Kapitel 9 - Sturm
»Scheint so, als würde draußen die Welt untergehen.« Kaito gesellte sich neben Yukine, der seit einigen Minuten vor dem Fenster stand und hinaus blickte.
»Ja, sieht ganz danach aus«, antwortete er leise, ohne den Blick davon abzuwenden. In der Ferne blitzte es immer wieder. Das Grollen folgte, noch leise und weit entfernt. Doch es kam immer näher.
»Hier, ich habe uns noch einen Tee gemacht«, hauchte Kaito und stupste ihn leicht mit dem Ellenbogen an. Yukine sah zu ihm, nahm die Tasse an sich und richtete sein Augenmerk wieder dem Fenster zu – oder dem Sturm dahinter. Wie froh war er, dass Kaito ihn aufgelesen hatte. Allein beim Gedanken, die Nacht bei diesem Sturm draußen verbringen zu müssen, schnürte sich Yukines Kehle zusammen.
»Danke«, entgegnete er und spürte, wie Kaito sich an ihn lehnte. Nur ganz leicht. Es war vielmehr eine Berührung ihrer Arme, als ein anlehnen. Doch das war in Ordnung.
»Nicht der Rede wert. Ob ich nun einen oder zwei mache …«
»Ich meinte nicht den Tee«, unterbrach Yukine ihn sogleich.
Über ihnen zuckte ein Blitz, erhellte die Umgebung und schien dabei den Himmel zu spalten. Immer lauter werdendes Grollen ertönte und Kaito neben ihm zuckte leicht zusammen. Nachdem der Donner verhallt war, wandte Yukine sich Kaito zu. »Dafür, dass du mich mitgenommen hast.«
Der Blick des Rothaarigen war verwundert, dann wurde er sanft und ein Lächeln trat auf sein Gesicht. »Ohne dich wäre ich …«, begann Yukine, jedoch wollten die Worte nicht über seine Lippen kommen. Er presste sie aufeinander und atmete lautstark aus.
»Du musst mir nicht danken. Sieh es als Revanche für deine Hilfe neulich.«
Seelenruhig nippte Kaito an der Tasse, er stand weiterhin zum Fenster gewandt und machte keine Anstalten, sich Yukine zuzuwenden. Auch den Blick hatte er wieder abgewandt. »Eine Hand wäscht die andere.«
»Das ist nicht gleichwertig!« Ein lautes Donnern untermalte Yukines Aussage und Kaito neben ihm zuckte merklich zusammen. Er umklammerte seine Tasse und Yukine fürchtete, dass er den jungen Mann erneut in Angst versetzt haben könnte.
Leiser, deutlich ruhiger sagte er: »Wieso hast du mich angesprochen? Du hättest mich genauso ignorieren können, wie all die anderen es getan haben.«
»Ich weiß nicht, wieso ich es getan habe. Aber für mich hat es sich richtig angefühlt.« Mit geröteten Wangen schaute er Yukine an. »Du hast etwas an dir, das es schwer macht, dich einfach zu vergessen.«
Sprachlos stand Yukine da, starrte Kaito an und wusste nicht, was er erwidern sollte. Kurzerhand stellte er seine Tasse auf dem Tisch, der nicht weit von ihnen stand, ab und trat wieder an Kaito heran. Er zögerte einen Wimpernschlag lang, dann umarmte er ihn. Vorsichtig und unsicher zog er den Mann an sich und flüsterte: »Ich stehe in deiner Schuld. Wenn du nicht gewesen wärst … Wer weiß, wo ich heute Nacht wäre.«
Er schmiegte sich an ihn, atmete seinen Duft ein und verharrte in dieser Position. Kaitos freie Hand fand ihren Weg an Yukines Rücken und begann leicht darüber zu streichen. Ein angenehmes Gefühl breitete sich erneut in ihm aus und Yukine wünschte, dass Kaito nicht aufhören würde.
»Schon gut. Bleib, solange du willst. Ich will auch nichts als Gegenleistung. Erzähl mir stattdessen das, was du angefangen hast. Ich bin neugierig.«
Noch immer standen sie da, Arm in Arm, und es fiel Yukine schwer, sich von Kaito zu lösen. Er genoss das hier, wollte diesem Mann noch etwas länger so nah sein. »Na komm, wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich«, sagte Kaito leise. Widerwillig ließ Yukine ihn los, traute sich gar nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Diese Situation war beschämend.
»In Ordnung«, antwortete Yukine.
Bestimmend und mit sanfter Gewalt schob Kaito ihn vom Fenster in Richtung der großen, einladend aussehenden Couch. Die beiden machten es sich gemütlich und Kaito rutschte – als wäre es selbstverständlich – näher heran. Er nahm eine Decke, die Yukine nicht einmal bemerkt hatte, und breitete sie über ihren Beinen aus.
