Der Beschluss

Der Abgeordnete sieht noch einmal an sich herab, während er auf die Ankündigung seiner Rede wartet. Alles sitzt perfekt, die Rede hat er die vergangenen zwei Tage ununterbrochen geübt und auch ausnahmsweise selbst geschrieben. Jetzt folgt der Augenblick der Wahrheit. Sein Name fällt, der Mann macht sich bereit.

Mit einem gut gespielten Lächeln betritt er endlich das Podest. Beinahe maschinell legt er das Dokument mit seiner Rede auf das hölzerne Pult und richtete seinen Blick auf das ungeduldig wartende Publikum. Meistens sind die Kongressräume nicht so hoch besetzt, doch zu seiner Rede scheint das halbe Weiße Haus ausgerückt zu sein.

Applaus erfüllt den Raum. Dennoch liegt die Anspannung spürbar in der Luft und legt sich wie ein dicker Teppich über die Gesichter der Zuschauer. Masken der Gleichgültigkeit und der gespielten Freude.

Der Geruch von altem Holz, klinisch reinem Boden und den teuren Düften der anderen Politiker erinnert den Abgeordneten an all die Reden die er schon halten durfte. Doch diese hier ist anders. Diese hier besitzt die Macht alles zu verändern. Lange war der Weg gewesen, der ihn nun hier her brachte. Hier her, das Gesetzt schon fast in Griffweite.

„Am Anfang waren wir alle Mörder", beginnt er seine Rede.

„Wir waren Tiere und wir jagten und wir töteten. Wir mordeten und fühlten uns nicht schlecht dabei. Wir hatten kein Gewissen, niemanden der uns erklärte es wäre falsch, denn das war es nicht. Der normale Verlauf des Lebens, die Regeln der Natur, der Kreislauf unseres Ökosystems. Der Stärkere gewinnt. Der Stärkere erklimmt die Spitze der Nahrungskette und steht über allem anderen. Und so entwickelten wir uns, wuchsen, gingen aufrecht und wurden das klügste Lebewesen unseres Planeten. Wir wanderten in kleinen Gruppen durch die Welt und lernten sie zu verstehen. Wir fertigten die ersten Werkzeuge und Waffen und perfektionierten das Jagen. Das Töten. Am Anfang waren es größtenteils die Tiere die wir erlegten, doch desto mehr unsere Gruppen wuchsen und desto klüger wird wurden, desto öfter töteten wir auch unsere Artgenossen. Wir kämpften um Jagtgebiete, um Territorien. Wir wurden sesshaft und mit der Zeit wieder friedlicher. Die Gruppen wuchsen in diesen ersten kleinen Lagern immer mehr und wir beschränkten uns größtenteils auf die Verteidigung. Wir erfanden die Sprache und lange Zeit später auch die Schrift. Mit der Zeit nahmen die Unterschiedlichkeiten zwischen den Menschen immer mehr zu. Immer öfter wurde die Frage nach dem „warum" gestellt und dank der Sprache hatte jeder die Möglichkeit seine Gedanken darüber zu äußern. Wir erfanden die Kultur, die ersten Religionen. Wir versuchten uns die Welt zu erklären und unser Handeln durch allgemeingültige Gesetze bestimmen zu lassen. Es war die einzige Möglichkeit unsere entstehende Gesellschaft zusammen zu halten. Nur so konnten wir wachsen, nur so konnten wir das Morden rechtfertigen. Denn dazu kam es wieder."

Er macht eine kurze Pause und schaut genau auf das Publikum, sein Publikum, das ihn kritisch mustert. Ist es eine zu lange Einleitung gewesen? Er kann es nicht sagen, denn ihre Augen schweigen genauso wie ihre Münder. Hastig fährt er fort.

„Unser Wachstum und unsere Unterschiede führten unweigerlich zu Konflikten. Doch auch die Emotionalität des Menschen wuchs. Aus Instinkten entwickelten sich Gefühle, die immer größere Auswirkungen auf unser Handeln hatten. Sie waren nicht länger nur dazu da uns zu warnen, sie gaben uns die Fähigkeit ein komplexes System wie Gesellschaft aufzubauen. Nun gab es nicht länger nur Angst und Freude. Eine nähere Bindung zu einander entstand, da wir immer älter wurden und so das Leben eines einzelnen immer größeren Werte bekam, aber auch weil wir uns besser und besser austauschen konnten. Trauer, Liebe wie auch Hass entstanden. Das Recht des Stärkeren wurde immer mehr zurück gedrängt und Diplomatie gewann an Bedeutung. Reiche wuchsen und die fortschrittlichsten unter ihnen eroberten die Welt. Unsere Leben wurden immer luxuriöser und entspannter und wir wurden feinfühliger. Wir begannen uns zu ekeln, auf andere herab zu sehen. Wir versklavten und schlachteten einander, rechtfertigten es mit Religion und gewannen an Macht."

Einige der Zuschauer schluckten deutlich.

„Wir standen schon lange über der Natur, jetzt wollten wir über uns selbst stehen. Trotzdem beruhigte sich irgendwann unser Machthunger. Irgendwann war die gesamte Welt unter der Kontrolle weniger. In vielen Ländern gab es nun Wohlstand und Frieden. Immer noch viel Ungerechtigkeit, doch Kriege wurden nur noch im Kleinen geführt. Wir hatten uns rasant entwickelt und sollten nun eigentlich Herr der Lage sein. Wir sollten dazu in der Lage sein das Morden endlich zu stoppen."

