Gerichtsbeschluss

Der Gang ist viel zu kurz. Gerade einmal 124 Schritte bis zur Eingangstüre. Und dennoch hat er Platz für fünf Personen, die nebeneinander laufen. Zumindest schätze ich das, da nur jeweils eine Person zu meinen beiden Seiten steht. Und als wäre das nicht genug, ist es auch noch viel zu leise. Die Menschen hinten auf dem Gang, die von nur zwei Aufsehern zurückgehalten werden, übertönen bei weitem nicht die Stimmen in meinem Kopf. Nicht das ich verrückt bin, das sind nicht meine Stimmen. Es sind nur die von zwei Personen. Elly und Dave.

Elly kreisch mir in das eine Ohr, dass sie überhaupt nicht verstehen kann, was alle mit diesen koreanischen Pop-Sängern haben, während Dave mich fragt, wie mir seine neuen Sneaker gefallen. Er hat eine ganze Sammlung davon. Überall in seinem Zimmer stehen sie herum. Dave sammelt sie, wie andere Menschen Münzen oder Kronkorken sammeln. Nur ist seine Sammlung einfach nur ein Haufen schlecht prodozierter, wenn auch seltener Schuhe, die er nie anzieht, obwohl - die meisten davon - ziemlich gut aussehen und vor allem viel zu viel Geld gekostet haben. Elly stimmt mir in diesem Punkt total zu. Sie stimmt mir wahrscheinlich in jedem Thema zu, über das sie sich aufregen kann. Denn das "r" in Elly steht für ruhig. Und mit genau der Lautstärke in der sie mir sonst unlustige Memes vorspielt oder sich über einen ihrer Lehrer aufregt, brüllt sie mir auch jetzt in mein Ohr. Doch ich kann mich gar nicht auf ihre Worte konzentrieren, da Dave die ganze Zeit über seinen goldenen Füller redet, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hat. Ganz im Ernst, wer braucht denn einen goldenen Füller im Collage? Jemand, der gerne überfallen werden will? Ja, denn dieser Füller ist nicht nur golden, sondern mit tatsächlichem Gold überzogen. Wenn er - bzw. seine hart arbeitenden Eltern - nicht tatsächlich so viel Geld hätten, wäre er ein ziemlicher Angeber. Doch er braucht gar nicht erst gewollt anzugeben, da alleine sein Hemd und seine Anzughose schon sagen "Schaut mich an, ich bin reich".

Ich gehe vorbei an zwei golden glänzenden Türknäufen und über einen Teppich in einen großen Raum hinein. Ich habe mir schon einiges ausgemalt, doch selbst die schlimmsten Vorstellungen werden in diesem Moment noch übertroffen. Es sind ohne Ausnahme alle Plätze belegt. Aber nicht belegt von Menschen. So sehen keine Menschen aus. Natürlich gleichen sie mit ihren Jeans oder Röcken, Hemden, einfarbigen T-Shirts oder Anzügen, jedem Menschen den ich je kennengelernt habe. Aber etwas ist falsch an ihnen. Ihre stramme Körperhaltung, wie man sonst nur in der Kirche sitzt, ihre versteinerten Mienen, wie auf einer Beerdigung und ihre Augen. Vor allem ihre Augen. So sehen Menschen einander nicht an. Nicht einmal wenn die Freundin einen betrügt, wenn der Vater gerade das Kind geschlagen hat oder wenn man von der Schule geflogen ist, - nicht mal dann - wird man so angeschaut. Diese Blicke sind vermutlich tödlich, sage ich mir. Sie sind all der Hass und die Angs komprimiert in eine Handlung - Elly würde sie mit einem Würgegriff der Sith vergleichen.

Mit einem Klicken schließt einer der Polizisten die Türe hinter mir. Die Polizistin links neben mir bleibt. Sie versucht gerade den perfekten Abstand zwischen mir und der Meute zu finden. Als würde sie auf einer Klippe stehen und zur einen Seite wäre das eisige Niemandsland der Antarktis und zur anderen die brennende Hitze der Sahara. Nur das die Antarktis in diesem Fall überhaupt kein Niemandsland ist. Um ehrlich zu sein hinkt der Vergleich an allen Ecken und Enden, aber ich versuche weiter das Bild in meinem Kopf aufrecht zu erhalten. Es bringt nichts. Selbst wenn ich die Zuschauer in meinem Kopf durch gruselige Serienkiller aus Horror-Filmen ersetzen würde, wäre das noch ein besserer Anblick. Denn so ein Serienkiller mordet meistens aus Hass. Er ist der Übeltäter in dieser Situation. Er hat keine Angst vor dir, weil du das Opfer bist. Doch so wie es jetzt ist, wirkt es einfach nur wie ein aufgebrachter Mob, der seine Mistgabeln und Fackeln Zuhause gelassen hat. Wofür brauchen sie die auch? Das hier ist keine Hexenjagt... es ist eine Hexenverbrennung.