Wie um Yukine zu zeigen, dass auch er Kontakt zu ihm suchte, lehnte Kaito sich wieder an ihn. Unter der Decke konnte er spüren, wie Kaitos Hand seine suchte und sie schließlich ergriff. Wie zuvor im anderen Zimmer, verschränkten sie ihre Finger miteinander. Kaitos Daumen strich sanft über seine Hand entlang und Yukine entspannte sich allmählich.
»Sag mir, von wem hast du das Armband?« Kaito regte sich wieder, zog seinen Arm heraus und betrachtete das Band um sein Gelenk.
»Wieso fragst du? Gefällt es dir?« Yukine lachte, was jedoch wie ein Schnauben klang.
»Du musst dieser Person viel bedeuten, wenn sie dir so ein wertvolles Geschenk macht«, sagte Yukine. Erneut regte Kaito sich, er drehte den Kopf etwas, sodass Yukine sehen konnte, dass er versuchte, ihn anzusehen.
»Meine Mutter hat sie mir geschenkt. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann genau es war. Es ist, als hätte ich es schon immer besessen und noch nie abgelegt.«
»Das solltest du auch nicht.« Kaito ließ seine Hand wieder unter der Decke verschwinden und schien darauf zu warten, dass Yukine weitersprach. »Es ist ein Schutztalisman, den du immer bei dir tragen solltest.«
»Wovor soll er mich denn schützen?« Seine Stimme klang leicht belustigt. »Und vor allem … wie? Es ist doch nur ein hübsches Accessoire.« Yukine lächelte leicht, dann schob er seinen Arm hinter Kaito und zog ihn noch ein klitzekleines Stückchen näher an sich. Der Rotschopf zuckte leicht zusammen und lachte dann. »Du willst doch nur das Thema wechseln, stimmtʼs?«
»Nein, das war nicht meine Absicht«, versicherte Yukine ihm. »Er sollte dich vor solchen wie mir schützen, vermute ich.« Stille trat ein, nur Kaitos und sein Atem war zu hören – neben dem Unwetter draußen.
»Hat anscheinend nicht sonderlich gut geklappt«, schnaubte Kaito und Yukine grinste schief. »Nicht, dass es schlimm wäre.«
»Ich denke, es soll dich einfach vor meinesgleichen schützen, nicht explizit vor mir.« Kaito drehte sich ein wenig, sodass er Yukine in die Augen sehen konnte. »Meinesgleichen und deinesgleichen.«
»Wie meinst du das?« Man sah ihm die Verwirrung deutlich an. Kein Wunder, immerhin sprach Yukine in Rätseln.
»Ist dir noch nie aufgefallen, dass du anders als die Menschen um dich herum bist?« Er neigte den Kopf und Yukine seufzte abermals. »Wirklich nicht? Und die anderen Geschöpfe, die man gelegentlich auf den Straßen sieht?« Kaito sah ihn an, als wäre er sich nicht sicher, ob Yukine ihn auf den Arm nehmen wollte. »Die seltsam gekleideten Gestalten mit ihren Flügeln?«, schob Yukine ein und merkte, wie Kaitos Gesichtszüge sich veränderten.
»Kannst du sie auch sehen?«, fragte er leise, worauf Yukine nickte. »Das ist keine Einbildung?« Mitleidig sah er Kaito an und schüttelte den Kopf.
»Du weißt wirklich nicht, wer oder was sie sind?«
»Niemand außer mir kann sie sehen«, presste er heraus und drückte Yukines Hand fester. »Niemand sieht sie so wie ich.«
»Weil Menschen nicht die Gabe haben, uns richtig zu sehen.«
»Uns? Du bist einer von ihnen?« Nun nahm Kaito etwas Abstand und begann Yukine genauer zu betrachten. Vor allem aber sah er hinter ihn – wahrscheinlich auf der Suche nach den besagten Flügeln.
»Bin ich, auch wenn du es im Moment nicht sehen kannst.« Er brachte Kaito dazu, ihm in die Augen zu sehen. »Und du auch. Wir sind beide Fae, keine Menschen.«
Kaito schüttelte den Kopf, erst langsam, dann immer schneller. Seine wilden, roten Haare wippten bei der Bewegung und als er aufhörte, blieben sie völlig durcheinander – genauso wie Kaitos Gesichtsausdruck.
»Ich bin hier geboren, meine Eltern sind ganz normale Menschen, genauso wie meine Schwester und ich«, widersprach er Yukine. Aber es klang so, als würde er seinen eigenen Worten nicht glauben. »Mein Vater ist Japaner und meine Mutter … Sie haben sich an der Uni kennengelernt, während mein Vater als Auslandsstudent …«
Yukine zog ihn in eine Umarmung. Kaitos Körper zitterte, während er schnell atmete. Die Informationen mussten ihn völlig durcheinander gebracht haben und Yukine war sich nicht sicher, ob er mehr erzählen sollte. Zudem war er selbst verunsichert. Konnte es wirklich sein, dass Kaito hier auf der Erde geboren wurde? Dass er ein Fae war, stand außer Frage, Yukine hatte es gesehen und er spürte es. Vor allem jetzt, denn Kaitos Äther, seine Kräfte, sie waren völlig in Aufruhr.
