Kapitel 11- Goldene Stunde

Anna seufzte und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Es war wirklich klein, aber gemütlich. Ein schmales Bett stand an der Wand zwischen den beiden großen Fenstern mit den rustikalen grüngestrichenen Fensterläden. Der Teppich vor dem Bett sah mindestens genauso kuschelig aus wie der zuhause vor ihrem Sofa. Anna ließ ihre Tasche auf den breiten Holzschreibtisch sinken und öffnete den Kleiderschrank neben der Tür. Die in das Holz geschnitzten Ranken passten wunderbar zu dem rustikalen, aber überhaupt nicht gammeligen Vibe des Zimmers. Sie hatte Schlimmeres erwartet.

Umständlich öffnete sie den Reißverschluss ihrer Reisetasche und zog als Erstes ihre Kamera heraus. So wie sie es gerade auf dem Flur aufgeschnappt hatte, wollten Niklas und Paul heute im golden Licht des Sonnenuntergangs noch einmal raus. Das schrie nur so danach Fotos zu machen. Vor ihrem inneren Auge sah sie schon wie wunderschön sich die Sonne auf dem Wasser brechen und wie zwei Ruderer von ihr in ein samtenes sattes Gold gehüllt werden würden.

Es klopfte und ehe Anna etwas sagen konnte, lugte schon Leah in ihr Zimmer. „Oh, das ist auch voll schön!"

„Ich hatte nicht gedacht, dass wir so schöne Zimmer haben würde und schon gar keine Einzelzimmer."

Leah schob die Tür hinter sich zu und beäugte Annas Kamera neugierig. „Machst du gleich Fotos?"

„Hatte ich vor. Einen Sonnenuntergang nicht zu nutzen wäre eine Schande."

„Du meinst die Chance, die Jungs oberkörperfrei auf dem Wasser abzulichten mit der Ausrede nur den Sonnenuntergang einfangen zu wollen?"

Anna musste kichern. „Natürlich! Was glaubst du denn? Gibt es bessere Fotoobjekte?"

Leah ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. „Hier zumindest nicht. Ich hoffe, die Mädels benehmen sich. Ich will nicht die Böse sein."

„Kannst du das überhaupt?"

„Ja."

„Leah, du bist die wandelnde Mutter Theresa. Du hattest sogar extra was zu essen für Paul dabei, obwohl er sich benimmt wie ein Arschloch."

„Ich glaube, er ist einfach nur missverstanden."

„Und meine Mutter kann fliegen."

„Ich kenne ihn zwar nicht anders, aber habe trotzdem das Gefühl etwas stimmt nicht mit ihm."

Anna rollte mit den Augen und langte in ihre Tasche, um ihre Sachen einzuräumen. „Er wird schon seine Gründe haben, aber die gehen mich nichts an."

„Aber es belastet Niklas und das gefällt mir nicht."

Am liebsten hätte Anna genervt gestöhnt. Natürlich ging es Leah nur zweitrangig um Paul. Wie konnte das Leben eines Menschen nur so um das eines anderen kreisen? Also bitte. Sie sah ja auch, wie sehr das Niklas mitnahmen, aber sie würde den Teufel tun und sich einmischen. „Kommst du gleich mit runter zum Steg, wenn die sich das Boot fertig machen?"

„Hatte ich eh vor. Ich muss aber Elektrolyte mitbringen."

„Wieso das denn? Wie ich das verstanden habe, wollten sie nur ne lockere Runde raus."

„Sie wollen beide im Einer raus. Gerade Strecke, perfekt gesteckt. Muss ich mehr sagen?"

„Nein." Na das würde ihr ja tolle Fotos geben. „Können sie sich nicht selber Elektrolyte fertig machen?"

„Wo denkst du hin? Die sind beide doch schon längst wieder unten und schrauben gerade die Ausleger an. Niklas hat mir geschrieben, dass er seine Wasserflasche vergessen hat und weil ich ja eine gute Freundin bin, mache ich dann direkt Elektrolyte fertig."

