seventh

Die frische Luft hilft wirklich.
Aber was habe ich auch anderes erwartet. Natürlich hatte Jin mit seiner Aussage Recht, dass ich spazieren gehen soll. Er weiß immer, was das Beste ist. Zu jeder Zeit. Und es gibt fast keinen Menschen auf der Welt, der mich besser kennt als Jin.

Es tut gut, nur die Stille um mich herum zu genießen, den Wind in den Blättern der Bäume rauschen zu hören.
Vereinzelt hört man das Gezwitscher der Vögel, die sich trotz der klirrend kalten Temperaturen an der Schönheit der Natur erfreuen.

Immerhin trägt das winterliche Wetter auch einen großen Teil zu der Atmosphäre um mich herum bei.
Alle ist unter einer dicken, weißen Schneedecke versteckt und zwischen den Bäumen am Wegesrand bildet sich dichter Nebel, der sich liebevoll an die Äste schmiegt und die kräftigen Stämme umschließt.

Ich merke wieder, wie sehr ich den Wald vermisst habe.
In den letzten Wochen und Monaten war ich fast täglich im Büro und bin gar nicht mehr aus den einengenden, grauen Gassen der viel zu großen Hauptstadt heraus gekommen.

Dabei habe ich garnicht gemerkt, wie schlecht es mir eigentlich die ganze Zeit über ging.
Ich bin kein Stadtmensch. Aber wie immer habe ich meine positiven Dinge gefunden und das Negative ignoriert. Ja sogar gar nicht wahrgenommen.

Bis jetzt.

Ich summe tatsächlich sogar leise vor mich hin, als ich über den verschneiten Pfad zurück in Richtung Stadtrand laufe. Lächelnd verabschiede ich mich von dem Wald um mich herum, lasse ihn in der kalten Umarmung des Nebels zurück und trete schließlich wieder zurück auf die Straße.

Opas Haus steht auf der linken Seite der Straße neben einer großen Wiese, die Fenster leuchten mir freundlich entgegen und ich weiß, dass Jin die Quelle dieses Lichts ist und er mich sofort, wenn ich durch die Tür treten werde, wieder in seine Arme ziehen wird. Und mit seinem Licht alle dunkler gewordenen Ecken in mir wieder erhellen wird.

Zumindest solange er mich umarmt.

Kurz von Opas Haus zögere ich. Ist diese Bezeichnung überhaupt noch zutreffend?
Auch wenn er nicht mehr darin wohnt? Womöglich nie wieder darin wohnen wird?

Nicht daran denken!

Meine Gedanken sind immerhin ein bisschen leichter geworden, seit wir das Krankenhaus verlassen haben.

Opa ging es gut als wir uns von ihm verabschiedet haben und Jin hat mir versprochen, dass wir gleich morgen wieder zu ihm fahren.

Sein Arzt hat mich mit seinem wunderschönen Lächeln beruhigt und mir versprochen, dass er gut auf Opa aufpasst, solange ich weg bin.

Ich bin mir sicher, dass er das gut machen wird. Hoffentlich kann Opa schlafen. Oma hat immer erzählt, dass er nur in seinem eigenen Bett gut einschlafen kann.

Nicht darüber nachdenken!

Mein Blick ist immer noch auf das Haus vor mir fixiert und obwohl meine Finger mittlerweile gefühlt schon erfroren sind, schaffe ich es noch nicht, auf dir Tür zu zu laufen.

Ich brauche noch kurz frische Luft und den Wind in meinen Haaren. Nurnoch kurz.

Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr und drehe mich von... Opas Haus weg.
Mein Blick fällt auf eine dunkle Gestalt, die gerade die Straße hinunter läuft, direkt auf mich zu. Das schwache Licht der Straßenlaternen lässt nur die Umrisse der Person erahnen. Sie trägt eine dicke dunkle Winterjacke mit Kapuze, ein ebenso dunkler Schal ist eng um ihren Hals gewickelt.

Neugierig blicke ich der Gestalt entgegen, kann immernoch kein Gesicht erkennen. Die Person scheint mich auch nicht zu bemerken, sie läuft schnurstracks weiter, den Kopf auf die vereiste Straße gesenkt, bis sie mich fast erreicht hat und endlich aufschaut.

Trotz der spärlichen Beleuchtung erkenne ich ihn und sofort beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Eine Welle von Glücksgefühlen überschwemmt mich und ein glückliches Lächeln legt sich auf mein Gesicht. Trotz der eisigen Kälte hier draußen und in mir drinnen wird mir plötzlich warm ums Herz.

Das kann doch nicht sein. Nach all den Jahren...

"Was machst du denn hier?", erkundige ich mich überrascht, kann es immer noch nicht glauben, dass der ältere plötzlich vor mir steht.

Mit seinen dunklen Augen starrt er mich an und ich sehe die Überforderung in seinem Blick.

Eine ganze Weile stehen wir einfach nur da und starren uns gegenseitig an.

"Tae...", kommt es schließlich unglaublich leise von seinen Lippen, die sich aufgrund der Kälte schon leicht bläulich gefärbt haben.

Er steht immernoch ein paar Schritte von mir entfernt, eingemummelt in seinen dicken Schal. Der selbe Schal den er schon vor Jahren getragen hat. Meine Oma hat ihn gestrickt und er hat sich so sehr darüber gefreut, als er ihn zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. Ich habe noch ganz genau sein leuchtendes Gewischt vor Augen, als er fein säuberlich den Schal aus dem Geschenkpapier befreit hat und wenig später meiner Oma um den Hals gefallen ist. Er sah so glücklich aus.

Jetzt dagegen sieht er fast ängstlich aus. Überfordert und hilflos.

Ganz anders, als ich ihn in Erinnerung habe.

"Suga...", setzte ich an zu sagen und will auf ihn zu laufen. Mich in seine Arme werfen.

Aber dazu komme ich nicht, denn sein Spitzname scheint ihn jäh aus seinen Gedanken zu reißen und bevor ich es richtig realisieren kann, hat er sich bereits umgedreht und läuft die Straße hoch.

Ich bin für eine Sekunde wie eingefroren, bevor meine Beine sich plötzlich wie von selbst in Bewegung setzten und ich ihm hinterher renne.

Nur ein paar Schritte schaffe ich, bevor mein linker Fuß plötzlich auf der glatten Straße wegrutscht.

Das nächste was ich wahrnehme ist ein stechender Schmerz in meinem Knie, den vereisten Schnee unter mir und die heißen Tränen auf meinen Wangen.

Suga...

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