Kapitel 43 - Traumatische Liebe
Kaito fummelte an der Decke, zupfte sie immer wieder zurecht und seufzte. Mehrfach. Er dachte an die Zeit als Student zurück. Wie er, Amara und Tristan sich hier in Berlin zurechtfinden mussten – in dieser damals noch neuen Umgebung. Dazu noch an das Leben als Studierende gewöhnen, an ein Leben ohne Eltern, die einen mehr oder weniger umsorgten.
Eigentlich eine schöne Zeit. Es hätte eine schöne Zeit sein sollen. Doch für Kaito war sie es nicht. Zumindest nicht immer. Zu Beginn waren die Universität, das Lernen und die Stadt eine willkommene Veränderung. Eine Ablenkung von der gescheiterten Beziehung mit seiner Lehrerin. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er sich damals darauf eingelassen hatte.
Doch nicht sie war das Problem. Es gab ein ganz anderes.
»Wisst ihr, ich habe damals einen ziemlich gut bezahlten Job bei einem großen Tech Konzern bekommen. Hielt es für großartige Zukunftschancen.«
Er lehnte seinen Kopf an Yukines Schulter und ließ endlich die Decke in Frieden, als der Fae seine Hände umfasste. »Dort lernte ich Richard kennen, meinen Vorgesetzten und den Sohn der Chefin. Der Frau, der alles gehörte. Ein charmanter und gutaussehender Mann.«
Kaito wollte sich gar nicht daran erinnern, wie Ricky – so hatte er ihn im Privaten genannt – ausgesehen hatte. Dennoch kamen die Bilder unweigerlich zurück. Groß, mit dunklen, lockigen Haaren und graublauen Augen, die an einen bewölkten Himmel erinnerten. Leicht gebräunte Haut, dazu ein definierter Körper – und eine tiefe, klangvolle Stimme.
Ricky war der Traum vieler Frauen – und bestimmt auch Männer – gewesen. Vor allem für den damals noch jungen Studenten. Er hatte ihn von Anfang an sympathisch und attraktiv gefunden. Aber am Ende war Richard nur sein Vorgesetzter, ein Traum und unerreichbar, gar unnahbar. Zumindest zu Beginn.
Dann hatte er angefangen, mit Kaito zu flirten und ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als gut für sie beide war. Und leider hatte es dem damaligen Student wirklich geschmeichelt, so umworben zu werden.
»Ich war dumm, wirklich dumm«, setzte Kaito erneut an. »Wir fingen an, miteinander auszugehen. Heimlich, da er nach wie vor mein Vorgesetzter war. Mit der Zeit hat es jedoch keine Rolle mehr gespielt. Richard zeigte es offen und verkündete irgendwann sogar, dass wir zusammen sind. Das war ungewohnt, aber völlig in Ordnung.«
Kaito verfiel wieder ins Schweigen, überlegte sogar ganz kurz, es einfach dabei zu belassen und nichts mehr zu sagen. Aus Scham und Selbsthass. Doch holte ihn ein sanfter Kuss wieder zurück aus den Gedanken. Yukines Lippen drückten sich an seinen Kopf, dann flüsterte der Fae: »Niemand von uns kann etwas für seine Gefühle.«
Ein verbittertes Lachen erklang, das, wie Kaito feststellen musste, sein eigenes war.
»Ich weiß, ich weiß …« Sein Blick wanderte zu Naoki, der ihn abwartend musterte. Der blonde Heiler sagte nicht, aber er schenkte ihm ein kleines, süßes Lächeln. Es gab Kaito einen weiteren Ruck, um seine Geschichte fortzusetzen.
»Jedenfalls …« Er räusperte sich, löste eine seiner Hände und strich Naoki eine Haarsträhne aus der Stirn. Keiner kommentierte es, jedoch konnte er sehen, dass es den Heiler minimal verwirrt hatte. »Richard schlug später vor, dass ich zu ihm ziehen kann.«
Und Kaito hatte damals eingewilligt. Nicht sofort. Er hatte es sich lange und ausgiebig überlegt. Abgewägt, ob es sinnvoll wäre und ob er es wollte. Zu dem Zeitpunkt waren sie offiziell ein halbes Jahr zusammen.