„Mir wäre das sowas von egal. Wasserflasche vergessen, kommt Wasser rein. Fertig. Viel Spaß damit."

„Und deswegen bist du Single." Auf Leahs Lippen schlich sich ein breites Grinsen.

Anna musste lachen und leerte noch den Rest ihrer Tasche im Schrank aus. „Wenigstens bin ich nicht so lieb, dass ich ständig verarscht wurde."

„Oh lass das nicht meinen Therapeuten hören."

„Wie läuft es damit?" Die lockere Stimmung war dahin.

Leah kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe herum. „Ganz gut würde ich sagen. Ich bin ehrlich, ohne Niklas hätte ich das Problem nicht angepackt."

Anna schnappte sich ihrer Kamera. „Let's go! Bevor wir hier noch sentimental werden."

Kichernd schoben sie sich aus Annas Zimmertür auf den gähnend leeren Mädchenflur.

Anna wartetet auf dem Flur darauf, dass Leah wieder aus der Küche kam. Gedankenverloren scrolle sie durch Instagram und dachte sich, wie langweilig ihr Leben doch war. Eine Kommilitonin war im Auslandsemester und postet eine beeindruckende Berglandschaft nach der nächsten. Ihr geübtes Auge sah sofort, dass mit Lightroom oder Photoshop nachgebessert worden war, aber trotzdem machte es sie unheimlich neidisch. Sie saß dagegen eine Woche mit acht Mädchen und zwölf Jungs im Alter von 13 bis 16 zusammen in dieser kleinen Jugendherberge oder wie der Betreiber es nannte „Trainingszentrum mit Betten und Verpflegung". Vielleicht sollte sie sich heute Abend mal den Kraftraum im Keller angucken und den Glaskasten in dem die Rudermaschinen standen, der vom Esszimmer abzweigte.

Ihr Handy vibrierte plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken. Eine neue Nachricht. Natürlich von niemand Geringerem als Flo. Fuck. Sie hatte seine Nummer doch blockieren wollen.

„Sicher dass es was Ernstes mit deinem Neuen ist. Hab ihn zumindest nicht oft in deinen Instastories gesehen. Anna, lass uns reden. Es ist eine Menge zwischen uns schief gelaufen. Ich will das wieder geradebiegen. Gib mir eine Chance."

Ja, sicher würde sie das tun. Flo hatte es nicht verstanden. Sie hatten komplett verschiedene Zukunftsvorstellungen.

. Sie wollte sich kreativ ausleben und einfach sie selbst sein.

Flo hingegen wollte heiraten, ein Haus bauen und mindest zwei Kinder in die Welt setzten. Das größte war das Saufen mit den Kollegen am Wochenende und das Holzhacken mit Papa im Wald. Eine Frau hatte da zu sein, um sich um das Haus und die Kinder zu kümmern und da Flo bald 26 wurde, war das Nächste was er wohl tun würde, ihr einen Antrag machen.

Das war nicht ihre Welt und deshalb hatte sie es beendet. Flo war kein schlechter Mensch. Sie hatten sich nur auseinandergelebt. Eigentlich hatte sie kaum etwas gemeinsam gehabt, wenn sie so zurückdachte.

Genervt machte sie ihr Handy aus und schob es zurück in die Hosentasche ihrer Shorts.

Wenig später lag sie mitten auf dem Steg auf dem Bauch und versuchte, die richtig Perspektive im Sucher ihrer Spiegelreflex zu finden. Die Luft war immer noch schwül warm und nahm einem gefühlt die Luft zum Atmen. So dicht am Wasser ging es zum Glück einigermaßen.

Durch den Sucher erwischte sie gerade Paul beim zuwasserlassen seines gelben Einers. Sein muskulöser Oberkörper zeichnete sich deutlich unter dem schwarz-weißen Unisuit ab.

Das Spiel seiner Armmuskeln wollte sie um jeden Preis richtig einfangen.

„Na, am stalken?"

