Kapitel 31 - Das Kind von damals

Yukine zögerte, während Kaito die Küche längst betreten hatte und auf die Frau zuging, die mit dem Rücken zur Tür stand. Langes, rubinrotes Haar hing ihr über den Rücken. Sie hatte es zusammengeflochten, sodass es sie beim Kochen nicht stören konnte. Als Kaito sich hinter sie stellte und sie umarmte, konnte Yukine erkennen, dass die beiden fast gleich groß waren.

»Kaito!«, sagte sie erschrocken. Wahrscheinlich hatte sie nicht mitbekommen, dass es ihr Sohn war, der in den Raum getreten war. Wenn sie es überhaupt mitbekommen haben sollte. »Schleich dich nicht so an!«
»Es war zu verlockend«, entgegnete Kaito und ließ sie wieder los.

Aus der Umarmung von Kaito befreit, drehte die Frau sich um. Nun konnte Yukine einen kurzen Blick auf sie werfen, ehe Kaito sie erneut verdeckte. Es reichte nicht aus, um sich ein Bild von seiner Mutter zu machen.
»Ich habe nicht mitbekommen, dass es an der Tür geklingelt hat«, erklärte sie und umarmte Kaito zur Begrüßung.

Yukine fühlte sich nach wie vor fehl am Platz. Schon zuvor, als Kaito ihn seiner Schwester vorgestellt hatte. Er wusste überhaupt nichts über die Familie seines Partners, nicht einmal die Namen seiner Eltern. Schuld war er selbst, immerhin hatte er nie gefragt und das Thema nie als wichtig erachtet.

Familie. So etwas spielte auf Elysium eine so geringe Rolle, dass er nicht weiter darüber nachgedacht hatte. Zwar besaß auch er eine Mutter und einen Vater, doch war ihre Verbindung nie so tief. Yukine respektierte die beiden und er würde sogar behaupten, dass sie ihm – im Gegensatz zu vielen anderen Fae – ziemlich wichtig waren. Elterliche Liebe hatte er jedoch nie erfahren, nicht in diesem Umfang.

Ob er Kaito und die Menschen beneidete? Gewiss. Manchmal tat er es. Dass sie so innige und liebevolle Beziehungen zu anderen pflegten, hatte ihn immer fasziniert. Er hatte nur Naoki, das war seine Familie. Dennoch war der Wunsch immer da gewesen, seinen Eltern und Geschwistern näher zu sein. In ihrer Welt kaum vorstellbar, selbst heute.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen«, hörte er Kaito sagen. Was die beiden zuvor gesagt hatten, hatte Yukine gar nicht mitbekommen.
»Hast du endlich eine Frau mitgebracht?« Kaito lachte und Yukine konnte heraushören, dass es ein nervöses Lachen war.
»So in etwa …«, sagte Kaito und trat zur Seite. »Komm rein, niemand beißt dich.«

Yukine tat genau das, er betrat den Raum und sein Blick wanderte direkt zu ihr. Sie sah aus wie Kaito, nein, er sah aus wie sie. Das Haar, die Augen, die Gesichtszüge. Die beiden hatten so viele Ähnlichkeiten. Das einzige, was sie wirklich unterschied, war die Form ihrer Augen.

Während man bei Kaito und Amaya die japanischen Gene deutlich erkennen konnte, fehlten sie bei ihr gänzlich. Dennoch war sie wunderschön. Schlank, groß und mit weichen, ganz sanften Zügen. Ihr Alter sah man ihr nicht an, natürlich. Sie war eine Fae, das erkannte Yukine auf den ersten Blick, selbst wenn sie ihre Ohren durch einen Zauber versteckte. Neben Kaito sah sie aus, als wäre sie seine Schwester, nicht Amaya.

»Das ist Yukine. Er ist … Nun, er ist mein Freund.« Kaito trat auf Yukine zu, ein breites Grinsen auf den Lippen. »Und sie ist meine Mutter – Freya.« Die beiden Fae sahen sich schweigend an, musterten einander genau.

Sie kam ihm so bekannt vor. Nicht, weil Kaito große Ähnlichkeiten mit ihr hatte. Das Gesicht, er hatte es schon einmal gesehen. Nur wo? Yukine konnte sich nicht erinnern. Es musste lange her sein, viel zu lange. Vielleicht war es Einbildung? Nein, Freya sah ihn an, als würde auch sie ihn erkennen.