Natürlich war es zu früh gewesen, das wusste er damals schon. Aber das Angebot war zu verlockend gewesen. Nicht nur, weil es näher an der Uni war und Richard ihm versichert hatte, dass er keine Miete zahlen müsste. Auch, weil er seinen Geliebten immer bei sich haben konnte.
Kaito war hoffnungslos in ihn verliebt gewesen. Ricky war perfekt gewesen, zu perfekt, zu nett, zu charmant und zu gutaussehend. Vielleicht hätte es ihn skeptisch machen sollen. Alles. Dieser ganze Mann, das ganze Angebot.
»Und dann bist du mit ihm zusammengezogen?«, fragte Naoki leise. Da bemerkte Kaito, dass er die ganze Zeit nur gedacht, aber nicht gesprochen hatte. Deshalb nickte er.
»Etwa zwei Monate später. Nachdem ich einen Nachmieter für mein Zimmer gefunden habe. Die erste Zeit war wirklich schön.« Er lächelte traurig. »Jedoch änderte es sich nach und nach. Schleichend, sodass ich es zuerst gar nicht mitbekommen habe.«
Er schlug die Decke zur Seite und sprang auf. »Ich gehe mir etwas anziehen. Es ist seltsam, darüber zu reden, während ich nichts außer … Unterwäsche am Leib trage«, sagte Kaito und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer.
Während er eine schlichte, etwas verblichene und somit nicht mehr ganz schwarze Jogginghose überzog, dachte er doch tatsächlich an die schönen Momente mit Ricky. Verglich sie mit denen, die er mit Yukine erlebt hatte. Die beiden waren einfach so unterschiedlich.
Und dennoch. Es hatte wirklich schöne Augenblicke gegeben, jedoch wurden sie von allem, was gefolgt war, überschattet. Wie sollte er Yukine davon erzählen? Eigentlich hatte er doch ganz andere Nachrichten für ihn. Erfreuliche, weil Pawel doch tatsächlich geantwortet hatte und um ein Treffen bat!
Mit dem Shirt in der Hand ließ er sich bäuchlings aufs Bett fallen und brummte missmutig in die Bettdecke. Yukine hatte sie doch tatsächlich wieder gewechselt, denn sie roch frisch gewaschen. Fluch und Segen. Dabei hätte er nichts dagegen, wenn sein Geruch jetzt in diesem Moment daran haften würde.
Erschöpft blieb er liegen. Nur ein paar Minuten, dachte er. Nicht viel mehr. Währenddessen schweifte er wieder zurück in die Vergangenheit ab. Obwohl es so lange her war, hatte er in dem Moment das Gefühl, dass die Narbe an seiner Schulter erneut zu brennen begann. Ein Schmerz, der sich in seine Seele gebrannt hatte. Zugefügt von dem Mann, dem er einst sein Herz geschenkt hatte.
»Alles in Ordnung?« Kaito brummte nur, blieb liegen und schaute nicht auf. Er konnte hören, wie Yukine den Raum betrat, an den Kleiderschrank ging und sich etwas überzog. Kleidung raschelte, dann waren Schritte zu hören, die auf ihn zukamen. Bevor Kaito sich versah, saß Yukine auf ihm.
Die warmen Hände seines Partners legten sich auf seine Schulterblätter und verweilten einen Augenblick dort. »Wenn du dich vernünftig hinlegst, massiere ich dich.« Kaito drehte den Kopf soweit wie er konnte zur Seite und versuchte, einen Blick auf den Fae zu erhaschen. Schließlich blieb er so liegen. Arme von sich gestreckt und die Beine halb auf dem Boden.
