Insomnia

„Lass uns abhauen. Zusammen.". Diesen Satz bekam Soobin vor genau sechs Monaten an den Kopf geschmissen. Mit genau diesem Satz hatte sein Leben eine hundertachtzig Grad Drehung genommen und sich zum Besseren gewendet. Denn diesen Satz hatte nicht von irgendwem gehört, sondern von einer ganz bestimmten Person. In gewisser Weise waren sie sich völlig fremd, doch gleichzeitig kannten sie sich schon ein ganzes Leben lang.

Wir befinden uns in Seoul. Eine Stadt die Tag und Nacht lebt. Eine Stadt in der selbst die Schatten leben.

--Sechs Monate zuvor—

Choi Soobin stand vor dem Fenster. Wie eigentlich jede Nacht kam der, zu diesem Zeitpunkt fast achtzehnjährige, einfach nicht zur Ruhe. Schlafen konnte er schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Eigentlich hatte er schon seit zwei Jahren glücklich sein müssen. Doch an diesem Bedeutungsvollen Tag, wie in Seoul der sechzehnte Geburtstag von manchen genannt wurde, passierte rein gar nichts. Alle hatten gespannt auf Soobin gestarrt, doch dieser hatte nichts tun können. Warum hatte sein Schatten sich damals nicht offenbart? Bis heute konnte Soobin es sich nicht erklären. Er hatte Nachgeforscht und war zu keinem Ergebnis gekommen. Es kam soweit, dass Soobin sich heimlich in der Akademie für Schatten, eine nicht sehr angesehene Ausbildungsstätte, über die man munkelte sie sei nur um illegale Experimente an schatte auszuführen gebaut worden, eingeschrieben. Trotz allen Seminaren und Experimenten war sein Schatten bis heute nur ein unförmiges etwas, das hinter ihm herumwaberte. Langsam glaubte er nicht einmal mehr daran, einen richtigen Schatten zu besitzen.

Man muss wissen, dass Schatten wie Seelenverwandte wirken. In ihre Nähe fühlt man sich sicher und einfach wie man selbst. Nicht wenige wurden beste Freunde mit ihren Schatten, manche fingen sogar nach und nach an sich zu verlieben. In Seoul war es zwar nicht genehmigt seinen Partner des gleichen Geschlechts zu heiraten, aber bei Schatten drückten die Beamten beide Augen zu. Noch eine Sache die Soobin nicht verstand. Warum schien alles, das anderen völlig normal vorkam, ihm so komisch? Verließ ihn allmählich auch der Verstand, weil er so lange ohne Schatten leben musste?

Denn Soobin hatte schon früh gemerkt, dass das Fehlen eines ordentlichen Schattens Nacheile hatte. Ein paar Wochen nach seinem Geburtstag fing es mit Schlafproblemen an. Er wälzte sich oft Stundenlang im Bett hin und her oder beschäftigte sich mit den sinnlosesten Fragen, statt einzuschlafen.

Nach ein bis zwei Monaten hatten sich die Schlafprobleme verschlimmert und inzwischen schlief Soobin gar nicht mehr. Er konnte und wollte nicht. Der Schlaf hatte sich allmählich von Soobins festem Freund und Begleiter in seinen schlimmsten Feind verwandelt. Im Schlaf konnte einem alles passieren. Man konnte aus dem Bett fallen, Einbrecher könnten einen entführen und die Welt würde enden. Man selbst würde sich im Traumzustand befinden und mit sprechenden Kakteen die Welt retten. Nichts würde man mitbekommen. Der Gedanke des Schlafens widerte Soobin an. Alles an dieser Tätigkeit schien ihm unpraktisch und Zeit verschwendend.

In der Akademie sowie auf der Straße sahen die Leute ihn an, tuschelten über ihn. Bei ihnen war er nur bekannt als „Choi Soobin, der mit meterlangen Augenringen und ohne Schatten", doch Soobin machte es nichts mehr aus. Er hatte gelernt die Kommentare zu ignorieren. Er baute sich eine Schutzschicht aus falschen Emotionen. Und je näher Soobins Achtzehnter Geburtstag rückte, desto mehr hatte er vergessen wie zerbrechlich er wirklich war. Unter seiner Hülle der gefälschten Charaktereigenschaften.

