Entfernung
Der Fakt, dass wir alle am Leben sind, ist so zufällig zustande gekommen, wie das Leben selbst. Wer entscheidet darüber wer leben darf und wer gar nicht erst geboren wird? Gibt es da draußen einen Gott, der das festlegt? Ein Wesen, welches nach unseren moralischen Vorstellungen Entscheidungen trifft? Wohl kaum, denn sonst gäbe es keine Ungerechtigkeiten auf dieser Welt. Wie sollte denn sonst ein gerechter Gott nichts gegen Ungerechtigkeit unternehmen?
Eben das hatte ich auch meinem früheren Religionslehrer gesagt. Er hatte mich aus dem Unterricht geworfen, nachdem ich davon geredet hatte, dass Gott entweder nicht allmächtig oder nicht vollkommen gut sei. Meine Worte wären eine Beleidigung gewesen. Ich sollte mich schämen als Sohn des Pfarrers solch ketzerische Worte zu sprechen. Ich sollte glauben. Vertrauen. Doch auf was um alles in der Welt?
Meine Mutter starb als wahrscheinlich frommste Frau seit Jesus selbst, an einer Krankheit, die laut meinem Vater „gottgewollt" war. Er habe einen Plan für uns alle, predigte er mir immer. Doch was war dieser Plan? Sollte der junge Tomas von seinen Klassenkammeraden als Schwuchtel beleidigt werden und profitierte die schüchterne Cassandra irgendwie von der Vergewaltigung durch ihren eigenen Onkel? Nein! Beide haben sich mittlerweile erhängt. Eine schwere Sünde, die sie laut meinem Vater in die Hölle fahren lässt. Erst werden sie hier bestraft und dann nochmal nach ihrem Tod. Und warum? Damit sie glauben? An was um des Himmels hochgelobten Willen sollen wir den glauben? An ein uraltes, mehrfach übersetztes und zensiertes Buch, zusammengefügt aus Texten die bewiesenermaßen fehlbare Menschen vor hunderten von Jahren geschrieben hatten? Nein! Nichts war vorbestimmt, keiner gottgeleitet und diese Präsenz die mich zwang meine Freizeit in der Kirche zu verbringen um auch überhaupt gar nichts an dieser Welt zu ändern, war lediglich ein Hirngespinst, welches von uns Menschen erfunden wurde um unsere eigene Sterblichkeit leugnen und einen tieferen Sinn in allem sehen zu können.
Aber es gibt keinen Sinn. Es gibt nur das Leben selbst und eine komplexe soziale Gesellschaft, in der manche Menschen moralische Regeln befolgen und andere sie durchbrechen. Doch dafür gibt es ja unser Rechtssystem. Ein System indem Betrüger Prozesse gewinnen und organisierte Verbrecher immer wieder den Schlingen der Justiz entkommen. Cassandras Onkel ist wieder freigekommen. Tote können schließlich nicht reden und der Indizienprozess konnte vom Anwalt des Schuldigen gewonnen werden. Denn in dieser Welt behält nur Recht, wer Scheine hat. Kein Engel wird vom Himmel herabsteigen und auch das Karma wird keinem der unmoralisch handelnden Menschen das Handwerk legen.
Daher fühlen sich viele Narzissten dort draußen unverwundbar. Kein Mensch bei klarem Verstand würde ihnen etwas antun. Ihre Bodyguards, Rechtsberater, falschen Freunde, Untergebenen und dieser Staat selbst würde sie schon schützen. Der Regen würde ihre Spuren von den dreckigen Straßen fegen. Niemand würde reden und riskieren selbst zum Ziel zu werden. Daher halten sie sich für unsterblich. Ob sie nun in den gebrochenen Herzen der Menschen weiterleben werden, die sie zu Opfer gemacht haben oder ob sie genügend Geld erschummelt haben, um sich teure ärztliche Behandlung leisten zu können. Sie werden belohnt für ihre Sünden. Und währenddessen sitzen die Menschen auf der Welt herum und lesen die Zeitungen oder die reißerischen News-Artikel im Web und beschweren sich darüber, dass die Welt von Tag zu Tag schlimmer wird. Niemand handelt. Alle sind sie nur glotzende Schafe, die ihrem Hirtenhund dabei zusehen, wie er die Wölfe ignoriert oder sich gar mit ihnen anfreundet.
Und vielleicht ist es an dieser Stelle mein eigener Narzissmus, aber ich denke ich weiß es besser. Die Welt wird nicht schlechter. Sie ist so wie sie schon immer war: Ein grausamer Ort. Und das selbst jetzt in einer Zeit in der wir das ändern könnten.
