Kapitel 36 - Rennstarts und Väter

Seitdem er mit Anna bei ihren Eltern gewesen war, waren zwei Wochen vergangen. Zwei Wochen voller Training, mit einem vor Wut schnaubenden Bene und der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde. Er hatte die Reißleine gezogen und noch wussten das weder Niklas noch ihr Trainer.

Daher hatte er auch ein eher mulmiges Gefühl im Bauch, als sie das Boot aufluden und zum größten Spektakel des Jahres fuhren. Das, wofür sie so hart trainiert hatten und bei dem sie ordentlich die Muskeln spielen lassen mussten, um es endlich in den Kader zu schaffen.

Die deutschen Meisterschaften. Wie sie die Qualifikation für das A-Finale geschafft hatten, wusste Paul schon nicht mehr.

Die Meisterschaften hatten schon immer etwas Magisches für Paul gehabt. Nicht nur, dass man alte Bekannte aus ganz Deutschland wieder traf, die Atmosphäre war einzigartig. Sie riss ihn jedes Mal mit.

Mit wild pochendem Herz stand er neben dem Bootsanhänger und genoss einfach den Trubel. Überall wurden Boote herumgeschleppt, Leute sprachen wild durcheinander. Niklas war schon irgendwo im Getümmel verschollen und unterhielt sich wahrscheinlich mit irgendwem, den sie nur auf so großen Regatten sahen.

Anna stieß ihn von der Seite an. „Aufgeregt?"

Er schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein. Nie. Das ist meine liebste Regatta im Jahr."

„Ist dein Vater nicht auch hier?"

Paul sah sie verwirrt an. Woher wusste sie das? Und vor allem warum musste sie ihn daran erinnern, dass er jeden Augenblick in seinen alten Herren rennen konnte.

„Na, er ist doch Leistungssporttrainer, da wird er wohl seine Mannschaft auch hier am Start haben." Anna zog eine Packung Kaugummis aus der Tasche ihrer zerschlissenen Jeansjacke.

Er seufzte. Sein Vater war bestimmt mit dem Achter hier. Niklas sprach höchstwahrscheinlich gerade mit ihm. Er wollte ihn allerdings nicht sehen. Es würde nur enttäuschte Blicke hageln und ihm die Laune verderben. „Wo ist Niklas?", fragte er trotzdem. Vielleicht lag er ja mit seiner Vermutung falsch.

„Spricht mit so einem großen Typen, dunkle Haare, da drüben."

„Hassmann. Was macht der hier?"

Felix Hassmann war eigentlich niemand, den er je gerne getroffen hatte. Sie hatten sich zu oft auf der Rennstrecke nichts geschenkt, um an Land noch irgendwann Freunde zu werden. Sein viel zu selbstsicheres Grinsen brachte Paul schon bei dem Gedanken an seinen früheren Konkurrenten auf die Palme.

„Na das, was ihr wohl auch macht."

„Lustig. Ich mag den nicht. Ich mochte den noch nie." Paul wandte sich ab und nestelte am Reißverschluss seines Skullcovers.

„Was hat er dir getan?"

„Felix ist besser Einer gerudert, als er." Niklas kam grinsend auf sie zu. Seine braunen Augen funkelten belustigt und Grübchen zeichneten sich auf seinen Wangen ab. Niklas kam mit jedem klar. „Hör auf, so ein Gesicht zu ziehen. Du trittst schon seit Jahren nicht mehr gegen ihn an und trotzdem hegst du noch so einen Hass auf ihn. Da soll noch mal einer sagen, dass du nicht nachtragend wärst."

Anna warf Paul ebenfalls einen belustigten Blick zu.

„Ach, schöne Grüße noch von deinem Vater. Der war irgendwie komisch heute und hat da irgendetwas angedeutet. Thorsten hat irgendetwas vor und ich weiß nicht, ob mir das gefällt."

Paul musste schwer schlucken. Ging sein Wunsch nun nach hinten los? „Wann müssen wir an den Start?"

„In einer Stunde." Niklas fischte ganz entspannt seine Wasserflasche aus seiner Tasche.

Das ging ja noch. Wobei das Warten nervte ihn. Ihm war nach Adrenalin und Herzrasen.

„Wie könnt ihr so ruhig sein, und wo hast du Leah gelassen?"

„Die quatscht mit Franka und Dana. Nicht, dass ich das nicht beängstigend finden würde."

Pauls Mundwinkel zogen sich nach oben und er klopfte seinem Kumpel mitfühlend auf die Schulter. „Die polen deine liebe und nette Leah gerade bestimmt zu einem männerfressenden Dämon um." Er musste über Niklas genervten Gesichtsausdruck lachen und nahm dann die Beine in die Hand, als Niklas Anstalten machte, ihn zwischen die Rippen piksen zu wollen.

Lachend rannten sie über die Wiese und zwischen den Booten durch.

Niklas hatte ihn gerade zu fassen bekommen und ihn lachend in den Schwitzkasten genommen, da durchschnitt eine ruhige, aber bestimmte Stimme ihre Kebbelei.

„Jungs! Manchmal möchte man nicht glauben, dass ihr schon Mitte zwanzig seid."

Pauls Lachen verstummte sofort und Niklas ließ ihn augenblicklich los.

„Ich dachte schon ich sehe dich heute gar nicht, Paul."

Unweigerlich biss er sich auf die Unterlippe und sank etwas in sich zusammen. „Tut mir leid."

„Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, und lass uns davon jetzt nicht reden. Ihr müsst in einer Stunde beweisen, dass ihr nach der Flaute der letzten Monate immer noch zu den Besten gehört. Und ich weiß, ihr könnt das!" Paul sah trotzdem zu Boden und wagte es nicht, seinen Vater anzusehen. Bestimmt strahlten seine Augen wie früher, der Bart war für die Begriffe seiner Mutter viel zu unordentlich und die blonden Haare standen in alle Richtungen ab, weil er schlecht geschlafen hatte.

„Lass uns nach dem Rennen reden. Wir drei."

Niklas stieß ihn an und bedeutete ihm, dass er keine Ahnung hatte, worum es ging.

Stumm nickte Paul einfach und ignorierte ihn.

„Zeigts ihnen! Ich werde im Ziel stehen. Versprochen. Wie früher."

Beinahe wären Paul die Tränen gekommen, und er sah nur verschwommen, als er endlich den Kopf hob, wie sein Vater sich umdrehte und zurück zum Anhänger ihres Clubs lief. Irgendwie war ihm jetzt nach einer Umarmung.

Sie standen auf dem Steg. Das Boot lag im Wasser. Leah und Anna beäugten sie aus der Distanz, und Anna hatte ihre Spiegelreflex auf sie gerichtet.

Wie früher standen sie einander gegenüber.

Niklas sagte keinen Ton, aber sein Blick sprach Bände. Er würde heute überall mit ihm hingehen. Blindesvertrauen, gepaart mit dem Willen hier und heute alles zu tun, um so schnell wie nur irgend möglich über diese verdammte Ziellinie zu kommen.

Paul musste schlucken und nickte ihm stumm zu. Er war bereit.

Sie machten beide einen Schritt vor, blieben Stirn an Stirn stehen. Die linken Hände fest miteinander verwoben und auf Brusthöhe gehoben. Die Ruhe vor dem Rennen setzte ein. Dieses komische Gefühl voller Anspannung und doch auch mit dieser unerschütterlichen Ruhe durchsetzt. Es setzte sich in jede Pore seines Körpers. Wie immer in diesem so festen Ritual. An dessen Ende sie sich nur zunickten und in ihr Boot stiegen im Wissen, dass sie, das zusammen durchstanden. Egal, was passieren würde.

Mit ruhigen Schlägen ruderten sie am Startpunkt. Das Wasser lag ruhig da. Weitere Boote fanden sich neben ihnen ein. Der Stuart griff nach ihrem Doppel und nickte ihnen kurz angebunden zu. Für ihn war das auch nur ein Job wie jeder andere, ein Rennen wie jedes der anderen zuvor.

Man konnte sie beinahe schmecken, die freudige Anspannung, die schwer in der Luft hing. Es war so still, dass man das Gefühl bekam, die Zuschauer rund um die Regattastrecke würden kollektiv die Luft anhalten. Nicht einmal die Vögel rangen sich dazu durch, für sie zu singen. Links justierte jemand sein Boot nach. Rechts ließ jemand angespannt die Blätter ins Wasser sinken, nur um sie wieder hochzuziehen. Paul schloss kurz die Augen und hörte Niklas hinter sich deutlich ausatmen. Dann glitt er in die Startposition.

„Attention." Paul musste schlucken und umgriff instinktiv seine Skulls etwas fester. Eine schlechte Angewohnheit, da er so natürlich auch in den Schultern verkrampfte, aber er wurde sie nicht los. Kontrolle über die Blätter wäre auch besser, wenn er etwas lockerer wäre.

„Set." Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er rollte noch weiter in die Startposition. Dann ertönte das Startsignal und er schoss in dem Wissen, dass Niklas ihm folgte, in den Rennstart.

Alles war wie in einem Tunnel. Er hörte nichts. Er sah nichts. Jetzt galt alles.

Meter um Meter schob sich das schmale Rennboot über die Strecke, nahm immer mehr an Fahrt auf und schaffte es schließlich, das stärkste Boot in ihrem Starterfeld zu überholen.

Wie in Trance zog Paul nur noch. Er sah nur Wasser, Bojen und den strahlend blauen Himmel. Wie durch Watte hörte er gejohle vom Rand der Strecke und einzelne Namen, die gerufen wurden. Von irgendwoher meinte er auch seinen eigenen Namen gehört zu haben und zog noch weiter an. Innerlich betete er dass es nicht zu früh gewesen war, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es hatte seien müssen.

Sie verloren das Boot neben sich. Schemenhaft konnte er erahnen, dass das Doppel nicht mit ihnen mithalten konnte und sie an Raum gewannen. Auf welchem Platz waren sie jetzt? Obwohl, war das wichtig?

Eine gelbe Boje. Er zog noch weiter an. Der letzte Sprint. Die Hände brannten, die Beine schmerzten und er biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten. Alles oder nichts! Jetzt! Nur noch zehn, wenn er sich nicht verschätzte. Tempo.

9. Sein Herz schlug bis zum Hals.

8. Die Lunge brannte.

7. Der linke Oberschenkel fing an zu ziehen.

6. Das Boot wurde nur noch schneller gefühlt.

5, 4, 3, 2. Er hielt die Luft an. Eins.

Bestimmt zog er ein letztes Mal durch, dann ließ er sich nach hinten fallen und hätte heulen können. Niklas bremste das Boot gekonnt ab und klopfte ihm dann auf die Schulter.

„Wir haben es geschafft."

Paul nickte und rang um Atem. Das hatten sie. Jetzt, jetzt, waren sie von einem Mythos zu einer Legende geworden. 

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