Kapitel 39 - Fieber und Engel

Schmerzen. Jeder einzelne Muskel in Kaitos Körper schmerzte. Jede einzelne Bewegung war eine Qual für sich. Sein Mund staubtrocken. Die Lider so unglaublich schwer. Wenigstens war ihm nicht mehr so kalt, als das letzte Mal, als er wach war.

Und obwohl Kaito sich elend und überaus erbärmlich fühlte, sein Fieber noch immer da war, würde er sich nicht beklagen. Yukine war da. Er konnte seine Wärme spüren, seinen leisen, gleichmäßigen Atem. Der Fae, auf dessen Brust er noch immer lag, musste eingeschlafen sein. Sein Arm lag um Kaitos Oberkörper, als wollte er nicht zulassen, dass zu viel Platz zwischen ihnen entstand.

Kaito ließ seine Hand unter Yukines Shirt gleiten und berührte seinen Bauch. Es entlockte dem schlafenden Fae ein leises Grummeln, jedoch schlief er einfach weiter. Das war in Ordnung, denn Kaito wollte weiterhin so liegen bleiben. Den vertrauten Geruch einatmen, Yukines Herzschlag zuhören. Ein stetiger Rhythmus.

Bumm. Bumm.

Es schlug immer wieder gegen die Brust des Faes und damit unmittelbar an Kaitos Ohr. So gleichmäßig, so unglaublich beruhigend, dass er beinahe wieder eingeschlafen wäre, wenn da nicht diese Trockenheit in seiner Kehle wäre, die ihn störte. Dennoch unternahm er keinen einzigen Versuch, sich auch nur ansatzweise aufzurichten.

Yukine hatte sich um ihn gekümmert, ihn umgezogen und im Arm gehalten. Wenn sein überhitztes Gehirn es richtig in Erinnerung hatte, dann hatte Yukine ihn in den Schlaf gewogen. So etwas war er nicht gewohnt. Diese Fürsorge, diese Aufmerksamkeit – das war alles, was Kaito sich immer gewünscht hatte, wonach sein Herz sich gesehnt hatte.

Keiner seiner Partner hatte ihm in der Vergangenheit so viel Zuwendung gegeben, sich so viel um ihn gekümmert. Bei Yukine bekam er immer das Gefühl, geliebt zu werden, egal wie fragil sein Körper auch war. Selbst wenn er manchmal anstrengend sein konnte, anhänglich oder ängstlich, Yukine beklagte sich nicht. Niemals.

Er erduldete Kaitos Launen. Den müden, den hungrigen, den betrunkenen – völlig egal welchen. Ganz ohne Gewalt, ohne Zwang. Bei Yukine war er sicher. Dieser Mann war so aufmerksam, so zärtlich und in seinem Blick erkannte Kaito nichts als Zuneigung. So weit wie der Himmel.

Kaito schniefte leise. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern sammelten sich Tränen, die er nicht unterdrücken konnte. Er zog seine Hand hervor, ließ es sich jedoch nicht entgehen, die Finger über Yukines Bauchmuskeln gleiten zu lassen. Sie zuckten unter seiner Berührung, doch mehr passierte nicht. Stattdessen befreite er seine Hand von der Decke und rieb mit ihr über seine Augen.

Die Tränen quollen dabei über und flossen Kaito über die Wange, direkt auf das Shirt des schlafenden Fae. Mit einem leisen, halb unterdrückten Schluchzen öffnete Kaito die Augen. Er blinzelte, um die salzige Flüssigkeit loszuwerden, dann richtete er seinen Oberkörper mit viel Mühe auf.

Die Decke glitt hinab und gab den Blick frei auf – Gold. Pures, glänzendes Gold in Form von wallenden Locken. Direkt neben Yukine. Kaito blinzelte erneut, abermals rieb er mit dem Handrücken über seine müden Augen. Die goldene Haarpracht blieb jedoch.

Zögerlich streckte er den Arm aus, schob die Decke weiter hinab und entdeckte noch mehr Locken. Lang, sehr lang. Sie ergossen sich förmlich über das Sofa und verdeckten das Gesicht der fremden Person, die so nah an Yukine gekuschelt lag.