»Kannst du dir vorstellen, dass der Mann, mit dem du zusammengelebt hast, den du geliebt und vertraut hast, die Hand dir gegenüber erhebt?« Er fixierte einen nicht existenten Punkt auf der weißen Wand ihm gegenüber. »Beim ersten Mal dachte ich, dass es ein Ausrutscher war. Ich habe ihm verziehen, weil es so wirkte, als wäre es ernstgemeint.«
Obwohl Kaito sich nach wie vor nicht gerührt hatte, begann Yukine ihn sanft zu massieren. Seine verspannten Schultern, den Nacken und Rücken. Jede Stelle bekam ihre Aufmerksamkeit.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Auch kann ich es nicht nachvollziehen«, antwortete Yukine ihm. »Egal, wie heftig Naoki und ich uns in der Vergangenheit gestritten haben, der Gedanke, ihm wehzutun war nie gekommen.«
»Wenn wir uns gestritten haben …«, hörte er Naokis Stimme. Er blinzelte und entdeckte den blonden Heiler in der Tür. »Und das kam in all den Jahren durchaus mal vor …« Naoki kam auf ihn zu und setzte sich an den Bettrand. »Dann ist Yukine meistens gegangen. Aber er kam immer wieder zurück, um sich wieder zu versöhnen.«
Die weiche Hand des Heilers berührte ihn. Ein wohlig angenehmes Gefühl durchflutete Kaito, weshalb er unwillkürlich lächeln musste. »Wir konnten einfach nie lange aufeinander böse sein.«
»Das klingt schön«, seufzte Kaito leise. »Richard und ich haben oft gestritten. Manchmal wegen ganz belanglosen Dingen.«
Er scheuchte Yukine von sich und rutschte gänzlich aufs Bett, sodass seine Beine nicht mehr halb in der Luft hingen. Gleichzeitig hörte er, wie Yukine aufstand. Etwas enttäuscht darüber, dass sein Freund nicht zu ihm gekommen war, drückte er das Gesicht ins Kissen. Der weiche Stoff roch blumig und frisch. Wenn Kaito müde genug wäre, wäre er am liebsten direkt eingeschlafen.
Doch das tat er nicht. »Er war damals dafür verantwortlich, dass ich den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen habe.« Richard hatte ihn manipuliert, von sich abhängig gemacht, sodass Kaito Familie und Freunde völlig vernachlässigt hatte. So sehr, dass er am Ende allein war und nur noch ihn hatte. »Wegen ihm hätte ich damals fast die Uni geschmissen, meinen Traum aufgegeben …«
Kaito hörte, wie Yukine an eine der Nachttischschubladen ging und etwas herausholte. Weil ihm die Kraft fehlte, sah er nicht einmal auf. Doch wenig später spürte er, wie sich die Matratze senkte, weil der Fae sich darauf gesetzt hatte.
Seine angenehme Hand berührte ihn am Kopf, strich durch seine zerzausten Haare und blieb dort. Die Finger bewegten sich langsam und stetig über seine Kopfhaut, während sie ihm ein angenehmes und tröstliches Gefühl bereiteten.
»Du musst nicht alles erzählen, wenn du nicht willst«, sprach Yukine schließlich aus. »Zwing dich nicht dazu, wenn es dir schwer fällt.«
»Schon gut«, grummelte Kaito, bevor er sich auf den Rücken drehte und aufsetzte. »Er hat mich vor allem und jedem isoliert. Meine Kontakte im Handy blockiert und gelöscht, es mir sogar weggenommen.«
Kaitos Blick wanderte zu Yukines Händen, die der Fae in seinem Schoß ruhen ließ. Dazwischen hielt er etwas, was der Game-Designer als Massageöl identifizierte. Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe, aber er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen.
»Wenn ich das Haus verlassen habe, hat er mich immer gefragt, wohin ich gehe oder wo ich war. Mit wem, wo genau und wie lange. Oft stritten wir deswegen, wodurch ich irgendwann sogar den Kontakt zu Amara und Tristan abgebrochen habe. Die beiden letzten, die zu dem Zeitpunkt noch Freunde waren.«
Er setzte sich im Schneidersitz und senkte den Kopf. »Da ich niemanden mehr hatte, war er nur noch mehr zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens geworden. Ich ging nicht mehr zur Uni, war nicht mehr dazu imstande. Zum einen, weil er es mir gewissermaßen verboten hatte, zum anderen, weil ich dort Amara und Tristan begegnet wäre.«
Und die hätten Kaito definitiv zurechtgewiesen. Sie hätten ihm eingeredet, dass Richard kein guter Umgang für ihn war. Das hatten die beiden davor schon mehrfach getan. Nur war er so verblendet gewesen, dass er es sich nicht eingestehen konnte und wollte. Ständig hatte er die Schuld bei sich gesucht, für Rickys Wutausbrüche, die Eifersucht und alles andere.