Soobin stand in dieser Nacht lange am Fenster und grübelte. Bald war sein Geburtstag gekommen. Bald würde er volljährig sein. Könnte tun und lassen was er wollte. Soobin stand am Fenster bis die Sonne aufging. Dann wandte er sich ab, schnappte sich seine alte Ledertasche und verließ den alten Wohnblock um zur Akademie zu gelangen.

An seinem Arbeitsplatz angelangt griff Soobin zu seinem Schlüssel, um sein Labor aufzuschließen, welches er mit dem Eintritt in die Akademie zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Hier forschte er an Schlaftabletten. Natürlich nicht an solchen, die das Einschlafen erleichterten. Nein, ganz im Gegenteil. Mit seinen Tabletten wollte Soobin Schlaf so simulieren, dass der Körper sich zwar regenerierte und ausruhte, jedoch ohne dass man die Augen schließen musste und sich so in unnötige Gefahr brachte. Wenn er, dass schaffen würde hätten sowohl er, als auch seine Familie ihr altes Ansehen wiedererlangt.

Die Chois waren eine einflussreiche Familie Seouls gewesen. Doch ihr Sohn, damit war Soobin gemeint, hatte Schande über ihre Familie gebracht. Und so verloren die Chois nach und nach Geschäftspartner, Kunden und Einflussreichtum. Das alles nur wegen dem unförmigen Schatten ihres Sohnes. Der rasche Verlust ihres Reichtums hatte bei den Chois eine rasende Wut auf ihren einzigen Sohn ausgelöst. Sie verbannten ihren Sohn aus der Familie.

So kam es das Soobin heute in einem Altbau wohnte. Nachdem er alles verloren hatte, nahm der damals sechzehnjährige, viele Nebenjobs an. Er schaffte es irgendwie über die Runden zu kommen. So schaffte Soobin es auch den Eintritt in die Akademie zu finanzieren. So tief war er gesunken. Vom reichen und verwöhnten Sohn zu einem armen Wissenschaftler, der illegale Forschungen betrieb. Wenn sein eEltern ihn so sehen könnten... Schnell verbannte Soobin diesen Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich weiter auf seine Arbeit.

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Soobin war unzufrieden als er abends sein Labor verließ, um seinen Job in einem der nah gelegenen Clubs anzutreten. Heute hatte er keinen Fortschritt an seinen Forschungen machen können. Er hatte sich nicht konzentrieren können. Den ganzen Tag war er mit den Gedanken woanders gewesen.

Als Soobin in den Club trat schlug ihm der, inzwischen so vertraute, Geruch von Alkohol entgegen. Wie immer war es rappelvoll. Dieser Club war zwar immer gut besucht, aber heute war es besonders voll. Schnell schlängelte er sich durch die Menschenmenge und trat hinter die Theke um mit seinem Job anzufangen.

Wie jeden Abend wurde er von Taehyun begrüßt, nachdem er in seine Arbeitskleidung geschlüpft war. Der rothaarige war der einzige den Soobin regelmäßig sah und mit dem er regelmäßig redete. Sie waren in all der Zeit so etwas wie Freunde geworden. Taehyun betrieb den Club und Soobin war schon seit fast einem Jahr bei ihm angestellt. Die beiden waren ein eingeschworenes Team. Soobin stand hinter der Theke und nahm Bestellungen auf, während Taehyun in Rekordgeschwindigkeit Drinks mixte.

So lange wie Soobin hier schon arbeitete, kannte er die meisten Kunden. Umso verwunderter war er, als ein neues Gesicht vor dem Tresen auftauchte. Noch dazu war der Fremde allein. „Alleine hier?", sprach Soobin das offensichtlich aus. „Versuchst du gerade zu flirten?". Der Fremde sah nicht einmal von der Getränkekarte auf. „W-was? N-nein ich m-meine...", Soobin machte eine kurze Pause und sprach dann mit fester Stimme weiter: „Das ist kein Club den man alleine besucht. Die meisten kommen mit Freunden her". Der Schwarzhaarige würdigte ihn immer noch keines Blickes. „Freunde? Dann sollte ich wohl wieder gehen..." murmelte der Fremde.