»Dein Freund?« Freya hob eine Augenbraue. Wenn es ihr missfiel, dass Kaito mit einem Mann zusammen war, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Allgemein konnte Yukine sie nicht lesen. Ihr Gesichtsausdruck verriet rein gar nichts. »Du hast gar nicht erzählt, dass du in einer Beziehung bist.« Sie richtete ihre Augen auf ihren Sohn.

»Ja, nun … Ich fand es unpassend, euch eine Nachricht zu schicken«, antwortete Kaito, worauf seine Mutter lächelte. Warmherzig, liebevoll. Doch irgendwas stimmte nicht. Ihre Aura wirkte aufgebracht, völlig durcheinander. Yukine wusste, dass Kaito es nicht spüren konnte und es deshalb nicht bemerkte.

»Deshalb habe ich ihn mitgebracht, damit ihr Yukine kennenlernen könnt – und er euch.« Kaito trat noch etwas näher an Yukine und lehnte sich an ihn. Freya ließ ihn für diesen kurzen Moment nicht aus den Augen, dann richtete sie ihren Blick auf Yukine.

»Ich bin ein wenig überrascht. Du hast uns nicht erzählt, dass du … schwul bist«, sagte sie. Kaito lachte. Er bemerkte wirklich nichts. Rein gar nichts.
»Stimmt, ich habe nie darüber geredet, dass ich auch auf Männer stehe.« Er betonte das kleine Wörtchen so, dass bei Freya ein Licht aufgegangen sein musste. Sie weitete kaum merklich die Augen.

Wieder glitt ihr Blick zu Kaito. Erneut wurde er weicher.
»Ich verstehe«, sagte sie ganz sanft. »Hauptsache ist, dass du glücklich bist.« Kaum war der Satz ausgesprochen, konnte Yukine hören, wie Kaito erleichtert aufatmete. Es musste befreiend und erleichternd gewesen sein, dieses – zugegebenermaßen kurze – Gespräch mit seiner Mutter geführt zu haben. »Der Meinung wird dein Vater auch sein.«

»Das hoffe ich«, entgegnete Kaito, bevor er sich von Yukine löste und zu ihm schaute. Auf seinen Lippen thronte ein breites und glückliches Lächeln. Am liebsten hätte Yukine ihn umarmt und ihm gesagt, dass seine Sorge unberechtigt war. Schließlich war dies seine Mutter, wieso sollte sie ihn nicht so akzeptieren, wie er war?

Die Menschen legten zu viel Wert auf Geschlechter und Rollen. Liebten ihre Normen und verurteilten alles, was nicht hinein passte. Aber Freya war kein Mensch und das bedeutete, dass sie ohne diese Vorurteile und Gedanken aufgewachsen war. Zumindest in der Theorie.

»Kaitoooo?« Aus dem Wohnzimmer erklang die Stimme von Amaya. »Kannst du mir eben zur Hand gehen? Ich brauche Hilfe!« Etwas unschlüssig stand Kaito da, während er zur Tür sah.
»Na los, geh schon«, sagte Yukine, als sein Freund sich kein Stück rührte. »Ich warte hier.«

»Ich komme sofort!«, entgegnete Kaito schließlich. Er gab Yukine einen flüchtigen Kuss auf die Wange und eilte hinaus. Die beiden Fae blieben allein in der Küche und starrten sich stumm an. Freya lag etwas auf der Zunge, das konnte Yukine sehen. Sie schien zu überlegen, ob oder was sie sagen sollte – vielleicht wartete sie auch nur darauf, dass Kaito außer Hörweite war.

»Wollen Sie sich noch lange so tarnen, General Yukine Miyamoto?« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Mich können Sie nicht täuschen, mit diesem menschlichen Aussehen. Ich würde Sie überall wiedererkennen.«

So wie er es bereits geahnt hatte – Freya kannte ihn. Ungewöhnlich war es nicht. Wahrscheinlich kannte ihn jede Fae, die auch nur einen Funken Ahnung von der elysischen Politik hatte. Die allermeisten hatten seinen Namen bereits gehört, konnten ihn sogar mit etwas verbinden.