Darum habe ich es getan. Nicht weil ich ein Psychopath bin, weil mein Vater mich falsch erzogen hat oder weil ich gar von einem Dämon besessen bin. Weil ich die moralisch richtige Entscheidung getroffen habe.
Im Internet gibt es alles zu finden, was man wissen muss. Einen Menschen umzubringen ist schwerer als es scheint. Wenige Spuren, keine unnütze Brutalität, kurz und doch schmerzhaft. Ich nenne das keinen Mord, ich nenne das Gerechtigkeit.
Harald starb auf dieselbe Weiße, auf die er Cassandra auf dem Gewissen hatte. Vergewaltigung, öffentliche Blamage und darauffolgenden Selbstmord. Doch da sein Geist so krank war, dass er selbst ein Video von sich im Internet ertrug, auf dem sich jemand an ihm vergnügte, dem ich auf der Straße Drogen dafür versprochen hatte, musste ich ein wenig nachhelfen. Er fragte mich währenddessen, warum ich all das tat.
Eine Woche später ging ich mit reinem Gewissen in die Kirche, setzte mich in den Beichtstuhl und entschuldigte mich dafür, dass ich nicht schon längst meine Bestimmung erkannt hatte. Der Pfarrer dachte ich meinte ich hätte den Platz in der Welt für mich erkannt, den Gott für mich vorgesehen hatte. Er freute sich über das Geschenk, welches ich ihm voller Freude machte. Er wusste nicht wie tödlich handelsübliche Insektizide sind, doch ich wusste von den Videos auf seinem Computer. Am Ende richtete ihn eine der Todsünden der Kirche. Die Völlerei in Form von Whisky. Er starb genau so jämmerlich wie das Insekt, das er war. Und auch er fragte mich „warum". An diesem Tag schrieb ich mein ganz eigenes Gebet, an niemand anderes gerichtet als die Menschen, die es verdienten von dieser Welt getilgt zu werden.
Der Crack-Süchtige schwieg und selbst wenn er geredet hätte, wer würde ihm glauben? Die Schlaftabletten waren längst aufgelöst und niemand fragte sich wieso Harald sie genommen hatte. Die dutzenden Leute, die an einem Sonntag zum Beichten gegangen waren, wurden nicht einmal verdächtigt. Und selbst wenn es so gewesen wäre, hatte ich doch nur Produkte benutzt, die in jedem Supermarkt zu kaufen waren und kam nicht einmal aus der Nähe seiner Kirche.
Elf weitere unmoralische Menschen bekamen das Todesgedicht zu hören, bis mein persönlicher Judas mich verriet. Es war mein einziger Fehler gewesen, zu glauben jemand anderes könnte dieselbe Last tragen wie ich. Ich wurde verraten. Nur gut, dass ich ihm nicht all zu viel erzählt hatte. Nur für einen einzigen Mord sollte ich eingesperrt werden. Warten sollte ich in einer Zelle, bis das fehlerhafte System meine Ermordung erlaubte. Schließlich war ich laut der Verfassung noch nicht im geeigneten Alter zu sterben. Die Komik der Situation zwang mich dem doppelmoralischen Haufen von Menschen ins Gesicht zu lachen, der mich ernst mit gehobenem Blick begutachtete wie ein Mechaniker, der versuchte den Fehler in einer Maschine zu finden. In diesem Moment entschieden sie, dass der Fehler in meinem Kopf, der mich zu einem Mord befähigt hatte, behandelt werden sollte. Ich war laut einigen Spezialisten psychisch krank. Ich war nicht wie die anderen Mörder, die hier hingerichtet wurden. Ich war laut ihnen kein böser Mensch, sondern nur ein kaputter Mensch. Für diese selbsternannten Experten ist die Welt nur schwarz und weiß und da sie auf der guten Seite stehen, dürfen sie alles tun was sie möchten.
Die Einweisung in das Zentrum sollte mir helfen und das tat sie zu allem Unglück auch. Sie öffnete mir die Augen. Gerade die gefeierten und erfolgreichen Menschen sind meistens die schlimmsten. Was diese Doktoren dort ihren sogenannten „Patienten" zu Zwecken der Forschung antun, ist schlimm genug, um sie gleich mehrmals zu töten.
Jetzt sitze ich in einer Zelle, beobachtet von einer Kamera, während sich irgendwelche Menschen dort draußen fragen wie ich in so einem jungen Alter zu den Dingen fähig war die ich getan habe. Ihr wollt wissen worüber ich nachdenke und wie ich hier drinnen meine Zeit verbringe? Ich entscheide in diesem Augenblick wen in dieser Einrichtung ich entfernen werde und wer überlebt, sollte ich jemals freikommen.
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