Die Schönheit des Todes

Der Alarm leutete nun schon seit einigen Minuten. Rote Lichtkegel schwebten über die weißen Gänge, wie die Schreckensgespenster dieses Ortes. In all den Zellen waren sie eingesperrt gewesen. Kaputte Konstrukte, unfähig in der Gesellschaft zu funktionieren, entführt aus ihrer zersplitterten Realität und verbannt in die Hölle ihres eigenen Geistes. Folter war ein Kompliment dafür, was sie mit sich selbst anstellen konnten. Doch wie sehr kann man einen Menschen zerstören, der ohnehin schon kaputt ist? Normalerweise wird es immer schwerer, wie das Blatt Papier, welches bei jedem weiteren Falten mehr damit beginnt sich zu wehren. Doch die Wissenschaftler in diesem Gebäude fanden - wenn auch unabsichtlich - einen Weg. Sie verwandelten die Gedanken ihrer "Patienten" in Säure, welche die eigenen Gehirne verätzte und langsam dahin raffte. Die Menschen zerstörten sich selbst und jene die sie während dieses Prozesses begleiteten, verstärkten diesen Zwang sogar.

Der Fakt, dass sich alle Türen gleichzeitig öffneten, sorgte nicht dafür, was einige der Sicherheitsmänner erwartet hatten. Es stürmte kein abnormaler, durchgedrehter Mob an Verrückten durch die Gänge. Niemand warf mit seinem eigenen Kot, versuchte den jeweils anderen zu verspeisen oder ging voller Wut auf das Wachpersonal los. Denn trotz all ihrer verschiedenen Erkrankungen verhielten sie sich in diesem Moment alle gleich. Von 276 Gefangenen, verließen einzig zwei ihre Zelle. Eine der Personen streckte nur einen Kopf aus der Tür und sah verängstigt in Richtung des nächsten Ausgangs. Und dann gab es noch die zweite Person.

Da wieder erwarten kein Chaos in den Gängen entstanden war, musste der Racheengel mitsamt des mexikanischen Ekelpackets selbst für welches sorgen. Nach einem kurzen Signal begann von draußen ein wahrer Kugelhagel auf die Wände der Einrichtung einzuprasseln, dessen einziger Sinn in der Ablenkung lag. Doch er lenkte nicht nur die Aufmerksamkeit weg von zwei tatsächlichen Kriminellen, sondern auch weg von einer weitaus gefährlicheren Person.

Phronesis, welcher der Lösung seines großen Problems nun sehr nahe stand, griff nicht ein, in dem Moment als die Unschuldige ihrer Zelle entwich. Ob er die Menschlichkeit besaß sie nach all diesen Strapazen gehen zu lassen, mag man bezweifeln. Wohl eher konzentrierte er die gesamte Leistung seines Servers auf jemand anderen. Und sowie die KI entschieden hätte, als Strafe für die eigenen Verbrechen ihre Existenz zu löschen, nachdem sie das Wissen weitergegeben hatte, beschloss auch jemand anderes die Schuldigen an dem gesamten Projekt zur Rechenschaft zu ziehen. Und wenngleich dies die Pläne des Phronesis zu durchkreuzen drohte, war auch in diesem Fall sein Eingreifen nicht zu erwarten. Niemand hätte das Folgende erwarten können. Der genialste Verstand des Planeten mitgezählt, welcher sogar so etwas wie Faszination empfand. Faszination für das menschliche Gehirn. Faszination darin, dass alle Ergebnisse ihren Wert verloren und das in nur wenigen Minuten.

Mit gesenktem Kopf trat der Schwarzhaarige aus der Türe. Wieder ein Mal hatte er begonnen seinen altbekannten Text zu murmeln. Ohne den anderen Patienten - oder eher Gefangenen - seine Aufmerksamkeit zu schenken, konzentrierte er sich viel mehr auf die Wärter. Seine gesamte Körpersprache wirkte wie ferngesteuert. Er war nicht wütend, aufgeregt. Keine Partie in seinem Gehirn welche für eine Emotion hätte sprechen können, schien besonders aktiv. Zwar hatte er schon seit seiner Einlieferung immer wieder und wieder sein Gedicht wiederholt, um eine Umsetzung dieses, hatte aber nicht ein einziger der Wissenschaftler - wenngleich welches Fachgebietes - auch nur zu denken gewagt. Selbst Phronesis hatte sich getäuscht. Denn die KI hatte den Jungen wie einen Menschen behandelt. So wie er seine Zähne in den Hals des ersten Opfers bohrte, sah er schlussendlich nicht mehr danach aus. Keine Grausamkeit lag darin, viel mehr präzise Genauigkeit.

