner Frau gehen. Außerdem lebte zu diesem Zeitpunkt Brian bei Daemon und mir im Zimmer, weil George das Recht auf ein eigenes Zimmer mit seiner Frau hatte. Und als wäre das Übel, welches über unserem Haus lag nicht schon groß genug, erwartete Georges Frau ein Kind. Als der kleine geboren wurde war ich fünfzehn Jahre alt. Wir lebten nah an der Armutsgrenze, mir passten kaum noch meine wenigen Kleider, weil ich so stark abgenommen hatte, und meine drei Brüder schufteten jeden Tag hart an der Seite meines Vaters. Ich weiß noch, dass meine Mutter wenige Wochen vor meinem sechszehnten Geburtstag an meiner Seite saß und die stillende Frau meines Bruders beobachtete. Ihr Sohn war gerade sechs Monate alt und wirklich süß, wenn man kleine dicke Heulsusen niedlich findet.
Meine Mutter fasste mich am Arm, nicht so zärtlich wie zuvor immer, und sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nie vergessen werde. Sie fürchtete sich. Dann sagte sie mir, dass wir das nicht alle überleben werden, wenn es so weiter geht. Dass sie mich liebt, aber keine Wahl hat. Ich verstand kaum was sie da meinte. Aber was tun Bauern in der Not mit ihrer besten Zuchtstute? Sie verkaufen sie. Und ich war die einzige Zuchtstute meiner Familie. Also fingen Mutter und Vater, auch wenn sie sich sträubten, damit an, mir einen Ehemann zu suchen, der möglichst viel Geld hat und keine Mitgift verlangt. Ich wurde von Ball zu Ball gejagt, immer in diesem Kleid. All meine anderen musste ich verkaufen, um es mir überhaupt leisten zu können. Jeder aß etwas weniger, damit ich mehr hatte und man mir die Armut nicht ansah. Das mollige Baby meines Bruders war schon bald nahezu dünn. Heute habe ich noch ein schlechtes Gewissen deswegen. Seine Mutter hat mich gehasst, weil sie ihr Kind liebte. Doch George verzichtete auf fast alles, gab dem kleinen mehr. Es ging dem Kind immer besser, noch vor seinem ersten Geburtstag war es wieder molliger und grinste viel. Doch George half es nicht. Er wurde krank, sehr krank, und blieb fast nur im Bett. Jetzt mussten wir erst recht handeln, denn er war ein wichtiger Ernährer unseres Hauses. Anfangs weigerte ich mich zu essen, ich wollte, dass er mehr hat. Doch bald besann ich mich eines besseren und akzeptierte, dass ich die einzige Hoffnung war für meine Familie. Meine Heirat würde uns alle retten. Und so fuhr ich nach London, vom letzten Geld meines Vaters. Daemon war damals dreizehn und so unfassbar unschuldig, dass ich ihn gar nicht zurück lassen wollte. Mutter weinte bei meinem Abschied. Brian auch, doch Vater und Daemon standen nur still da, während in mir die Welt zusammen brach. Ich hoffte auf so vieles. Auf Glück und Geld und Liebe. Auf Gesundheit und Nahrung. Und dann starb ich beim großen Brand, und mit mir die Hoffnung auf alles. Allerdings nicht, bevor ich einen Mann gefunden hatte. Er hieß Henry, war fünfundzwanzig und versprach mich zur Frau zu nehmen, wenn er mich vorher richtig nehmen könnte. Sein Vermögen war so groß, dass er sich nicht für eine Mitgift interessieren brauchte. Zwar war er nicht der schönste Stern am Himmel, aber er versprach es, und ich willigte ein. Es tat weh und war ein riesiger Fehler. In den Momenten kurz vor meinem Tod, als die Hölle in diesen Wänden los war, wünschte ich mich in die Arme meiner Mutter zurück, ans Krankenbett meines Bruders, um ihm vorzulesen, wie er es immer für mich tat, zu Vater und Brian, um über ihre schmutzigen Witze zu lachen, oder in das Bett von Daemon und mir, um ihm von Henry und meinen Ängsten zu erzählen. Ich wusste, ich hatte sie alle enttäuscht, und am meisten mich selbst. ", erzählt sie und ich merke erst gar nicht, dass ich weine. Dieses Mädchen vor mir war gebrochen wurden. Schon so jung, mit gerade einmal sechzehn Jahren, ist ihr mehr Leid zugestoßen, als so manchem fünfzigjährigen.
