fifteenth
"Suga, warum bist du weggerannt?
Ich habe mich so gefreut, dich endlich wieder zu sehen!"
Der junge Mann vor mir antwortet nicht, klammert sich nur enger an mich und vergräbt sein Gesicht in meinem Schal.
"Es tut mir leid", raunt er gegen meinen Hals. Sein warmer Atem kitzelt auf meiner kalten Haut und ich spüre, wie sich Gänsehaut über meinen ganzen Rücken ausbreitet.
"Es ist alles okay, du musst dich nicht entschuldigen."
Langsam löst Suga sich von mir und instinktiv greife ich nach seiner Hand, umklammere seine kalten Finger. "Bitte lauf nicht wieder weg", flüstere ich und Suga schüttelt sofort den Kopf.
"Tue ich nicht. Versprochen. Ich war gestern nur... überfordert. Ich habe nicht damit gerechnet, dich jemals wieder zu sehen."
"Ich auch nicht. Aber ich freue mich umso mehr, dass du jetzt wieder bei mir bist."
Ich werfe mich wieder in seine Arme, aber diese Umarmung ist anderes. Suga ist zögerlicher, vorsichtig. Als wäre ich derjenige, der gleich wegrennen würde.
"Ich laufe auch nicht weg Suga, versprochen", beeile ich mich zu sagen und ich kann seine Reaktion darauf zwar nicht sehen, aber ich bilde mir ein, dass er sich ein wenig in unserer Umarmung entspannt.
Nach einer Weile lösen wir uns wieder voneinander und er lächelt leicht, aber es ist kein aufrichtiges Lächeln. Es erreicht seine Augen nicht. Kalt und ausdruckslos schauen sie mich an, verstecken alle Gefühle vor mir.
Es erinnert mich an unsere erste Begegnung. Der verschlossene Blick. Ich weiß, dass er nur gespielt ist. Oder zumindest bin ich mir relativ sicher. Yoongi ist nicht so kalt, wie er tut, er ist auch warm, nur eben auf eine andere Weise als die meisten Menschen, die ich kenne.
Harte Schale, weicher Kern. So würden andere ihn beschrieben. Aber Yoongi ist ein warmer Mensch mit einer kalten Hülle. Einer kalten Hülle, die bei einem Lächeln von ihm sofort zu schmelzen beginnt.
Aber in diesem Moment bleibt die Eisschicht um ihn herum bestehen, denn das unechte Lachen auf seinem Gesicht hat nicht die selbe Wirkung, wie aufrichtige Freude.
"Es ist ziemlich kalt, du solltest nach Hause gehen."
Wieso schickt er mich jetzt auch noch weg? Wir haben uns doch gerade erst wieder gesehen. Kurz war alles so wie früher. Dann kam die Kälte, viel stärker als damals und jetzt will er, dass ich gehe.
Ich bin mir sicher, dass er den enttäuschten Ausdruck auf meinem Gesicht sehen kann, aber das ist mir egal. Er soll ruhig wissen, dass er mich mit dieser Aufforderung traurig macht.
Er senkt den Blick und ich kann sein Gesicht nicht mehr sehen, es verschwindet in dem schwarzen Schal.
Als er nach einer viel zu langen Zeit wieder aufblickt, ist das Eis um ihn herum ein winziges bisschen geschmolzen.
Es kostet ihm Anstrengung, das sehe ich deutlich. Die Winterkälte um uns herum beeinflusst auch ihn, er kann seine Hülle nicht vollständig fallen lassen. Aber es bedeutet mir viel, dass er es versucht. Mit zeigt, dass der Suga von damals, den ich eben umarmt habe, wirklich immer noch da ist.
Trotz des Schneesturms um uns herum.
"Nein Stop, so meine ich das nicht. Aber Tae, es ist spät und es ist kalt. Du siehst aus, als sitzt du hier schon eine Weile und ich will nicht, dass du krank wirst. Lass uns morgen über alles reden."
