Kapitel 1 - Begegnung
Freitag, kurz nach fünf Uhr morgens. Kaito leerte gerade die zweite Kaffeekanne und versuchte, sich weiterhin auf seine Arbeit zu konzentrieren. Seine Augen brannten vor Müdigkeit und vom stundenlangen Starren auf den viel zu hellen Bildschirm. Aber er weigerte sich, jetzt ins Bett zu gehen.
Seine Deadline rückte näher und er musste fertig werden, auch wenn es bedeutete, dass er sich die Nächte um die Ohren schlagen musste. Es war nicht mehr viel und Kaito war sich sicher, dass er es bis spätestens Mittag fertig haben würde. Sein Team zählte auf ihn, alles hing davon ab, dass er diesen Teil seiner Arbeit erledigen würde.
Dass es so kompliziert werden würde, hatte er nicht geahnt. Aber befürchtet hatte er es die ganze Zeit. Irgendetwas ging schließlich immer schief und weil er keine Verzögerungen beim Update duldet, musste es heute fertig werden. Dann konnte sein Team es antesten, auf Herz und Nieren prüfen und mögliche Fehler beheben.
Sie waren ohnehin im Verzug, weil die bereits geschriebenen und fertigen Daten nicht richtig gespeichert wurden. Fast alles, woran sie die letzten Wochen gearbeitet hatten, war von heute auf morgen gelöscht worden. Die Zeit drängte, ihnen blieben gerade einmal sechzehn Tage, bis das Update an den Start gehen würde.
Deshalb konnte Kaito jetzt nicht aufgeben. Völlig egal, dass er seine Augen kaum offen halten konnte und der Kaffee seine Wirkung längst verloren hatte. Es würde nicht einmal sinnvoll sein, sich noch eine weitere Kanne aufzubrühen. Die letzten Stunden ohne Schlaf zollten ihren Tribut und jedes Körperteil schmerzte. Egal wie er auch saß und wie oft er aufstand, um sich wenigstens kurz zu strecken – alles fühlte sich verspannt an, jeder Knochen in seinem Körper tat weh.
Normalerweise kam er mit wenig Schlaf gut zurecht, konnte irgendwie funktionieren und weiterarbeiten. Doch ein Blick auf die Uhr genügte, um festzustellen, dass er seit über sechzig Stunden wach war. Wenn Tobias und Amara das wüssten, würden sie ihn vermutlich dazu zwingen, ins Bett zu gehen. Kaito kannte seine Freunde – und gleichzeitig Mitarbeiter – viel zu gut.
Stets besorgt um seine Gesundheit und das, obwohl er erwachsen war und durchaus fähig, für sich selbst zu sorgen. Meistens jedenfalls. Momentan hatte er andere Prioritäten. Wichtigeres. Dinge, die nicht warten konnten, anders als Schlaf.
Seufzend würgte er den letzten, mittlerweile eher kalten Rest seines Kaffees herunter und stand auf, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Das bedeutete, dass er sein Arbeitszimmer verließ und in die Küche schlurfte.
Draußen war es noch dunkel, genauso wie in seiner Wohnung. Dennoch schaltete er das Licht erst in der Küche an und nicht schon auf dem Weg dorthin. Das warme Leuchten der Lampe flutete den Raum und ließ ihn angestrengt blinzeln. Gähnend stellte er das Geschirr neben die Spüle und nahm sich ein sauberes Glas, nur um es mit Wasser zu befüllen.
Kaito fühlte sich, als hätte er zu lange gefeiert und dabei zu viel getrunken. Ihm war schwindlig, alles drehte sich. Das Gefühl ähnelte dem Zustand, wenn man angetrunken war – oder wenn man morgens aufstand, obwohl man noch nicht nüchtern genug war.
Vom vielen Kaffee und dem ausgefallenen Mittag- und Abendessen war ihm übel, während er gleichzeitig Hunger verspürte. Kaito merkte mit jedem Tag, dass es mit dem Alter schwerer wurde, nächtelang durchzumachen. Er wollte sich nicht vorstellen, wie es in fünf oder zehn Jahren aussehen würde, wenn er bereits mit dreißig solche Probleme hatte.