Bevor er sich umdrehen konnte, zog Soobin in am Ärmel. „N-nein so meinte ich das n-nicht. N-natürlich kann man hier auch a-alleine hin. E-es ist nur... man sieht hier n-nicht alle Tage n-neue Gesichter und n-noch dazu alleine. B-bitte bleib d-doch", murmelte er schnell. Sein Gesicht hatte einen ungesunden Rotton angenommen. Schnell ließ er den Ärmel des Fremden los. Was war nur in ihn gefahren? In Erwartung den anderen nun erst recht verschreckt zu haben, sah Soobin auf den Boden. „Na, wenn du mich schon extra darum bittest sollte ich dir wohl den Gefallen tun", lächelte er Fremde. Auch sein Gesicht war nicht von der Röte verschont geblieben. Dann machte der Fremde es sich an der Bar bequem und bestellte einen Drink, als wäre nichts gewesen. Soobin bewunderte ihn dafür, denn er bekam vor Peinlichkeit kein Wort heraus.

„Ich bin Yeonjun", stellte der Fremde sich vor, während er an seinem Getränk nippte. „S-soobin", nuschelte Soobin und ergriff zögerlich die Hand, welche Yeonjun ihm entgegenstreckte. „Na dann Soobin, schön dich kennenzulernen", erwiderte Yeonjun ihm freudig, während Soobin mit einer Tomate um das kräftigste Rot wetteiferte.

Soobin verließ seine Arbeit an diesem Tag glücklicher als sonst. Hoffentlich würde er Yeonjun irgendwann wiedersehen.

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Als Soobin am nächsten Morgen in die Akademie kam erwartete ihn eine Überraschung. Denn als er sein Labor betrat war es nicht menschenleer wie sonst immer. Denn auf dem Stapel Holzkisten, die irgendjemand hier geparkt und dann nicht wieder mitgenommen hatte, saß eine schwarzhaarige Person. Im ersten Moment wollte Soobin seinen Augen nicht trauen. Bis die Person vom Kistenstapel sprang, auf ihn zukam und ihm die Hand entgegenstreckte.

„Hi, ich bin Beomgyu".

Enttäuschung machte sich in Soobin breit und dennoch versuchte er zu lächeln. „Soobin", sagte er, bevor er Beomgyu die Hand schüttelte. „Wieso bist du hier? Ich meine... ich bin nur der Junge mit Augenringen, ohne Scha-", setzte Soobin an doch wurde von Beomgyu unterbrochen „Genau deshalb bin ich hier! Ich helfe dir deinen Schatten zu finden!". „W-was? A-aber du klingst ja so als wäre mein Schatten weggelaufen oder so...", nervös lachte Soobin, ehe Beomgyu erneut das Wort ergriff. „Genau das ist er. Und jetzt komm, hab nicht ewig Zeit!". Soobin blieb die Luft weg. Sein Schatten war also abgehauen? Bevor er weiter nachdenken konnte, zog Beomgyu ihn am Handgelenk aus der Tür.

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„Warum machen wir das nochmal?", fragte Soobin ein paar Stunden später. Er und Beomgyu hatten sich mitten ins Stadtzentrum an den Brunnen gesetzt und beobachteten die Leute „Das habe ich dir schon tausendmal erklärt!", zischte Beomgyu und wandte sich dann ab um weiter Leute zu beobachten. Er hatte zwei Löcher in eine Zeitung geschnitten und benahm sich nun wie ein Detektiv. Leicht musste Soobin über das Verhalten des jüngeren schmunzeln. Nachdem er Soobin erklärte, dass davongelaufene Schatten selbst keine Schatte besaßen – Soobin hatte einsehen müssen das das irgendwo Sinn ergab – saßen sie auf einer Bank im Stadtzentrum und beobachteten die Menschen.

„Der hat einen Schatten, der auch, die auch...", enttäuscht blickte Beomgyu ihn an „Weißt du ich dachte wirklich das geht schneller...". Soobin widersprach ihm sofort „Ach was redest du denn? Hauptsache wir finden meinen Schatten irgendwann". Der Aufmunterungsversuch war ein Erfolg gewesen, denn das Lächeln kehrte in Beomgyus Gesicht zurück. Ein blick auf die Uhr verriet Soobin, dass er nun zum Club musste. Er verabschiedete sich von Beomgyu und wollte gerade gehen. „Bis morgen!", schrie Beomgyu quer über den Platz und winkte wie ein Verrückter. Soobin musste Lächeln, drehte sich noch einmal um und winkte noch einmal.

