Kapitel 18 - Vergangenheit

Die Tage zwischen Kaitos Geburtstag und Weihnachten verliefen ruhig. Es hatte zu schneien begonnen, ganz zum Missfallen des rothaarigen Game-Designers, der bei jedem Blick aus dem Fenster nur die Nase rümpfte. Die Stadt war von einer dicken, weißen Decke überzogen und zu allem Übel fuhren viele der Bahnen nicht mehr.

Deshalb saß Kaito nun in seinem Büro und versuchte im Homeoffice irgendetwas zu tun – seinen Angestellten hatte er ebenfalls angeordnet, daheim zu bleiben. Er selbst kam nicht wirklich aus dem Haus, weil sie völlig zugeschneit waren und er auf keinen Fall in die Kälte wollte.

Yukine störte ihn nicht bei der Arbeit. Er hatte es sich auf der Couch im Büro gemütlich gemacht und las ein Buch, das er aus einem der Regale gefischt hatte. Dass Kaito sich an den Computer gesetzt hatte, um daran zu arbeiten, hatte Yukine zur Kenntnis genommen. Doch er las einfach weiter, ohne seinem »Mitbewohner« viel Beachtung zu schenken.

Das leise Tippen und Klicken blendete er völlig aus, so sehr war er in den Roman vertieft, den er hauptsächlich wegen des schönen Covers in die Hand genommen hatte. Geschichten wie diese gab es auf Elysium nicht. Zumindest hatte Yukine noch nie ein Buch in den Händen gehalten, das von Liebe und all dem Drama drumherum handelte. Er war sich sicher, dass diese Art der Lektüre seinem ehemaligen Partner gefallen hätte.

Für ihn selbst war es ein Zeitvertreib, wenn er mal wieder nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Kaito hatte ihm zwar angeboten, an diesen seltsamen Geräten, die er immer als Konsolen betitelte, Spiele zu spielen, doch Yukine kam damit überhaupt nicht zurecht. Meistens frustrierte es ihn nur, weshalb er schnell die Lust daran verlor.

Bücher dagegen gaben ihm das Gefühl, die Menschen besser verstehen zu können. Wobei er oft genug verwirrt über die Handlungen war und sie nicht nachvollziehen konnte. Eine komplizierte Spezies, wie er fand. Probleme, die die Protagonisten in Kaitos Büchern hatten, kannte er oftmals gar nicht. Sie waren fremd und neuartig – manchmal sogar belanglos.

Auf der anderen Seite jedoch wünschte er sich, schon früher so eine Lektüre gelesen zu haben. Dann hätten er und sein ehemaliger Partner gewusst, was ihre Gefühle zu bedeuten hatten und dass sie nicht seltsam waren. In einer Welt, in der Familie und Liebe keine Bedeutung hatten, fanden sich die beiden Fae immer fehl am Platz. Wie zwei Außenseiter mit seltsamen Empfindungen und einer unerklärlichen Anziehung zueinander.

Mittlerweile hatte sich ihre Welt gewandelt, woran sie beide mehr als nur beteiligt waren. Doch dafür hatten die beiden Männer viele Jahrzehnte gebraucht und viele Freunde, die hinter ihnen und ihren Idealen gestanden hatten. Jedoch konnte man es nicht mit dem Leben auf der Erde vergleichen. Viele der alten Fae waren nach wie vor gegen diese Veränderungen. Zum Glück erfolglos.

Seufzend steckte Yukine das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Er hatte bei den Gedanken an Vergangenes die Lust daran verloren. Sein Blick wanderte zu Kaito, der mit angezogenen Beinen auf seinem Stuhl saß. Den Rücken gekrümmt und die Augen auf den Bildschirm gerichtet. Wie so oft fragte Yukine sich, wie Kaito in dieser Position arbeiten konnte.

Es sah weder gemütlich noch gesund aus. Zudem hatte Yukine auch schon mitbekommen, wie versteift Kaito nach einigen Stunden vor dem Computer gewesen war und sich leise beklagte. Geändert hatte er daran jedoch nichts und Yukine wollte ihn ungern belehren, schließlich war dieser Mann erwachsen.

Er legte sein Buch an die Seite und setzte sich an die Kante des Sofas. Kaito rührte sich nicht. Dank der Kopfhörer, die er aufgesetzt hatte, konnte er Yukine nicht einmal hören. Dafür vernahm Yukine die leise Musik, die aus den Kopfhörern zu ihm drang. Kaito hatte ihm gesagt, dass er sich so besser konzentrieren konnte, gleichzeitig wollte er nicht, dass die Musik das ganze Haus beschallte.

Lächelnd beobachtete er ihn einen Moment, bevor er seinen Blick abwandte. Ziellos wanderten seine Augen durch den Raum, bis sie auf dem Regal verharrten und das Bild fixierten, das dort lag. Langsam streckte er seinen Arm in die Richtung und ergriff mit zitternder Hand den Rahmen. Es lag wie immer falsch herum an der Stelle, wo er es platziert hatte.