Kaito trank das Glas mit einigen hastigen Schlucken aus und befüllte es erneut mit Leitungswasser. Hiernach würde er eindeutig Urlaub brauchen. Ein oder zwei Wochen, in denen er sich um nichts kümmern müsste, außer sich selbst. Ausschlafen und zocken. Vielleicht sollte er gleich alle in den Betriebsurlaub schicken, damit keiner auf die Idee kam, sich in der Zeit doch bei ihm zu melden, weil irgendetwas nicht so lief wie es sollte.
Mit einem tiefen Seufzen fischte er sein Smartphone aus der Hosentasche. Es war 5:47 Uhr und das bedeutete, dass er seit gut dreißig Minuten hier herumstand und nichts tat, statt zu arbeiten. Seine Augen wanderten zum Küchenfenster, hinter dem nach wie vor Dunkelheit herrschte. Nur die Lichter der Straßenlaternen fielen hinein.
Er trat schwankend näher heran und betrachtete den sternenlosen Himmel über Berlin. Hier in Berlin-Bohnsdorf war es um diese Uhrzeit recht ruhig, ganz anders als in seiner vorherigen Wohngegend im Zentrum der Stadt. Diese Gegend war passend für jemanden, der sich wie er lieber etwas zurückzog und für sich allein war. Zudem gab es hier deutlich mehr Grünflächen, die ihm im Zentrum immer gefehlt hatten.
Zum Glück hatte er vor etwa zwei Jahren diese Wohnung gefunden. Sie war günstig, geräumig und gut gelegen. Mit den Nachbarn hatte er wenig zu tun, aber sie waren allesamt in Ordnung. Mehr konnte er über sie auch nicht sagen. Hier konnte er ungestört leben und arbeiten.
Er trank das Glas leer und stellte es zu seiner Tasse. Später würde er es schon wegräumen, jetzt fehlte ihm die Kraft dazu. Beim Verlassen der Küche traf er den Lichtschalter mehr schlecht als recht, bevor er durch den dunklen Flur in Richtung seines Arbeitszimmers ging. Doch bevor er den Raum betreten konnte, klingelte es an der Haustür.
Es war kurz nach sechs Uhr und er hatte keine Ahnung, wer in dieser Früh zu Besuch kommen könnte. Langsam und mit schwindenden Kräften schleppte er sich zum Ende des Flurs. Alles um ihn herum drehte sich, seine Beine fühlten sich, als wären sie aus Pudding gemacht.
Sollte er hiernach nicht krank werden, dann wäre es ein Weltwunder. Kaitos Körper zahlte es ihm gerne doppelt und dreifach zurück, wenn er wie die letzten Tage über seine eigenen Grenzen ging. So ein lästiger und schwacher Körper.
An der Tür angekommen, entriegelte er sie und öffnete sie langsam. Das Licht im Treppenhaus blendete ihn, wodurch er den Besucher nicht sofort erkannte. Blinzelnd schob er die Tür gänzlich auf und sah den Mann auf der anderen Seite an.
Er war groß, bestimmt um die 1,90 Meter, mit langem, glattem Haar. Sein Gesicht war blass und ebenmäßig, die Haare weiß. Kaito kannte ihn nicht und der Fremde schien nicht weniger verwundert zu sein. Er runzelte seine Stirn, zog die Brauen zusammen und musterte Kaito von oben nach unten.
Es war unangenehm, denn Kaito wusste genau, in was für einem Zustand er dort stand. Seine Augenringe waren bestimmt tiefschwarz, sein Haar unordentlich und von der Kleidung wollte er gar nicht erst anfangen. Doch der Fremde mit den seltsamen, dunkelblauen Augen sah ihn nicht abfällig an, er schien nur verwirrt zu sein.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, brachte Kaito heraus und merkte, wie seltsam sich seine Stimme anhörte. So kratzig und müde. Als hätte er seit Tagen mit niemandem mehr gesprochen. Ganz unwahr war es nicht, schließlich arbeitete er im Homeoffice und kommunizierte aktuell ausschließlich in Form von Textnachrichten. Bis auf den kurzen Plausch beim Einkaufen, hatte er sich gar nicht unterhalten.