Das konnte nur ein Traum sein, ein Fiebertraum. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht auch Einbildung. Da war Kaito sich ganz sicher. Vielleicht auch nicht.

Vorsichtig, darauf bedacht, den- oder diejenige nicht zu wecken, strich er die Haare zur Seite. Sie waren unglaublich weich. Glitten ihm beinahe durch die Finger. Es waren so viele. Dennoch schaffte er es, einen Blick auf das Gesicht zu bekommen.

Karamell. Das erste, was ihm dabei in den Sinn kam, war Karamell. So würde er die Hautfarbe beschreiben. Mit vielen, unheimlich schönen Sommersprossen und langen, blonden Wimpern. Mann? Frau? Kaito hatte keine Ahnung. Aber wunderschön. Zart, mit vollen Lippen und weichen Wangen.

»Yuki«, sagte er, ließ die Haarpracht los und rüttelte an seinem Freund. »Sag mir, dass ich träume oder so.« Seine Stimme war leise, jedoch schien Yukine ihn gehört zu haben.
»Wieso?«
»Ich glaube, ich habe einen Engel gesehen«, gestand er, ohne den Blick von dem schönen Gesicht abzuwenden. »Sag mir, dass ich nicht verrückt bin.«

Yukine bewegte seinen Arm, legte seine große Hand auf Kaitos Kopf und drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder zurück auf seine Brust.
»Schlaf weiter, es gibt keine Engel …«, murrte Yukine. Seine Finger begannen daraufhin, sanft über Kaitos Kopf zu streicheln. Er konnte an Yukines Stimme hören, dass der Fae nicht einmal wirklich wach war.

»Aber ich habe Durst«, murmelte Kaito, obwohl er die Aufmerksamkeit wirklich genoss. Er konnte die Augen nicht einfach schließen und schlafen. Daran war diese Schönheit schuld. Die, die sich kurz darauf auch noch regte, den Kopf hob und näher heranrückte.

Jetzt konnte Kaito ihn oder sie viel besser betrachten. Und je mehr er es tat, desto mehr erinnerte ihn der »Engel« an jemanden. Nur wollte sein Gehirn sich nicht erinnern. Die lockigen Haare waren gänzlich aus seinem Gesicht gerutscht, hatten sogar einen Blick auf eines seiner Ohren freigegeben. Spitz, genauso wie Yukines. Kein Engel, es war ein Fae.

Wie der Fae hergekommen war und wieso er neben ihnen lag, konnte Kaito sich nicht erklären. Diese Situation war äußerst seltsam. »Yuki …«
Er bekam keine Antwort, stattdessen öffnete der Fremde, sein Gegenüber, die Augen.

Kaito blickte direkt hinein und es verschlug ihm den Atem. Gelber Bernstein. Braune Tupfer. So tief, so unergründlich und vor allem sanft. Und als hätte es einen Schalter in seinem Kopf umgelegt, kam ihm direkt ein Name in den Sinn: Naoki. Der Fae, der Yukine alles bedeutete, jedoch gestorben war.

Zwar hatte Kaito ihn nur auf diesem einen Bild gesehen, doch die Ähnlichkeit war einfach da. Unverkennbar. Schwer zu sagen, ob Mann oder Frau. Genauso wie auf dem Foto, das Yukine als Andenken behalten hatte.

Sie starrten sich an. Ganz wortlos. Keiner wollte das Wort ergreifen. Kaito war sich ohnehin nicht sicher, ob das hier real war. Naoki konnte nicht hier sein, denn sonst würde es bedeuten, dass Yukine ihn angelogen hatte. Und daran glaubte er nicht. Hierfür musste es eine Erklärung geben. Eine ganz logische.

Er presste die Lippen aufeinander und Naoki lächelte versöhnlich.
»Du kannst mich sehen. Wie ungewöhnlich«, sagte der blonde Fae. Seine Stimme war lieblich, ganz süß und melodisch. Sie umschmeichelte Kaitos Ohren und hinterließ ein wohlig warmes Gefühl in ihm zurück. Wie ein lauwarmer Frühling.