"In all den Monaten danach, in denen hier gefeiert wurde und jedermann glaubte, er sei noch lebendig, suchte ich nach meinem Verlobten. Nie sah ich ihn, wahrscheinlich war er zu böse für diesen Ort. Ich bin froh, dass wir nur eine Nacht im Monat wach sind. Ich hasse diese Tage. Sooft war ich allein, niemand hörte mir zu und ich weinte in irgendeiner Ecke und betete um Gnade und Glück. 1668, als George schließlich starb, ich glaube, heute nennt man seine Krankheit Krebs, kam Daemon zu mir. Er saß auf den Steintreppen und weinte. Ich neben ihm weinte selbst, konnte ihn nicht einmal Trost spenden, weil er mich nicht wahr nehmen konnte. Ich weiß, wie schmerzlich das für ihn sein musste. Für meine ganze Familie. Erst verloren sie mich, und nicht einmal zwei Jahre später meinen ältesten Bruder. Den ganzen Abend und die halbe Nacht über, auch nachdem Daemon gegangen war, saß ich noch weinend draußen und hoffte, meinen Bruder zu sehen. Nur noch einmal, bevor sein Geist den Frieden fand. Doch er kam nicht, und letzten Endes war ich froh darüber. So konnte ich mir einreden, er hätte nun endlich Frieden gefunden, an einem besseren Ort. Von diesem Abend an betete ich nicht mehr für meine Familie, aus Sorge, das Unheil damit nur noch anzulocken. Daemon kam mich erst wieder besuchen, als er mir von seiner Freundin erzählen wollte. Es war 1671,im Spätsommer. Er erzählte von ihrem Haar und ihrer Stimme und davon, wie Mutter bei ihrem Anblick gestrahlt hatte. Das erste mal seit meinem Tod schien sie wieder glücklich zu sein. Auch erzählte er davon, dass Brian geheiratet hatte. Sein Kind war unterwegs, und er ging zusammen mit seiner Frau und dem kleinen Sohn unseres Bruders Fort. Georges Frau brachte sich laut Daemons Erzählungen um, nur zwei Monate nachdem George starb. Aus Liebe, sagte er, und ich glaubte ihm. Es war merkwürdig, dass mein Bruder nun älter als ich war. Er war verliebt und schien wirklich glücklich, während ich in einer Ruine saß und mich so sehr danach sehnte, dass er mich sehen oder hören könnte. Als er 1674 wieder kam, um mir von seiner Unsterblichkeit und dem Tod seiner Freundin zu erzählen, konnte er mich sehen - und spüren. Von da an kam er beinahe jeden Monat und wir redeten und tanzten und ich fühlte mich irgendwie lebendiger. 1677 verließ er unsere Familie, weil langsam auffiel, dass er nicht älter wurde. 1686 erfuhr er schließlich vom Tod unseres Vaters, drei Jahre später von dem unserer Mutter. Er war bei den Beerdigungen und legte immer eine Rose von mir dazu. Brian wunderte sich zwar, weshalb Daemon noch immer so jung schien, doch fragte nicht nach. Wahrscheinlich war er zu traurig, als dass es ihn wirklich interessierte. Als Brian 1705 starb, behielt Daemon seine drei Kinder, deren Kinder und den Sohn Georges mit seiner Tochter im Blick. Soweit ich weiß, lebten vor 12 Jahren noch drei Familienmitglieder, Nachfahren, von uns."