Bevor sein Gegenüber etwas sagte, lehnte Kaito sich an den Türrahmen. Er sollte sich hinsetzen, so schnell wie nur möglich. Alles war anstrengend, kostete ihn Kraft, die er momentan nicht aufbringen konnte. »Du siehst aus, als hättest du jemand anderen erwartet.«
Der weißhaarige Fremde lächelte leicht und Kaito musste zugeben, dass es ein wirklich bezauberndes Lächeln war. Die Mundwinkel der rosigen Lippen hatten sich leicht gehoben und der Blick des Mannes wurde weicher. Außerhalb des Fernsehens hatte Kaito noch nie einen so schönen Mann gesehen.
Diese Ausstrahlung, die Körperhaltung …
Er war das genaue Gegenteil von Kaito, der sich kaum auf den Beinen halten konnte und in einem einfachen Shirt und einer alten Jogginghose steckte. Der Fremde war bestimmt ein Model oder stinkreich, so genau konnte Kaito es nicht sagen.
»Nun«, begann der Fremde, während er die Tasche richtete, die Kaito zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Für einen kurzen Augenblick richtete sich seine Aufmerksamkeit darauf. Doch dann sprach der Mann weiter: »Ich suche nach jemandem.«
Der Fremde hatte einen leichten Akzent, den Kaito jedoch nirgendwo zuordnen konnte. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, doch was er sich eindeutig nicht einbildete, war die Tatsache, dass der angenehme Bariton des Mannes wie Musik in seinen Ohren klang. »Aber er scheint nicht mehr hier zu wohnen«, sagte der Fremde mit einer hörbaren Enttäuschung.
Kaito schluckte schwer. Dieser Mann konnte nicht real sein und Kaito zweifelte im Augenblick an seinem Verstand. Womöglich halluzinierte er vor Überarbeitung und Schlafmangel. Vielleicht war er einfach am Schreibtisch eingeschlafen und das hier ein Produkt seiner Fantasie. Hatte er den Mann vielleicht irgendwo schon einmal gesehen, weshalb sein Unterbewusstsein ihn zeigte?
So etwas konnte nicht echt sein. Diese Szene war wie aus einem Film oder einem dieser von Klischees nur so strotzenden Boyslove-Manga! Er sollte unbedingt aufhören, sie zu lesen. Für sein Singledasein war es ohnehin nicht besonders förderlich, diese unrealistischen Liebesgeschichten zu lesen.
»Ist alles in Ordnung?« Kaito blinzelte, als er die Stimme seines Gegenübers erneut vernahm. Der Mann sah ihn etwas besorgt an, zu besorgt für einen Fremden, der um sechs Uhr morgens auf seinem Fußabtreter stand.
»Sicher«, krächzte Kaito und richtete sich auf. Zu schnell, zu ruckartig. Schwindel ergriff ihn, ließ seine Welt sich drehen und ihn fallen.
Er vernahm ein dumpfes Geräusch; etwas war auf den Boden gefallen. Jedoch war es nicht er gewesen, denn er fiel noch immer, fühlte sich als würde er einen Moment schweben. Dann waren da Arme, die ihn auffingen, weicher Stoff und ein betörend schöner Geruch nach Winter, Schnee und Eis.
Konnte man in Träumen riechen? Oder war das alles doch nur eine Einbildung? Was auch immer es war, es war warm, weich und roch wie ein winterlicher Nadelwald. Dabei hasste Kaito den Winter, weil er doch so kalt war …
~~~
Ich habe mal Kaitos Bild eingefügt, das ich seit Monaten gespeichert habe. 🙈
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top