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Die nächsten Tage liefen immer gleich ab. Soobin ging morgens in die Akademie, wo er bereits von Beomgyu erwartet wurde, dann liefen sie zusammen in die Stadtmitte um Menschen zu observieren. Bevor Soobin in den Club musste hielten sie meistens noch an einem kleinen Cafe und liefen mit Kaffee in der Hand weiter. Über all diese Tage waren Beomgyu und Soobin gute Freunde geworden. Sie redeten viel miteinander und auch wenn Soobin meist nur still zuhörte kamen sie gut miteinander aus. Yeonjun, allerdings hatte er in all der Zeit nicht mehr gesehen. Weder im Club noch irgendwo anders. Soobin hätte gerne behauptet, dass ihm das nichts ausmachte, doch er wusste; er wollte den anderen wiedersehen.

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Es war Abend und Soobin stand, wie immer, hinter der Theke im Club. Heute war nicht viel los, also hatte er viel Zeit seinen Gedanken nachzuhängen. Solange bis jemand durch die Tür kam und einen Drink bestellte. „Y-yeonjun?", fragte Soobin. „Seh ich aus wie der Weihnachtsmann?". Ja, das war Yeonjun. Soobin wurde augenblicklich Rot und murmelte „N-natürlich n-nicht, aber...". „Du hast mich vermisst, stimmts?", Yeonjun grinste verschmitzt. „W-was?! Ä-äh... j-ja, also N-nein... j-ja hab ich...". Spätestens jetzt würde Soobin als Tomate durchgehen. „Gut, ich dich nämlich auch. Morgen 16 Uhr in Kais Cafe... Das kennst du doch, oder?". „J-ja tu ich...", stammelte Soobin der schon glaubte inzwischen eine Toate mit Sonnenbrand zu sein. „Gut, dann bis morgen!" mit einem Lächeln verabschiedete sich Yeonjun und war kurz darauf verschwunden.

Soobin rieb sich die Augen. Das hatte er sich nicht nur eingebildet, oder?

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Die Kirchenglocken läuteten im Einklang mit der Ladenglocke des Cafes, als Soobin eintrat. Er sah sich um und entdeckte Yeonjun an einem kleinen Tisch in einer schattigen Ecke. „Ich dache schon du kommst nicht" grinste Yeonjun, als Soobin sich zu ihm setzte. „h-hey! I-ich bin nur eine Minute zu spät!". „In der Minute hätte ich schon Kuchen bestellen können!", schmollte Yeonjun gespielt beleidigt.

Sie bestellten sich Kuchen und Getränke und aßen in Schweigen. Keineswegs unangenehmes Schweigen, sondern eher dieses, wenn man die bloße Anwesenheit des anderen genießt. Als sie fertig waren und Soobin gerade zahlen wollte, drückte Yeonjun dem Kellner das passende Geld in die Hand und grinste nur. Dann nahm er Soobin an die Hand und Zog ihn mit sich aus dem Cafe.

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„Hier willst hoch?" Soobin betrachtete die Leiter sorgenvoll. „Natürlich! Glaub mir das macht Spaß!". Soobin seufzte, aber folgte dem älteren – wie er inzwischen wusste – die Leiter hinauf, auf das Dach eines Altbaus.

Sobald er auf dem Dach stand machte sich die Mühe bemerkbar. Von hier aus konnte man ein ganzes Stück von Seoul überblicken und die Aussicht war Atemberaubend. Yeonjun setzte sich einfach an die Kante und ließ die Beine baumeln. Dann winkte er Soobin zu sich. „Setz dich doch". Gesagt getan.

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Der Wind fuhr den beiden durch die Haare, während sie sich über ihre Leben unterhielten „... Deshalb bin ich vor zwei Jahren abgehauen", schloss Yeonjun seine Erzählung. Soobin hörte aufmerksam zu. Yeonjun stand auf. „Wenn wir uns auf die andere Seite setzten sehen wir den Sonnenuntergang. Irgendwann will ich wissen wo die Sonne untergeht. Lass uns abhauen. Zusammen" Soobin stand ebenfalls auf, bis sein Blick auf den Boden fiel.

Sein unförmiger Schatten fiel hinter ihm auf den Boden. Wie immer. Schnell sah er wieder nach vorne zu Yeonjun. Auf den Boden hinter ihn. Dort wo dessen Schatten hätte sein müssen.

Dort war nichts.


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