Anna zuckte zusammen und löste genervt ihren Blick von der Kamera und warf Niklas einen vernichten Blick zu, der seinen Einer neben ihr gestoppt hatte.

Niklas lachte auf. „Erwischt!"

„Bessere Fotomotive als euch gibt es hier nicht. Warte mal ab was für Bilder ich von dir mache."

„Ich hoffe nur die Besten!" Breit grinsend rückte Niklas seine Sonnenbrille zurecht. Wenn Anna sich nicht täuschte, war das eine dieser ganz teuren mit einer bestimmten Polarisation der Gläser.

„Zweifelst du gerade mein Können an?"

„Würde ich nicht wagen!" Dann sah Niklas an ihr vorbei. „Komm Alter, hopp jetzt. Keinen Bock gleich hier im Dunkeln rumzugurken, weil du mal wieder ne halbe Ewigkeit brauchst."

Paul stieß sich vom Steg ab. „Leck mich, Niki. Dafür bin ich auf dem Wasser schneller als du."

„Eh nicht." Geschmeidig setzte Niklas sein Boot in Bewegung und die dunkelblau lackierten Blätter seiner Skulls glitten beinahe lautlos durch das klare Wasser.

Paul ruderte nun auch an ihr vorbei und zog eine Grimasse.

Anna musste lachen. Gott, wie sie dieses Chaos vermisst hatte.

Sofort begab sie sich wieder in Position. Der Auslöser klickte laut, als sie die ersten Aufnahmen machte. Nur um festzustellen, dass sie den Sportmodus nicht eingestellt hatte.

Die Jungs waren zwei lockere Runden gerudert. Das Wasser wurde in wunderschönes goldenes Licht getaucht. Beide hatten ihre Unisuits runtergezogen. Auf ihren Oberkörpern glänzte der Schweiß. Die Fotos wurden immer besser, hatte Anna das Gefühl.

Da gingen die Jungs beide in den Rennstart und die Boote schossen nur so los. Es war, als hätte jemand ein Gummiband losgelassen. Anna war so fasziniert, dass sie beinahe vergessen hätte, den Auslöser auszulösen. Die beineindruckenden Rücken in denen die Muskeln bei jedem Endzug so deutlich zu sehen waren, kamen immer näher und schließlich schossen die Boote beinahe Kopf an Kopf an ihr vorbei. Man konnte die Schläge deutlich hören, erahnen welche Kraft hinter jedem einzeln von ihnen stecken musste. Die verbissenen Gesichter bekam sie perfekt ins Bild. Genauso wie Nikals gegen Himmel gestreckte Faust, als er vor Paul über die imaginiere Ziellinie schoss.

Beide Jungs grinsten sich breit an und witzelt miteinander herum, ehe sie wendeten und langsam zurückruderten.

Anna war wieder auf ihrem Zimmer. Die Ruhe war ganz schön. Die Jungs hatten für ganz schön aufsehen gesorgt mit ihrem kleinen Rennen.

Sie saß nun an ihrem Laptop und machte Farbabgleiche. Nicht ihre Lieblingsbeschäftigung, aber sie wollte zumindest etwas haben, um Instagram mal wieder zu füttern und ihre Kommilitonen neidisch zu machen.

Sofort bleib sie an einem Foto von dem Rennen hängen. Leicht verschwommen, aber trotzdem hatte es etwas Kraftvolles, Dynamisches. Schnell schickte sie sich das Bild an ihr Handy, genauso wie ein Foto von Paul auf dem er seinen Einer gerade aus dem Wasser fischte. Sie hatte eine Idee, um sich Flo so vielleicht endlich mal vom Hals zu halten.

Das Foto vom Rennen packte sie in ihre Story. Verlinkte sowohl Paul wie auch Niklas drauf und Leah irgendwo unten in der Ecke.

Dann schickte sie das Foto von Paul an Flo mit den Worten. „Wir könnten kaum glücklicher sein. Ich muss mit dir nicht reden."

Direkt danach kam sie sich kindisch vor. 

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