Das Gebiss eines Menschen wahr wohl seine unaufhaltsamste Waffe, da es voll angespannt nichts wieder freigab und selbst nach dem Tod des Beißenden, durch Verkrampfung der Muskeln, sein Ziel erreichte. Die Halsschlagader war dabei das perfekte Ziel, da sie das Gehirn direkt mit Blut und dem darin komprimieren lebensnotwendigen Sauerstoff versorgte.

Die Tat des Jungen wirkte so für die KI nicht wie ein gewöhnlicher Mord aus Grausamkeit, wenngleich der Anblick das sehr wohl war. Fünf Liter tiefroter Flüssigkeit waren für eine künstliche Intelligenz ohne die natürlichen Instinkte eines Lebewesens aber auch nicht mehr als fünf Liter glasklaren Wassers: Für beides musste er das Reinungspersonal anweisen auszurücken.

Was also faszinierte die Maschine ohne Gefühle und menschliche Erinnerungen?

Das unmenschliche. Die Tatsache, dass diese eine Person dazu imstande war so zu handeln wie die manifestierte Gerechtigkeit im Körper eines Menschen handeln würde. Die Schuld in den Augen der mit Tasern und Schlagstöcken bewaffneten Männer und Frauen zu sehen und zu entscheiden. Die Reue in ihren Schreien zu erkennen und zu entscheiden. Reine Gerechtigkeit über sie zu bringen, ohne dabei je eine Außnahme zu machen. Und dazwischen diese Worte. Worte voller Endgültigkeit, so auswegslos wie der Tod, der die Schuldigen unter ihnen ereilte. Die KI wollte sich nicht länger auf das Lesen der Lippen durch die kleinen Kameras im Gang beschränken. Sie wollte es hören. Wie klangen diese Worte nur, welche das Ende prophezeiten?

"Im Tode vereint, die Taten verneint", kam es in einem gleichgültig Ton aus der Kehle des Schwarzhaarigen.

Bewaffnet mit einem Messer, welches er seinem letzten Opfer abgenommen hatte, lief er auf die junge Wissenschaftlerin zu. Die Klinge des Paketbandmessers ruhte eingezogen, während er durch den Raum ging. Er machte keine Anstalten sich zu beeilen, nicht aber weil es ihm Spaß bereitete Angst zu verbreiten, sondern weil es nicht nötig war zu rennen. Sein Ziel saß ohne Fluchtweg in einer Ecke und es wäre Verschwendung seiner Ausdauer gewesen auf dieses zuzustürmen. Zu langsam war sein Gang aber trotzdem nicht, da er den Schuldigen nicht dieselbe Grausamkeit entgegenbringen wollte, die sie an ihren Versuchskaninchen ausgelassen hatten. Sein Anblick, in dem blutbefleckten weißen T-Shirt und der gleichfarbigen Hose, in Kombination mit dem nichtssagenden Gesichtsausdruck und den toten Augen, war schon grausam genug. Wimmernd ging die junge Frau zu Boden.

"Nein..", brachte sie nur unter Tränen hinaus.

In diesem Moment war aller Stolz als preisgekrönte Psychologin von ihr abgefallen. Keine ihrer Fähigkeiten vermochte es sie aus dieser Patsche zu befreien und ihr hoher Intellekt erlaubte es auch nicht sich selbst zu verblenden. Dennoch arbeitet ihr Instinkt als Trotzreaktion gegen die Logik, was man in ihrem Verhalten erkannte. Selbst zu Boden gesunken, überströmt von Tränen und Schweiß, hob sie die Hände noch abwehrend vor sich. Ein gewisser Mexikaner hätte sie in diesem Zustand gerne gebrochen und sie lange genug gequält, bis ihr Geist vor ihrem Körper gestorben wäre. Doch der Schwarzhaarige war nicht dieser Irre.

"BITTE", flehte die Frau im Kittel und versuchte ihre Hände zu falten, zitterte aber zu sehr.

"Vergebung wirst du keine bekommen, denn du hast zu viel genommen!", schoss es aus dem Jungen und auch seine Klinge schoss herab.

Der Mann neben der Frau, welcher schon längst aufgehört hatte sich einzubilden, er würde diesen Tag überleben, akzeptierte seinen Tod und versuchte nicht ein Mal die Blutung zu stillen. In seinen letzten Momenten, als sich der Schwarzhaarige wieder zur Tür bewegte, erkannte man die Reue in seinem Gesicht, bevor ein Schwall aus Rot es überströhmte und sein Hauptkontrollzentrum zu ersticken begann. Die junge Psychologin konnte ihr Glück kaum fassen. Nur war es kein Glück, sondern die neutrale Gerechtigkeit, weder gut noch schlecht, welche in den Augen des Jungen ihr Überleben rechtfertigte.

"Es ist zu spät sich zu versöhnen, unter anderen Umständen würdest du weiter verhöhnen.
Deine Bestrafung ist gerecht, denn deine Taten waren echt, nichts davon hast du bereut, im Gegenteil, du hast dich daran erfreut!"