"Im Namen des Bundesstaates von Florida", beginnt der Richter seine Rede.

Ich bin ihm innerlich dankbar dafür. So sehen zumindest einige der Schaulustigen zu ihm und nicht nur zu mir. Das bringt mich auf die Idee auch zu ihm zu blicken, während mich die Polizistin zu meinem Tisch führt. Er ist wahrscheinlich von allen Beteiligten derjenige, der sich am meisten bemüht neutral zu schauen. Das kann ich weder von den Geschworenen, die wie römische Bürger auf einen Gladiatoren hinuntersehen, noch vom Staatsanwalt, der so schaut wie der Kaiser selbst, behaupten. Mein Pflichtverteidiger, das arme Schwein, gehört mit zu den wenigen Leuten, die der Eröffnungsrede des Richters lauschen. Doch ob er es aus Respekt vor ihm oder Scham vor seiner Situation macht, kann ich unmöglich sagen.

Ich sitze schon fast auf meinem Platz, da steht plötzlich ein Mann, mitten aus der Menge, auf und schreit, "Mörderin".

Die Polizistin dreht sich ruckartig zu ihm, während der Richter mit seinem Hammer versucht die Unruhe zu verhindern. Er ermahnt den bärtigen Unbekannten, in einem Ton, der keine Wiederworte duldet. In diesem Moment fällt es mir erst auf. Die Polizisten dienen nicht nur dem Schutz der Leute oder der Absicherung, falls ich so dumm sein sollte einen Fluchtversuch zu unternehmen, sondern auch der Abschreckung. Sie schützen auch mich. Doch sie können mir nicht den Schutz geben, den ich benötige. Wenn alle Menschen in diesem Raum mich gemeinsam zu Tode prügeln würden, wäre mir das lieber, als vor ihnen zu sitzen, mit ihren Blicken wie Speeren in meinem Rücken. Langsam verblassen die Stimmen meiner beiden besten Freunde. Sie gehen unter in einem rhythmischen hölzernen Klopfen, Flüchen, Kamera-Blitzlichtern und wildem Gerede. Erst als ich schon eine Weile sitze, fällt mir auf, dass die Geräuschkulisse sich gelegt hat.

Es ist still genug um mich dazu zu bringen, aus meinen Gedanken zu erwachen. Ich sehe herüber zu meinem Verteidiger, dem der Schweiß quer über die dicke Stirn läuft. Er mustert mich aus dem Augenwinkel. Immer wieder zucken seine Lippen nach oben, als wolle er mir etwas signalisieren. Auch die Geschworenen zu meiner Linken sehen mich erwartungsvoll an. Als wäre ich ein kleines Kind, dass etwas falsch gemacht hat und sie würden mich jetzt so lange ansehen, bis ich ihnen eine Lügengeschichte auftischen würde. Dann würden sie vermutlich die Augenbrauen hochziehen und so etwas sagen wie ein lang gezogenes "Aha".

"Ms. Hall, bitte antworten Sie auf die Ihnen gestellte Frage. Sie müssen alles bestätigen, was ich Ihnen nun sage, damit wir nach dieser Formalität den Prozess schnell hinter uns bringen können."

Es ist ein wenig kurios, wie er das einfach so sagt. Es ist sein Job, aber gibt es denn nicht hin und wieder Momente, in denen der Privatmensch sich nicht länger zurückhalten kann? Ich bin beeindruckt und verängstigt zugleich von der Professionalität des Ganzen. Ich versuche auch professionell zu sein. Will antworten. Öffne den Mund. Meine Kehle ist trocken, meine Zunge fühl sich taub an, mein Rachen schmerzt. Ich unternehme einen Versuch etwas zu sagen, aber das einsilbige Wort kommt nicht zustande. Während ich meine Lippen wieder schließe und den Kloß in meinem Hals zu ignorieren versuche, nicke ich mit dem Kopf. Nur eine kleine Bewegung. Doch was wenn ich tatsächlich darauf antworten muss? War es gerade respektlos nur zu nicken? Wir er mich gleich mit derselben Deutlichkeit in der Stimme ermahnen wie den Reinrufer von Vorhin? Das würde ich nicht verkraften.