Belehrend hob der Abgeordnete einen Finger.

„In den letzten 100 Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der Weltbevölkerung von 30 bis auf knapp 70 Jahre. In den letzten 70 Jahren verdreifachte sich so die Weltbevölkerung. Unter diesem enormen Bevölkerungsdruck nahm der weltweite Wohlstand aber nicht ab, wie man das hätte erwarten können, sondern er nahm kontinuierlich zu. Und dennoch gibt es heute selbst in den zivilisiertesten Ländern noch Verbrechen. Viele wegen Armut und Geldgier, einige politisch und wenige religiös motivierte. Doch es gibt dennoch eine weitere Art von Verbrechen. Verbrechen aus Leidenschaft, aus Freude, aus unmenschlichem Morddurst. Für uns ist das etwas ganz normales geworden. Wie oft hören wir Meldungen in den Medien über abscheuliche Gräueltaten? Ja, wir sollten deswegen nicht in Angst und Schrecken leben, denn uns geht es mehr als nur gut. Und dennoch gelingt es nicht solche Verbrechen zu verhindern. Politik kann sich stabilisieren, Wohlstand kann für Frieden sorgen und Aufklärung religiöse Konflikte verhindern, doch was ist mit jenen, denen das nicht hilft?"

Er ließ die Frage für einige Augenblicke im Raum stehen.

„Was ist mit den Menschen die schon längst nicht mehr in unsere Gesellschaft passen? Über zwei Millionen Verbrecher gibt es allein in den Gefängnissen der USA dazu geschätzte 9,6 Millionen Amerikaner mit einer ernsten psychischen Krankheit, die dringend behandelt werden müssen. Zählt man das Krankheitsbild schwerer Depressionen hinzu, steigt die Zahl der Kranken sogar auf über 13 Millionen. Und was wird für diese Menschen getan? Werden sie integriert? Werden sie behandelt? Die Antwort ist, dass in etwa 40% der Fälle Straftäter rückfällig werden und erneut im Gefängnis landet. Von den psychisch Kranken werden lediglich rund 35 000 Patienten in staatlichen psychiatrischen Einrichtungen behandelt. Fast zehnmal mehr, psychisch Kranke, sitzen dafür in Gefängnissen oder im Strafvollzug. Mindestens 150 000 lebten immer noch auf der Straße."

Langsam breitet sich ein Funken Betroffenheit in den Masken der Politiker aus. Ob sie es nun heuchelten oder nicht, das hatte gesessen.

„Wir blicken also hiermit auf unsere Geschichte zurück, auf unsere Entwicklung und alles was uns zu dem gemacht hat was wir heute sind. Es ist klar dass es selbst in unserem modernen Gehirn noch zu Störungen kommen kann, die uns dazu verleiten über unser Gewissen hinweg zusetzen, dass über einen so langen Zeitraum entstanden ist. Doch es ist auch genau so klar, dass das verhindert werden kann. Das Morden kann verhindert werden, all der Schrecken unserer heutigen Zeit. Es ist in einer Zeit wie heute vermeidbar, weil der einzige Auslöser in unserem Gehirn liegt und nicht länger in unserer Gesellschaft. Wofür gibt es denn psychiatrische Kliniken, wofür wurden 1850 die Irrenhäuser abgeschafft?„

Im selben Atemzug beantwortete er die Frage selbst.

„Um all diesen Menschen zu helfen. Dem fast einen Prozent das dem Druck unserer Gesellschaft nicht standhält. Dieses eine Prozent enthält die Mörder unserer Zeit. Die Amokläufer und Serienkiller, die Schläger und Rowdys. Dieses eine Prozent wird kriminalisiert und ausgeschlossen. Gründe dafür gibt es viele. Es gibt zu wenige Einrichtungen für all diese, die Betroffenen verweigern ihre Behandlung oder sind nicht dazu in der Lage sie zu erkennen und zu akzeptieren und als wäre das noch nicht genug, so ist die Zwangseinweisungen mit ihren durchaus lobenswerten Absichten so schwierig geworden, das es unmöglich scheint sie durchzusetzen."

Die Stimmung im Raum sinkt auf den absoluten Tiefpunkt, obwohl allen Zuhörern klar ist, was nun kommen wird.

„Zumindest bis heute. Denn Heute Abend, meine Damen und Herren, können wir aus der Geschichte lernen. Heute können wir dieses kaputte System endlich reparieren. Sie haben die Entscheidung, das ein für alle Male zu ändern! Stimmen sie für mehr Frieden, für weniger psychisch Kranke auf den Straßen, für weniger Verbrecher in den überfüllten Gefängnissen und für mehr Frieden in unserem wunderschönen Amerika! Stimmen sie für die Zwangseinweisung!"

Die Menge applaudiert. Einige blicken schlecht gelaunt zum Rednerpult, doch es sind nur die wenigstens. Die breite Masse übertönt ihr mahnendes Schweigen, lässt die Hilferufe ihrer Augen untergehen, in einem Meer aus Zustimmung. Diesmal ist das Lächeln echt, mit dem der Abgeordnete sein Pult verlässt.

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