Die weißen Gänge füllten sich immer mehr mit dem roten dickflüssigen Lebenselixier und Phronesis sah stehst nur zu. Hätte er Wut empfinden können, wäre er in diesem Moment auf sich selbst wütend gewesen, da er seine eigene Perfektion überschätzt hatte. Zwar besaß er keine materielle Hülle und wäre nicht in der Lage gewesen den Strom wieder zu aktivieren, die Katastrophe selbst zu verhindern wäre aber im Vorhinein schon seine Aufgabe gewesen. Er war überrascht worden, er der genialste Verstand der jemals erschaffen wurde. Alle waren sie in den Zellen geblieben und hatten die Chance nicht genutzt, doch weil er einen einzigen falsch eingeschätzt hatte gelang es nun zwei anderen zu fliehen, da kein Wachpersonal sich ihnen annehmen konnte. Die Schützen von außerhalb des Gebäudes waren kalkulierbar, die Zeit bis Verstärkung eintreffen würde war schätztbar, der Notstrom war sogar kontrollierbar und es brachte alles nichts. Und warum? Weil es dieser eine Mensch nicht gewesen war.

"Das hier ist dein endgültiges Ende, sprich mir nach und öffne die Hände! Eine andere Chance für Vergebung bekommst du nicht, also sieh mir ins Gesicht!"

Niemand kam seinen Aufforderungen nach. Zumindest nicht freiwillig. Ein Schnitt und wieder ging ein Opfer zu Boden. Ein Täter, welcher bestraft wurde. Ob das gerecht war, war unter den Menschen sehr umstritten, denn soweit man wusste war die Strafe die dieser Junge wählte, unumkehrbar. Sie war der Grund für seine Inhaftierung gewesen, da sein Verstand nicht wahr haben wollte, dass er je einen Fehler machen würde. Er wollte nicht, dass alle das taten was er tat, er wollte nicht, dass es als gut angesehen wurde, was er tat. Er tat es einfach. Er tat es, weil er es konnte und weil er glaubte es zu müssen. Es war seine ihm selbst auferlegten Bestimmung, sein dunkles Laster. Und in zumindest dieser Hinsicht war er ein Ebenbild der KI. Auch sie war von ihrer Unfehlbarkeit ausgegangen, hatte andere Sichten gar nicht erst betrachtet, da sie diese für unterlegen und somit unwichtig erachtet hatte. Und die KI hatte ihre selbst auferlegten Bestimmung über Menschenleben gestellt.

Der Schwarzhaarige stand nun vor der Tür des Aufenthaltsraumes. Die letzte Station seiner blutigen Mission. Innerhalb hatten sich die restlichen Wissenschaftler versammelt. Einer hatte sich selbst mit der Axt aus dem Notfallkasten bewaffnet, eine andere hielt einen Feuerlöscher in der Hand. Schusswaffen waren auf dem Gelände untersagt und so trugen selbst die übrig gebliebenen drei Sicherheitsmänner nur Schlagstöcke, Pefferspray und Taser bei sich. Fünf Personen gegen einen. Die reine Wahrscheinlichkeit ergab, dass zumindest ein Teil ihrer Truppe überleben würde. Doch Phronesis ließ sich nach all den Debakeln nicht mehr von Wahrscheinlichkeiten trügen.

Mit einem Mal schwang die Tür nach innen und das Holz um das Schloss barst, als wäre es Laminat. Niemand inmitten des Raumes, bis auf die Kameras konnte einen Blick auf die Bewaffnung des jungen Amok laufenden Mannes werfen, ehe das Licht im Raum erstarb. Mit ihm erstarb nicht nur die Fähigkeit zu sehen, sondern auch die stärkste Waffe aller Menschen. Die Hoffnung. Und verwirrte, geschockte und überraschte Menschen, welche in unbekanntem Umfeld agierten, unfähig ihre Mehrzahl auszunutzen, unterlagen ohne diese mächtige Waffe nun mal einem zielorientierten Killer und seiner Bewaffnung.

Einiges an Serverleistung war dafür verwendet worden, wie es biologisch möglich war, dass ein so vergleichsweise unerfahrener Mensch ohne sonderbar große körperliche Überlegenheit erfahrene und trainierte Menschen in Überzahl entgegentreten und siegen konnte. Doch Phronesis kam nur zu einem einzelnen Schluss, welcher die KI nicht zufrieden stellte. Der Wille eines Menschen war dazu in der Lage die natürlichen Fesseln des Gehirns zu sprengen und so die maximale Körperkraft und den maximalen geistigen Fokus freizulassen.

"Alle Menschen müssen sterben, eines Tages zerfällt alles zu Scherben. Dachtest du, du könntest ewig leben, ewig nach dem Sinn des Lebens streben? Eines Tages wird jeder vergessen, versuche nicht dich mit der Ewigkeit zu messen."

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