Das nächste Ratsmitglied.
Takashi Miyamotos Nachkomme.
Der Fae, der die Welt verändern wollte.
General der Zweiten Division von Eternia.
Der Begabte – so ironisch.

Yukine atmete tief ein und wieder aus. Er ließ den Schleier, der sein wahres Aussehen verbarg, fallen und offenbarte sich. Zeigte Freya, dass sie recht hatte. »Warum sind Sie hier?« In ihrer Stimme schwang so viel Verachtung, dass Yukine sich wunderte, dass sie zuvor so ruhig hatte bleiben können.

»Wie Kaito gesagt hat, wir sind zusammen.«
»Schwachsinn!«, zischte sie. »Ich weiß ganz genau, dass Sie längst einen Partner haben. Sie sind kein Unbekannter, General.« Er seufzte und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ich frage noch einmal: Was wollen Sie hier? Meinen Sohn und mich beseitigen, weil Sie damals nicht in der Lage dazu waren?«

Damals. Wann damals? Waren Kaito und er sich tatsächlich schon einmal begegnet? Diese grünen Augen, das rubinrote Haar. Das Gefühl, Kaito schon einmal getroffen zu haben – Yukine hatte es schon einmal gespürt, ganz zu Beginn, als sie sich kennengelernt haben. Aber wann und wo?

»Vor dreiundzwanzig Jahren, Yukine. Als wir mit Pawel und Ilona das zweite Mal auf Gaia waren«, hörte er Naokis Stimme sagen. Er wagte es nicht, sich umzusehen und den blonden Fae zu suchen. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, die Erinnerungen abzurufen. Sie waren tief vergraben.

»Eine Frau in einem weißen, wunderschönen Kleid. Lange, zu einem Zopf geflochtene rote Haare. Und neben ihr ein kleiner Junge mit derselben Haar- und Augenfarbe. Erinnerst du dich? Wir sind ihnen gefolgt.«
Es folgte eine leichte Berührung an seiner Hand. So zart, dass er meinte, es sich nur eingebildet zu haben.

»Nein, nichts dergleichen hatte ich im Sinne. Bis gerade eben wusste ich nicht einmal, wer du bist«, gestand Yukine. Dank Naoki wusste er es wieder. So greifbar, so nah. Die Bilder zogen wie ein Film an ihm vorbei. Erinnerungen an diese Zeit kamen zurück.

Damals waren er und Naoki für einen Zeitraum von vier Jahren in dieser Welt. Sein Partner hatte die Erlaubnis bekommen, hier Medizin zu studieren und sich neues Wissen – wenn auch menschliches – anzueignen. Yukine hatte lange darum gekämpft, es Naoki möglich zu machen, ihm den Wunsch zu erfüllen.

Nicht, weil es unmöglich oder verboten war – es war einfach nur verdammt schwierig, eine Genehmigung für einen so langen Zeitraum zu bekommen. Und in ihrem letzten Jahr, an diesem einen warmen, aber bewölkten Nachmittag, waren sie den beiden begegnet.

Yukine hatte es schon längst vergessen, weil es so nichtig gewesen war. Er war Freya und dem kleinen Kaito aus Neugierde gefolgt. Viel mehr hatte da nicht hinter gesteckt. Es war nur ungewöhnlich, ein Fae-Kind in der Menschenwelt zu sehen. Niemals würden die Oberen zulassen, dass sich eines von ihnen in dieser Welt aufhielt.

Umso ungewöhnlicher war dieser Junge, dessen Aura ihn im Vorbeigehen gestreift hatte, nur um seine Aufmerksamkeit zu erregen. An dieses seltsame Gefühl erinnerte er sich wieder. Jede von Kaitos Berührungen war davon erfüllt. So vertraut, so zärtlich. »Ich würde Kaito niemals etwas antun«, wisperte er schließlich.

»Lügner! Als General würdest du niemals ein Halbblut zum Partner nehmen. Erst recht nicht, weil du bereits einen hast!« In Freya loderte eine gefährliche Flamme. Da war so viel Hass und Verachtung, die Yukine nicht verstand. Richtete es sich gegen ihn? Gegen das Militär, zu dem Freye einst möglicherweise gehört hatte? Oder doch gegen die Fae allgemein, obwohl sie selbst eine war?