Also doch ein Engel, dachte er.
»Du bist …« Der Fae lächelte erneut, was seine Augen zum Glänzen brachte.
»Nur ein Wesen zwischen Leben und Tod, das an Yukine gebunden ist.« Kaito leckte sich über seine trockenen Lippen.
»Naoki«, beendete er seinen Satz von zuvor. »Yukis Gefährte.«

Das Lächeln wich nicht aus Naokis Gesicht. Er bestätigte Kaitos Aussage nicht, revidierte sie jedoch auch nicht. »Ich dachte du bist …«
»Gestorben? Bin ich auch.« Abermals fuhr Kaito mit seiner Zunge über seine Lippen, während er überlegte, was er sagen sollte. Wieso konnte er Naoki berühren, wenn er doch gar nicht hier war – nicht körperlich zumindest.

Der kleine Fae setzte sich auf. »Du siehst aus, als hättest du Durst.« Als Kaito geistesabwesend nickte, stand Naoki auf und nahm die Wasserflasche vom Tisch, nur um sie Kaito zu reichen. Er selbst hatte sich erhoben, ohne die Augen von Naoki zu lassen. Zögerlich ergriff er das ihm gereichte Getränk und erst dann nahm er den Blick von Naoki. Müde wie er war, hinterfragte er es nicht einmal.

Ein paar hastige Schlucke folgten, bis seine Kehle endlich aufhörte zu kratzen. Mit der Zunge befeuchtete er seine Lippen und trank erneut. Erst als er die Flasche absetzte, bemerkte er, wie Naoki ihn musterte. So neugierig, so unfassbar interessiert. Da bemerkte er, dass sein Oberteil geöffnet war. Schnell griff er danach und zog es zusammen. Es war ihm unangenehm, so betrachtet zu werden.

»Entschuldige«, sagte Naoki und strich sich verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Ich habe mich nur gefragt, woher die vielen Narben kommen.« Kaito hielt sein Oberteil nur noch fester, um sich zu bedecken. »Ist wohl so eine Berufskrankheit.«

Kaito stellte die Wasserflasche neben sich, da wo etwas Platz zwischen ihm und Yukine war, dann begann er, die Knöpfe seines Pyjamas zu schließen. Am letzten angekommen, bemerkte er zum ersten Mal die Kette an seinem Hals. Er tastete nach ihr, umfasste sie.

Eine angenehme, wohlige Wärme war zu spüren. Ein dumpfes, kaum spürbares Pochen. Wie das eines Herzens, nur deutlich schwächer. Ein seltsames Gefühl durchflutete ihn, dann ließ er den Anhänger los.

»Kann Yuki dich ebenfalls sehen? Und wieso ich?«, fragte Kaito leise, worauf Naoki wieder zu ihm schaute.
»Kann er. Schon eine Weile. Seit dieser einen Nacht, in der er von mir geträumt hat, um genauer zu sein.«

Kaito spürte einen Stich in seiner Brust, weil Yukine ihm nichts gesagt hatte. Weil er es ihm nicht anvertraut hatte. Er fühlte sich ausgeschlossen. Vielleicht vertraute Yukine ihm nicht. Was war sonst der Grund? Kaito konnte darauf keine Antwort finden. »Mach dir nicht so viele Sorgen. Yukine dachte, dass es Wahnvorstellungen sind. Er wollte dich damit nicht belasten.«

Naoki zog die Decke über seine angewinkelten Beine und bettete darauf den Kopf. »Mach ihm bitte keine Vorwürfe. Es ist nichts, was man einfach so erklären kann. Vor allem, weil du mich nicht sehen konntest.«

»Und warum bist du hier?« Das Naoki ihm seine vorherige Frage nicht beantwortet hatte, bedeutete wahrscheinlich, dass der Fae selbst nicht wusste, wieso Kaito ihn sehen konnte. »Um Yuki mitzunehmen?«

