ninth

"Oh Gott Tae, was ist denn mit dir passiert?"

Sobald ich den ersten Schritt durch die Tür gesetzt habe, ist Jin schon an meiner Seite und stützt mich durch den Flur ins Esszimmer.

"Ich bin nur hingefallen.", wehre ich ab, bevor Jin noch weiter reden kann. Er schaut mir direkt in die Augen und ich weiß, dass er die Verwirrtheit in ihnen sieht, aber er lässt mir Zeit, zwingt mich nicht zu einer Antwort sondern holt den Erste-Hilfe-Kasten und beginnt, mein Knie zu untersuchen.

Die Hose ist weit aufgerissen und blutverschmiert und alles in allem sieht die Wunde sehr viel schlimmer aus, als sie sich anfühlt. Tatsächlich tut sie noch nicht einmal richtig weh, ich spüre nur ein dumpfes Pochen und ein leichtes Brennen, als Jin Desinfektionsmittel auf die aufgerissene Haut sprüht. Vielleicht liegt es auch an der Kälte, vielleicht betäubt sie den Schmerz. Denn eigentlich müsste es doch viel mehr weh tun, wenn es so stark blutet.

Ich mag den Anblick von Wunden nicht und schaue weg, blicke zu Jin, der konzentriert vor mir kniet und immer noch kein Wort mit mir spricht, während er mein Knie fertig versorgt.

Ebenso stumm setzt er sich neben mich auf die Ofenbank und wickelt mich in mehrere Decken ein, nachdem er ein buntes Pflaster auf mein Knie geklebt hat.

Vermutlich habe ich zu lange auf der vereisten Straße gesessen, die Kälte ist nämlich durch meinen gesamten Körper gekrochen und lässt mich zittern, obwohl ich immer noch meinen dicken Mantel trage. Aber vielleicht hat die Kälte auch wieder einmal einen anderen Ursprung?

Soll ich Jin von Suga erzählen?

Eigentlich denke ich nie groß darüber nach, bevor ich rede. Zumindest nicht bei Jin. Wenn ich ihm etwas erzählen möchte, dann tue ich es einfach. Immerhin ist der Ältere quasi mein großer Bruder.

Aber ich bin stiller geworden seit der schlechten Nachricht. Und nach der Begegnung eben scheint mir das Reden plötzlich noch schwerer zu fallen.

Das habe ich nie. Ich kann reden. Immer. Egal wie unangenehm einen Situation von anderen Menschen empfunden wird, mir ist das egal. Über solche Dinge habe ich mir noch nicht einmal Gedanken gemacht. Auch sämtliche Leute in der Schule, die sich über mich lustig gemacht haben, waren mir immer egal.
Okay egal vielleicht nicht, immerhin ist kein Mensch egal. Aber es war mir egal, dass sie mich offensichtlich nicht sonderlich zu mögen schienen. Ich habe einfach weiter mein Ding gemacht. Und ich habe geredet. Immer.

Es hat in meinem Leben bis jetzt nur zwei Situationen gegeben, in denen es mir so gegangen war wie jetzt gerade. In denen aus meinen Schmetterlings-Gedanken plötzlich Elefanten geworden sind und Dinge wie Reden plötzlich schwer waren.

Ich weiß, dass es vorbei gehen wird. So wie auch die anderen beiden Male. Auch wenn es jetzt gerade noch viel stärker, viel schlimmer erscheint.
Die Elefanten verwandeln sich bald wieder zurück. Und dann wird das ganze hier nur noch Vergangenheit sein. Ein verblasstes Ereignis in meinem Kopf, an das ich mich irgendwann nicht mal mehr richtig erinnern kann.

"Ich habe Suga gesehen.", kommt es plötzlich aus mir heraus. Ich kann mir nicht erklären, wie mein Körper diese Worte gebildet hat, ich habe mich nicht bewusst dazu entschieden, sie aus zu sprechen. Aber es tut gut, sie gesagt zu haben.

Jin hält mitten in der Bewegung inne und schaut mit großen Augen zu mir auf.

Ich will weiter reden, ihm von der seltsamen Begegnung erzählen, aber die Gedanken greifen über mich und verdrängen meine Fähigkeit zu sprechen genauso schnell wieder, wie sie gekommen ist.

Aber vielleicht muss ich gar nicht reden. Nicht bei Jin, der auch so genau weiß, was zu tun ist, ohne dass ich das selbst weiß.
Wortlos zieht er mich auf seinen Schoß, schlingt die Arme um meinen Bauch und schaukelt mich ruhig hin und her.

Und plötzlich ist es wie damals. Ich kann einfach wieder klein sein. Muss nicht mehr der erwachsene Taehyung sein, sondern kann Taetae sein. Kann mich fallen lassen, denn ich weiß, dass Jin mich festhält. Immer festhalten wird.

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