Ich muss schlucken und lege dann meine Finger um Beths zitternde Hand. "Er wird öfter kommen. So wie ich ihn einschätze, wird er so lange hier her kommen, bis du deinen Frieden gefunden hast, und noch darüber hinaus. Und du wirst ihn finden!" Elisabeth lächelt mir dankbar zu und schluckt den Kloß in ihrem Hals herunter.
Auch eine Stunde später sitze ich noch bei Elisabeth, mittlerweile sind wir aber beide besser gelaunt und trinken ein blubberndes Getränk, welches nach Sekt riecht. Ein sehr teurer Champagner, wurde mir gesagt. Ich nippe an meinem dritten Glas und höre Beth dabei zu, wie sie mit einer Freundin - Meredith - über die Leibgarde schwärmt. Ich sitze zwischen den beiden und folge neugierig dem Verlauf der Geschichte. Die junge Frau mit dem rabenschwarzen Haar und den blauen Augen erzählt gerade davon, wie sie sich mit siebzehn, also ihrer Meinung nach vor zwei Jahren, in den hübschen blonden Gardisten verliebt hatte. Anscheinend haben sie schon mehrere heimliche Küsse ausgetauscht, was seine Verlobt, ein wahrer Drachen, weniger gut zu finden scheint. Beth und Mer lachen, und ich muss mit einstimmen als ich sehe, wie der Blonde zu Mer schielt. "Vielleicht tut mir Valentins Verlobt ja leid, ein ganz kleines bisschen, aber sind wir doch alle ehrlich. Er liebt mich. Ich schwöre es. Er hat es mir schon oft gesagt. Und er meint es auch so.", beteuert Meredith gerade und Beth und ich nicken heftig. Vielleicht merkt man uns dreien den Alkohol an. Ein wenig. Aber das ist mir im Moment so egal, dass ich mein leeres Glas weg stelle, schwankend aufstehe, und Meredith und Elisabeth an den Händen zu mir ziehe.
"Caroline, was tust du denn da?! ", ruft Mer lachend aus und lässt sich wieder in den Sitz fallen. Beth stellt sich neben mich und schüttelt lächelnd den Kopf. "Ihr Lieben, wir müssen tanzen!", schwafle ich und drehe mich einmal um meine eigene Achse, was meine Freundinnen zum auflachen bringt. "Alle sehen uns an.", sagt nun auch Beth und ich ziehe die Augenbrauen in die Höhe. "Ja, selbst Valentin sieht schon zu uns." Meredith versucht ernst zu klingen, bricht aber beim Anblick meines Gesichtes in lachen aus. "Ja, er schaut schon seit einer halben Stunde her weil er sich vorstellt, wie du unter ihm in seinem Bett-" Beth holt erschrocken Luft und hält mir den Mund zu. Auch Mers Augen weiten sich, bevor wir alle drei gleichzeitig loslachen. Heute ist ein lustiger Abend, ich wünschte ich wäre immer so ausgelassen. Das muss an der Mischung aus Blut und Alkohol liegen. Hört sich zwar ekelhaft an, bewirkt aber Wunder.
"Gut, lasst uns tanzen." Mer klatscht in die Hände und folgt Beth und mir auf die Tanzfläche, wo wir auch schon los legen. Wir drehen und so lange im Kreis, bis uns schwindelig wird. Halten unsere Hände und laufen nach innen und außen, drehen uns wieder, bewegen uns vollkommen unrhythmisch zur viel zu langsamen Musik. Die Leute um uns herum runzeln entweder die Stirn oder grinsen, wie Valentin. Ich bin wirklich froh, hierher gekommen zu sein. Nun hab ich zwei neue Geisterfreunde und kann ausgelassen tanzen, trinken und albern.
Wir beenden gerade unseren vierten Tanz, als mich ein Tippen an der Schulter inne halten lässt. Beth schmunzelt und Mer sieht aus, als hätte sie einen Prinzen vor sich. Sofort weiß ich, wer da hinter mir steht. Ich drehe mich um und sehe in das schönste Gesicht dieser Welt.
"Jetzt bin ich an der Reihe. ", meint Daemon und bringt mein Herz zum springen.
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