Sein Gegenüber hob den Kopf und schüttelte ihn so gleich. Er schüttelte ihn so heftig, dass seine Locken wie kleine, goldene Sprungfedern hin und her sprangen.
»Nein, natürlich nicht!«, entfuhr es ihm. »Das würde ich niemals tun!« Mit einer hastigen Bewegung beugte der blonde Fae sich vor. »Aber …«

Kaito sah ihn misstrauisch, aber auch neugierig an. Dieser Mann war schön, so unglaublich schön. Es war kein Wunder, dass Yukine ihn zu seinem Partner gewählt hatte. Sie passten einfach perfekt zusammen. »Durch unseren Schwur bin ich an ihn gebunden. Mein Körper mag nicht mehr existieren, aber meine Seele wird keinen Frieden finden. Es ist wie ein Fluch, der mich hier hält.«

Mitleid wallte in Kaito auf, wo zuvor noch der Schmerz gepocht hatte. Naokis Stimme wurde mit jedem Wort ein bisschen leiser, bis er ganz verstummt war. Fast schon zusammengekauert saß er da, die Arme um seine fast schon durchsichtigen Beine geschlungen. »Es tut mir leid. Selbst wenn ich wollte, kann ich nicht gehen. Aber ich kann versuchen, mich fernzuhalten, wenn …«

»Nein, das musst du nicht. Gib mir nur etwas Zeit, das hier zu verdauen. Man trifft nicht jeden Tag auf einen Geist oder so etwas«, beschwichtigte Kaito ihn. Seine Worte schienen Naoki zu verwundern, denn er blinzelte verwirrt.
»Du hast nichts dagegen?«
»Es ist schon etwas seltsam und befremdlich«, gab Kaito zu und schloss die Augen.

Doch wenn er ehrlich war, dann hatte er schon bei seinen Eltern die Anwesenheit von jemandem – oder etwas – gespürt. Er ging kurz in sich, rief das Gefühl auf, das er damals verspürt hatte. Direkt neben Yukine, auf seinem Bett, im Schlafzimmer seiner Kindheit. Da war es auch gewesen. Warm, lieblich. Genauso wie Naoki, der ihm gegenüber saß. »Ich glaube, ich habe schon zuvor bemerkt, dass du da bist.«

Seine Lider flatterten, dann richtete er seine Augen auf Naoki. »Eine ganze Weile, um ehrlich zu sein. Nicht bewusst, da ich es nicht zuordnen konnte. Aber du warst die ganze Zeit hier.« Der kleine Heiler lächelte traurig. In dem Moment sah er so unfassbar traurig aus, dass Kaito beinahe seine Hand nach ihm ausgestreckt hätte. Nur im letzten Moment hielt er sich davon ab.

Stattdessen legte er sich wieder hin. Das Fieber war noch immer nicht gesunken und durch das Sitzen spürte er schon wieder, wie ihm alles schmerzte. Yukine legte seinen Arm, kaum dass Kaito neben ihm lag, um seinen Körper und zog ihn an sich. Naoki blieb zusammengekauert auf dem Sofa sitzen.

Seufzend zog Kaito die Decke zur Seite und klopfte auf den Platz neben Yukine. Er hatte keine Ahnung, wieso er es tat. Das dort war Naoki, Yukines Gefährte, die Liebe seines Lebens – und er ließ zu, dass der kleine Fae sich willkommen fühlte. Da war keine Eifersucht in ihm, keine Wut oder Hass. Ganz im Gegenteil, er akzeptierte es auf irgendeine verrückte Art.

Denn aus irgendeinem Grund hatte er ihn bereits jetzt ins Herz geschlossen. Als würde Naoki dazugehören.
»Na komm, hier ist noch Platz.«
»Danke«, nuschelte der blonde Fae, dann legte er sich wieder dazu. Ganz eng an Yukine, um nicht herunterzufallen.

Ihre Blicke begegneten sich und Kaito lächelte einfach. Vielleicht lag es am Fieber, dass er so umsichtig war, wer wusste das schon. Genauso wenig konnte er erklären, wieso er seinen Arm so legte, dass er auch Naoki umarmte. Eine ganz seltsame Situation. Durch und durch. Aber er war gerade zufrieden.

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