"Nein jetzt. Du kannst jetzt gleich mit zu mir kommen." Denn zu dir darf ich ja bestimmt nicht. Sonst hättest du es angeboten. Das hast du schon damals nie getan.
Ich spreche es nicht aus, aber die Worte hängen zwischen uns, sind prägnanter und kälter als die eisigkalten Schneekristalle um uns herum.
Zweifel stehen in Sugas Gesicht. Ich weiß nicht wieso.
Obwohl unsere Umarmung sich angefühlt hat wie damals, stehen die zehn Jahre Distanz plötzlich zwischen uns, wie ein unüberwindbarer Abgrund.
"Jin ist da, er wird sich freuen, dich wieder zu sehen", sage ich leise, versuche damit, den Abstand zu verringern. Eine Brücke zu bauen, damit mein Suga wieder zu mir zurück kommen kann.
"Und ich freue mich auch."
Eindringlich schaue ich ihn an, versuche die ganze Liebe in meinen Blick zu legen, die ich immer noch für ihn empfinde. Ich werde mich nicht einfach so von meinem besten Freund verabschieden. Ich will nicht gehen.
Aber meine Brücke ist wacklig, droht einzustürzen, wenn er nicht bald...
"Okay."
"Okay?"
"Okay."
Mehr Worte braucht es nicht. Suga verstärkt das einzelne lose Brett, das uns verbindet, geht den ersten Schritt über den Abgrund. Schnell greife ich nach seiner Hand, ziehe in zu mir auf die sichere Seite.
Und dann laufen wir Hand in Hand los, um den Block an den anderen Nachbarhäusern vorbei, bis wir vor Opas Haus stehen.
"Opa hat mir geschrieben, dass ich eine Lampe reparieren soll", sagt Yoongi leise, als wir vor der Einfahrt kurz inne halten.
Er ist der einzige, der meinen Opa genau so nennt. Immer noch. Auch nach den zehn viel zu langen Jahren. Vielleicht hat sich doch nicht so viel geändert?
Ich hoffe es.
Hätte ich ihn getroffen, wenn ich meinen Großvater früher wieder besucht hätte? Ihn nicht jedes mal nach Seoul eingeladen hätte?
Bestimmt.
Der Gedanke erschwert mein Herz, erinnert mich wieder daran, dass ich die Zeit mit meinem Opa viel mehr hätte wertschätzen müssen. Solange er noch hier ist. Nicht nur um Opas Willen. Auch um Sugas.
Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich all die Jahre nicht einen einziges Mal an ihn gedacht habe. Ich musste erst nach Hause kommen, um mich an meinen besten Freund zu erinnern.
"Deshalb war ich gestern hier. Noch Mal, es tut mir leid, dass ich einfach weg gerannt bin Tae."
Das spielt doch keine Rolle mehr. Ein einziger Tag gegen fast viertausend.
"Es ist okay. Wirklich. Wann hat er dir geschrieben?", erkundige ich mich, während wir langsam auf die Haustüre zulaufen.
"Gestern Nachmittag irgendwann. Wieso?"
Er weiß es noch gar nicht. Opa hat es ihm bestimmt nicht verraten. Im Gegenteil, er wollte, dass wir uns hier wieder treffen. Weil er wusste, dass Jin und ich Zuhause sind. Weil er die ganze Zeit über noch Kontakt mit ihm hatte. Und mir nichts gesagt hat. Weil ich nie da war.
"Er ist im Krankenhaus."
Es ist das erste Mal, dass ich diese Worte ausspreche. Und komischerweise machen sie die Situation wieder ein Stück weit realer für mich, aber es macht mir nicht mehr so viel aus. Macht mich nicht mehr reglos vor Sorge und Schmerz. Weil ich Suga wieder bei mir habe. Neben mir, an meiner Hand.
Und er hat versprochen, mich nicht wieder alleine zu lassen.
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