Statt etwas zu sagen, versuchte er, Kaito zu beruhigen. Seine Hand wanderte über den Rücken des Rothaarigen. Immer wieder auf und ab, bis das Zittern schließlich nachließ und Kaito sich etwas beruhigte.
»Du hast es schon immer geahnt, nicht wahr?« Lange Zeit schwieg Kaito, seine Hand grub sich in das Shirt, das Yukine trug.
Er glaubte nicht, eine Antwort darauf zu bekommen und sagte deshalb nichts mehr.
»Ich wollte es nie wahrhaben, glaube ich. Es gab immer Anzeichen, aber ich habe sie ignoriert und verdrängt.« Kaito drehte seinen Kopf ein wenig und lehnte die Stirn an Yukines Hals. Sein Atem strich über die freie Haut und jagte Yukine einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. »Meine roten Haare, für die ich mich immer geschämt habe, weil sie so unnatürlich sind, meine komischen Ohren …« Ein zittriger Atemzug unterbrach Kaito. »Und das seltsame Kribbeln unter meiner Haut.«
»Deine Haare sind wunderschön und mit deinen Ohren ist nichts verkehrt«, kommentierte Yukine. »Die Menschen haben einfach keine Ahnung.« Kaito in seinen Armen lachte leise auf und sagte dann: »Das sagst du doch nur, weil du selbst ungewöhnlich aussiehst.«
»Nein, nicht ungewöhnlich. Für uns Fae nicht.« Seine Hand glitt in Kaitos Haare und er begann ihn leicht zu kraulen, entlockte ihm damit ein paar wohlige Seufzer.
»Hast du auch solche Flügel?«
»Ja, habe ich. Aber meine Kräfte sind erschöpft, die letzten Tage haben ihren Tribut gezollt. Mein Äther muss sich erst regenerieren.« Es würde noch etwas dauern, doch genug zu essen und ausreichend Schlaf sollten den Prozess beschleunigen. Hier im Warmen musste er seine Kräfte nicht dafür aufwenden, sich irgendwie warmzuhalten. »Wenn du willst, zeige ich sie dir – sobald ich kann.«
»Und du kommst nicht von hier?« Anscheinend war Kaitos Neugierde geweckt. Doch Yukine war ebenfalls interessiert an der Geschichte dieses Mannes. Er wollte mehr erfahren.
»Nein, meine Heimat nennen wir Elysium und die Stadt, aus der ich komme, nennt sich Eternia.«
»Aber ich bin hier geboren, genauso wie meine Schwester.« Yukine runzelte die Stirn und dachte nach. Es machte ihn ein wenig stutzig. Handelte es sich bei Kaito um ein Kind jener Faes, die sich einst ein besseres, freieres Leben auf der Erde erhofft hatten? Wie bei Pawel und Ilona, die vor über zwanzig Jahren beschlossen hatten, hierzubleiben.
Ruckartig richtete Kaito sich auf und riss Yukine aus seinen Überlegungen. Er legte seine Hand auf Yukines Brust und starrte an diese Stelle. »Hast du … ebenfalls diesen seltsamen Kristall?« Die zweite Hand, sie hatte Yukines losgelassen, legte er auf die gleiche Stelle an seiner Brust. »Meine Mutter und Schwester, sie haben ebenfalls so ein Ding. Ich habe es einige Male gesehen. Aber nur bei den beiden.«
»Habe ich«, antwortete Yukine, nur um gleich darauf den Kragen seines Oberteils etwas tiefer zu ziehen. Er entblößte ihn, den blau schimmernden Kristall, der die Form einer Mondsichel hatte. »Jede Fae hat ihn, er ist die Quelle unserer Kräfte.« Fasziniert betrachtete Kaito die kleine Sichel, dann berührte er sie. Ein heftiger Schauer überkam Yukine; er spürte, wie sich sämtliche Härchen auf seinem Körper aufstellten und sein Äther auf die Berührung reagierte.
»Eines unserer Merkmale, die ein Mensch nicht sehen kann.«
»Wenn mein Vater keinen hat, dann ist er ein Mensch?« Yukine nickte langsam und Kaito zog seine Hand zurück. »Und was bin dann ich?«, fragte er unsicher und suchte Yukines Blick. Er wartete auf eine Antwort und presste dabei die Lippen aufeinander.
Nun wusste Yukine endlich, was an Kaito anders war. Wieso er von Anfang an ein seltsames Gefühl bei ihm hatte und warum dieser Mann so einen wertvollen Talisman trug. Zum Schutz vor anderen und sich selbst.
»Ein Halbblut.«
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