Meine Gebete werden erhört und der Richter fährt fort. Hastig blicke ich mich auf der Ablage vor mir um. Ich suche Wasser. Gibt es nicht immer Wasser bei so etwas? Dauert das hier nicht Stunden? Was genau ist das hier eigentlich? Eine Gerichtsverhandlung wohl kaum. Die Würfel sind schon gefallen, alles was jetzt fehlt ist es offiziell zu machen. Ich finde keines. Mehr und mehr schnürt es mir die Kehle zu. Ich kann kaum atmen. Mein Gehirn sucht derweil permanent nach einem Ausweg, weil es nicht verstehen will, dass es ab hier kein Zurück mehr gibt. Mein Blick ist unklar und der Mann in schwarz wird immer undeutlicher. Alles fühlt sie so weit weg an. Gerade noch kamen mir all die Menschen auf den Plätzen noch so nah vor, als würden sie direkt vor mir stehen, als könnte ich ihren sauren Atem auf meinen Wangen fühlen. Aber in diesem Moment ist alles wie durch einen Wasserfall getrennt. Kein Geräusch, kein Bild, dringt durch diesen Vorhang. Aber ein weiterer Sinn reißt mich aus meinen Gedanken. Ich spüre etwas Kühles an meiner Nase, dann an meiner Lippe. Es tropft in meinen Mund hinein. Noch ein Sinn wird aktiviert. Ich schmecke Salz.

Vielleicht war es doch eine dumme Idee hier aufzukreuzen. Womöglich hätte ich einfach sagen sollen, dass ich schuldig bin, wenn ich sowieso kein Interesse darin habe mich zu verteidigen. Es ist unmöglich. Ich bin aussortiert, wie ein fehlerhaftes Produkt. Für immer aussortiert aus der Gesellschaft. Ich kann nie wieder in meine alte Schule, auch nur in meine Heimatstadt. Meine Familie will nichts mehr mit mir zu tun haben, selbst meine Katze haben sie mir weggenommen. Und das sind alles noch ferne Träume, denn höchstwahrscheinlich wird meine neue Schule Gitter statt Fenstern haben und ich werde sie nicht mehr verlassen können, bis ich Volljährig bin. Und dann werde ich an einen andren Ort gebracht. Doch die Jahre davor werde ich eingeschlossen sein, zwischen Drogendealerinnen und Betrügerinnen, gewalttätigen Babysittern und Räuberinnen. Und zwischen all diesen Menschen, die von uns als böse und schlecht beschimpft werden, werde selbst ich noch herausstechen. Selbst der Abschaum wird mich für Abschaum halten. Es wird eine Erlösung sein, danach in die Einzelhaft zu kommen. Und einzig deswegen bin ich hier. Einzig für mein Gewissen, denn ich weiß wie dieser Tag enden wird. Aber ich will dennoch ein einziges Mal die Chance haben es in aller Öffentlichkeit sagen zu können. Es ihnen allen ins Gesicht zu brüllen. Nur aus diesem einen Grund bin ich hier, doch ich kann mich einfach nicht überwinden.

"Ich bin unschuldig", murmle ich leise. Mir ist bewusst, dass mich keiner hört, aber ich traue mich auch nicht es lauter auszusprechen. "Ich bin unschuldig", sage ich mir noch einmal, mit dem Gesicht in den Händen versunken und zittriger Stimme.

Mit beiden Armen auf den Tisch gestämmt drücke ich mich mit all meiner verbliebenen Lebenskraft nach oben und brülle es in den Raum hinein.

"Ich bin unschuldig!"

Meine Arme beginnen meine Lippen darin übertreffen zu wollen, wie heftig sie zittern können. Schleim aus meiner Nase vermischt sich mit Tränen und Schweiß auf meinem Gesicht. Die ungewaschenen Haare hängen mir über die Augen und verdecken ihnen die Sicht. Nur in der Mitte, wo sie sich aufteilen, sehe ich einen ernst dreinblickenden, alten, weißhaarigen Mann mit einem Holzhammer in der Hand.

"Halt dein VERLOGENES Maul!", brüllt jemand aus den hinteren Reihen, doch ich wage es nicht mich umzudrehen. Stattdessen sinke ich ganz langsam wieder in meinen Stuhl zurück.

Bestärkt durch einige Zurufe nimmt es die weiblich klingende Stimme noch einmal auf sich, ermahnt zu werden.

"Du hast sie UMGEBRACHT! ERMORDET! Meinen Sohn Dave und diese Elly auch! Alle beide ..."

"Miss White, zügeln Sie sich!", ruft eine raue Stimme von vorne.

Doch Miss White hört nicht auf, auch wenn ihre Stimme inzwischen bebt und durch Schluchzer unterbrochen wird.

"Du hast ihre Leben beendet. Wir wissen es und du weißt es! Du sollst genauso sterben wie sie! KREPIE-", ihr Mann hindert sie daran es auszusprechen und versucht auf sie einzureden. Das entnehme ich aus seiner leisen, beruhigenden Stimme. Er ist schon immer ein ruhiger Typ gewesen. Ich habe früher mit ihm Schach gespielt, wenn Dave mal wieder länger gebraucht hat um seine Klamotten rauszusuchen.

Auch er weint. Wir weinen alle und alle allein wegen mir.




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