Seine Finger glitten über den metallischen Rahmen entlang, dann nahm er es an sich und betrachtete es. Die letzten Tage hatte er es konsequent ignoriert und versucht, nicht an Vergangenes zu denken. Doch an diesem Abend konnte Yukine es nicht. Seit seine Gedanken abgedriftet waren, konnte er sie nicht mehr verbannen.

Er vermisste ihn nach wie vor. Da war es egal, ob bereits mehr als ein Jahr vergangen war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Es könnten auch zehn Jahre vergehen – oder ein Jahrhundert – er würde ihn nie vergessen. Zu viel hatten die beiden erlebt, zu wichtig war ihm dieser Mann gewesen.

Yukine strich mit dem Daumen über das Bild des blonden Mannes und lächelte traurig. Seitdem Kaito ihn aufgenommen hatte, dachte er immer seltener zurück. An manchen Tagen war er gänzlich befreit von diesen Gedanken und der Einsamkeit, die er im letzten Jahr empfunden hatte. Das hatte er eindeutig Kaito zu verdanken, der sich einfach in seinem Herzen breit machte.

Es wäre gelogen, wenn Yukine behaupten würde, dass er nicht glücklich war. Die Leere in ihm füllte sich immer mehr. Im Moment könnte er sich kaum etwas Schöneres vorstellen, als für immer hier bei Kaito zu bleiben. Das einzige Problem dabei war, dass er den Mann auf dem Bild immer lieben würde und Kaito jemand besseren verdient hatte. Jemanden, für den es nur ihn gab.

Der Stuhl knarrte, dann stöhnte Kaito. Yukines Blick wanderte sogleich zu ihm.
»Ich glaube, ich brauche eine Pause – und einen Kaffee«, brummte Kaito und hängte die Kopfhörer an ihren Platz, bevor er seine Beine ausstreckte und sich in Yukines Richtung drehte. Als er bemerkte, dass der Fae noch immer auf der Couch saß, grinste er breit. »Du liest gar nicht mehr?«

Yukine schüttelte nur den Kopf, sagte jedoch nichts. »Alles in Ordnung?« Kaito schien zu merken, dass etwas nicht stimmte. Sein Blick fixierte das Bild in Yukines Händen, dann sah er ihm wieder ins Gesicht. Stumm blickten sie einander an, bevor Kaito sich erhob.

Beim Aufstehen verzog er das Gesicht, als seine Knochen protestierten und dabei leise knackten. Etwas steif vom langen Sitzen kam er bei Yukine an, setzte sich dicht neben ihn und lehnte anschließend den Kopf an seine Schulter. »Willst du darüber reden? Wenn ja, dann bin ich für dich da.«

Lange Zeit schwieg Yukine, während er das Bild betrachtete. Irgendwann ergriff er Kaitos Hand und verschränkte ihre Finger miteinander.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen sollte.«
»Mhhh ...«, entfloh Kaito. Das nachdenkliche Geräusch ließ Yukine zu ihm blicken. »Du kannst mir ja erzählen, wer er ist. Seinen Namen zum Beispiel.«

»Naoki«, entgegnete Yukine. Es kam ihm vor, als hätte er diesen Namen eine Ewigkeit nicht mehr gesagt. Aber es fühlte sich richtig an, Kaito von ihm zu erzählen. »Er war mein Partner, mein Gefährte.« Kaito wechselte seine Hand, damit er den Arm um Yukine legen konnte. Wie zuvor schon verschränkte er ihre Finger miteinander.
»Ihr beide ... wart ihr lange zusammen?«, fragte er leise nach. Yukine konnte spüren, wie Kaitos Finger leicht über seine Seite strichen.

»Ja, er war mein erster und einziger Partner.« Er drehte das Bild um und legte es wieder an seinen vorherigen Platz, um es nicht weiter ansehen zu müssen. Es tat auch so schon weh, das Gesicht seines Partners in seinen Erinnerungen sehen zu müssen. »Ehrlich gesagt, kann ich dir nicht einmal genau sagen, wie viele Jahre es waren.« Yukine drehte sich etwas, damit er Kaito ins Gesicht sehen konnte.

Mitgefühl spiegelte sich in den schönen grünen Augen, die ihn ruhig und abwartend betrachteten.
»Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen, zur Schule gegangen und haben gemeinsam die militärische Laufbahn eingeschlagen. Naoki war seit Anbeginn an meiner Seite«, erklärte er und driftete in die Erinnerungen ihrer Kindheit ab.

Lächelnd dachte er daran zurück, wie er und Naoki aufgewachsen waren. Es gab keine Zeit davor, keine Vergangenheit ohne den Heiler, an den er sein Herz verloren hatte. Sie hatten zusammen gehört. Das Schicksal hatte sie zusammengeführt und miteinander verbunden. Vielleicht war es deshalb so unerträglich, ihn nicht mehr bei sich zu haben. Es war, als hätte Yukine einen Teil von sich selbst verloren.