»Hätte ich das mal getan. Hilfe bei ihnen gesucht.« Er hob die Arme, hielt die Hände vors Gesicht und drückte sie schließlich dagegen. Es kamen keine Tränen. Sein Herz schmerzte nach wie vor. Doch die Tränen waren versiegt. Geweint hatte Kaito in der Vergangenheit zu oft. Jetzt war nicht der Zeitpunkt dafür.
»Ich war viel allein zuhause. Den Job habe ich gekündigt, da er mich dazu gedrängt hat. Zudem war das Finanzielle ohnehin seine Angelegenheit. Er war derjenige, der für mich gesorgt hat«, flüsterte Kaito, dann rieb er mit den Handflächen über sein Gesicht. Immer und immer wieder. Als könnte er damit all die Gefühle wegwischen.
Da merkte er, wie Yukine an ihn heran rutschte und die Arme um ihn legte. »Ich musste daheim auch nichts machen. Klar, aus Langeweile …« Er ging nicht weiter darauf ein, da es ihm unwichtig erschien, extra zu erwähnen, dass er den Haushalt gemacht hatte, um nicht vor Langeweile zu sterben.
»Im Gegenzug für … eigentlich alles, wollte er mich. Nur mich. Meinen Körper. Seine … Befriedigung.« Kaitos Körper begann zu zittern. Er spürte, wie Ekel in ihm aufstieg. Gegen Richard, aber auch gegen sich selbst. »Anfangs war es auch nicht schlimm. Wir haben miteinander geschlafen. Oft, wie das in einer Beziehung vermutlich so war.«
Yukine umarmte ihn fester, als Kaitos Körper nur noch mehr zu beben begann, gleichzeitig spürte er, wie Naokis zarten und kleinen Hände ihn berührten. Es nahm Kaito nicht die Angst, aber es dämpfte sie ein wenig.
»Hat er dich dazu gezwungen?«, fragte Yukine. In seinem Ton lag etwas, das Kaito einfach nicht deuten konnte. »Hast du deshalb Angst vor mir gehabt?«
»Ja, hat er. Jedes Mal, wenn ich nicht wollte, zwang er mich dazu. Deshalb habe ich so reagiert. Unabsichtlich … Es war ein unbewusster Reflex meines Körpers. Deswegen hatte ich auch Angst vor deiner Reaktion, als du wütend auf mich warst.«
»Es tut mir leid, wenn ich gewusst hätte …« Kaito schüttelte direkt den Kopf. Yukine hatte es nicht wissen können. Woher auch? Zu dem Zeitpunkt hatten sie sich doch noch gar nicht richtig gekannt und nur wenige Worte miteinander gewechselt. Es wäre unfair, Yukine dafür zu verurteilen.
»Ich weiß, dass du mir nichts tun wolltest und es nicht tun wirst.«
Kaito atmete tief durch, bevor er Yukine von sich schob. Er zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn ihm nicht danach war. Sich so zu entblößen war alles andere als einfach, doch fühlte er auch, wie eine Last von seinen Schultern fiel. Und das mit jeder Offenbarung, die er machte. »Durch die Therapie geht es mir längst besser. Aber manche Narben sind geblieben.«
Nicht nur die äußeren, die niemals verschwinden würden. Auch die inneren. Es hatte Jahre gedauert, bis er überhaupt fähig war, jemanden an sich heranzulassen. Dafür dankte er seiner Therapeutin, denn sonst wäre es vermutlich nicht möglich, hier mit Yukine zu sitzen, von ihm berührt und geküsst zu werden. Ganz zu schweigen von mehr.
»Lasst uns vorerst das Thema wechseln, ich habe gute Nachrichten, die ablenken werden …« Kaitos Blick glitt zu Yukines Gesicht, er schenkte ihm ein erzwungenes Lächeln. »Und währenddessen darfst du gerne fortfahren, mit dem, was du begonnen hattest.«
In seinem Inneren begann sich das Chaos zu legen. Über die Jahre hatte er gelernt, zu verdrängen, doch heute lag es eindeutig an diesen beiden Männern, die für ihn da waren. Yukines Stärke und Naokis Ruhe. Welch ein Glück, dass er sie gefunden hatte.
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