»Mein Partner …«
»Halt dich von meiner Familie fern, lass deine dreckigen Finger von meinem Sohn!« Sie hatte ihre Höflichkeiten beiseite geschoben und Yukine auch noch unterbrochen. Wäre das hier nicht die Mutter des Mannes, dem er sein Herz geschenkt hatte, dann wäre er vermutlich ebenfalls laut geworden. Yukines Zündschnur war schon immer recht kurz gewesen. Doch wollte er keinen Streit. Nicht mit ihr, nicht mit Kaito – mit niemandem.

Er straffte die Schultern und atmete tief ein und aus. Naoki hinter ihm gab ihm Halt, gleichzeitig war er der Grund für die Ruhe, die in Yukine herrschte. Sein Ruhepol.
»Für mich spielt es keine Rolle, ob Kaito ein Halbblut, ein Mensch oder ein Fae ist. Das war von Anfang an irrelevant. Es macht ihn weder schlechter noch besser als sonst irgendwen. Mir aber bedeutet er eine ganze Menge.«

Freya ihm gegenüber trat einen Schritt zurück und weitete die Augen. »Gerade du solltest wissen, dass es egal ist, welcher Spezies man angehört. Immerhin bist du mit einem Menschen zusammen. Gerade du solltest es nicht verurteilen.«
»Vergleich dich nicht mit mir!«, fuhr sie ihn an. »Einer wie du wird nie verstehen, wie es ist, eine Familie zu haben. Kinder, die man liebt und für die man alles aufgibt.«

»Wenn sie wüsste«, hörte Yukine Naoki flüstern. Sein ehemaliger Partner klammerte sich an Yukines Hemd und lehnte den Kopf gegen seinen Rücken. Zum Glück konnte ihn niemand sehen – schließlich war das nur seine Einbildung. Ansonsten würde das hier kein gutes Licht auf ihn werfen. »Sie hat absolut keine Ahnung.«

»In eurer kaputten Welt wird es so etwas nie geben. Du wirst niemals nachvollziehen können, wie es ist, sein eigenes Kind in den Armen zu halten und mit jemandem alt zu werden, der dir die ganze Welt bedeutet.« Freyas Worte verletzten ihn. Sie kannte Yukine nicht, wusste nicht, wie falsch sie mit ihren Behauptungen lag.

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er an seinen Verlust dachte. Nicht nur Naoki, dessen kalten, leblosen Körper er damals verzweifelt an sich gepresst hatte. Da war noch mehr. Es gab noch jemanden.
»Vor etwa einem Jahr habe ich meinen Partner Naoki verloren. Er war alles für mich. Sein Verlust ist nach wie vor unerträglich. Ich habe ihn wirklich geliebt – ich tu es noch immer.«

Yukine sah Freya direkt in die Augen. Für einen kurzen Moment glaubte er, so etwas wie Mitleid in ihren Augen zu sehen. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch schon wieder. »Und nein, ich weiß tatsächlich nicht, wie es ist, sein Kind in den Armen zu halten und es aufwachsen zu sehen. Da hast du tatsächlich recht.«

Er hörte Naokis leises Schluchzen hinter sich. Zu gerne hätte er ihn in den Arm genommen, getröstet und gesagt, dass er für ihn da war. Doch das ging nicht. Er war nicht real. Das konnte er nicht sein. »Einige Monate, bevor Naoki starb, verloren wir unsere Tochter.«

Yukine kämpfte gegen die aufkommenden Gefühle an. Diesen tosenden Sturm, den die Erinnerungen in ihm entfacht hatten. Natürlich musste er sich nicht rechtfertigen und Freya von seinem Verlust erzählen. Doch wollte er ihr zeigen, dass er fähig war, Liebe zu empfinden. Dass auch er eine Familie hatte. »Unsere Tochter – Sora – starb noch, bevor sie das Licht der Welt erblicken konnte.«

Er wandte den Blick ab und sah zum Fenster, um dort einen Punkt in der Ferne zu fixieren. »Also nein, ich weiß nicht, wie es ist, sein Kind in den Händen zu halten. Ich weiß nur, wie es ist, sein totes Kind zu halten.«

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