Noch vor wenigen Wochen hatte er nicht gewusst, wie sein Leben ohne Naoki weitergehen sollte. Doch die Begegnung mit Kaito hatte so vieles verändert.
»Du warst beim Militär? Ich merke gerade, dass ich überhaupt nichts über dich weiß«, holte Kaito ihn wieder in das Hier und Jetzt zurück. Yukine blinzelte, sein Blick war zuvor an einen Punkt hinter Kaito gewandert.

»Tut mir leid, ich bin es nicht gewohnt, anderen von mir zu erzählen«, entgegnete er schief grinsend. »Naoki und ich haben mit etwa zwanzig Jahren unsere Ausbildung beendet, danach sind wir zum Militär gegangen und bis vor eineinhalb Jahren habe ich die Einheit geleitet.«
»Dann warst du ... zehn oder fünfzehn Jahre dort?« Anscheinend versuchte Kaito herauszufinden, wie alt Yukine war. Auch das hatte der Fae mit keinem einzigen Wort verraten.

»Nein, schon ein paar Jährchen mehr«, entgegnete er lachend. Kaito dagegen musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Yukine wusste, dass er nicht viel älter als dreißig aussah und die Aussage den Rotschopf verwirren musste. »Jedenfalls ...«, wechselte er das Thema wieder, »ist es schwierig zu sagen, wann Naoki und ich zusammengekommen sind. Es war ein fließender Übergang zwischen unserer Freundschaft und der Partnerschaft. Offiziell habe ich ihn mit Neunzehn gefragt, ob er mein Partner sein möchte - aber wir waren uns schon vorher mehr ...«

»Kein Wunder, dass du nach wie vor an ihm hängst«, seufzte Kaito, dann lehnte er sich zurück und löste damit ihren Körperkontakt. Ganz zu Yukines missfallen. »Allein die Vorstellung, dass man zwei Jahrzehnte und mehr mit jemandem zusammen ist ...«
»Kaito, ich war nicht nur zwei Jahrzehnte mit Naoki zusammen. Ich bin älter, als du denkst.« Er tat es seinem Mitbewohner gleich, machte es sich neben ihm gemütlich und legte einen Arm um seinen Bauch. Den Kopf stützte er in die Hand, um Kaito besser betrachten zu können.

»Definiere ›älter‹«, sagte der Game-Designer. »Es frustriert ein wenig, dass du mir nichts über dich sagst.«
»Du hast nie gefragt.« Yukines Mundwinkel zuckten in die Höhe, als sich auf Kaitos Stirn eine tiefe Furche bildete. »Schön, ich bin hundertzweiundachtzig Jahre alt. Mein voller Name ist Yukine Miyamoto und ich bin das älteste von drei Kindern. Ich habe eine Schwester – die Menschen würden uns als Zwillinge bezeichnen – und einen fast hundert Jahre jüngeren Bruder. Geboren und aufgewachsen bin ich in Eternia, der Hauptstadt von Elysium.«

Kaitos einzige Reaktion war ein Blinzeln. Ihm stand der Mund ein Stückchen offen - anscheinend hatte Yukines kleine Zusammenfassung ihn ein wenig überfordert. Das war auch kein Wunder, wenn er so darüber nachdachte. »Es gibt nicht viel über mich zu wissen. Mein ganzes Leben habe ich beim Militär verbracht. Bin viel und oft mit Naoki gereist – wir haben viele Orte und Plätze auf Elysium bereist. Zudem waren wir gemeinsam zweimal auf der Erde. Das letzte mal vor etwa dreiundzwanzig Jahren.«

»Du willst mir gerade sagen, dass du sechsmal so alt bist wie ich?« Ein trockenes Lachen entfloh dem Game-Designer, schallte durch den kleinen Raum. »Wie alt bist du wirklich?«
»Ach Kaito ...« Yukine beugte sich vor und stahl sich einen flüchtigen Kuss von ihm. »Die Leben der Fae sind nicht so vergänglich. Wir werden viel älter als die irdischen Bewohner.« Er zog Kaito enger an sich und küsste ihn erneut, jedoch wurde der Kuss nicht erwidert.

»Wenn ... Wenn du ihn so sehr liebst, wieso tust du das hier dann?«, fragte Kaito leise. »Spielst du nur mit mir und gehst bei der nächsten Gelegenheit wieder zu ihm zurück?« Kaitos Worte verletzten Yukine, auch wenn er verstand, wieso der Game-Designer die Fragen stellte. Unsicherheit, Angst. Beides war aus seiner Stimme zu hören. Ganz klar und deutlich.
»Selbst wenn ich es wollte: ich könnte nie mehr zu ihm zurück.« Er machte eine kurze Pause und atmete tief durch. Dann fuhr er mit bebender Stimme fort: »Tote kommen nicht mehr zurück.«

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