Was zusammengehört

10. März 1822
Nassau

"Der Pessimist beklagt sich über den Wind; der Optimist erwartet, dass er sich ändert; der Realist passt die Segel an."
~ William Arthur Ward

Die Luft war nass und schwer vom Regen, der in der Nacht über der Insel niedergegangen war. Die warme Feuchte war überall. Im Holz des Schiffes, in den Laken des zerwühlten Bettes, in den sich kräuselnden Locken Annes, die ihr nach ihrem morgendlichen Austausch von Zärtlichkeiten anschmiegsam an der Stirn klebten.

Er sah ihr dabei zu, wie sie ihr Hemd über den Kopf zog und die weiße Baumwolle ihre wohlgeformten Rundungen verhüllte. Auch wenn sie das Benutzen ihres Arms noch immer schmerzte, erhielten ihre Bewegungen langsam aber sicher ihre alte Geschmeidigkeit und Anmut zurück.

Er kleidete sich ebenfalls an und folgte ihr hinaus in die Kajüte, in der Desna und Read sich bereits mit einer Tasse Kaffee über einen Stapel Bananenpfannkuchen hermachten, die das indische Mädchen ihnen mitgebracht hatte. Das neblige Licht des Sonnenaufgangs fiel durch die achterlichen Fenster und erhellte ihr gemeinsames Frühstück.

Neun verfluchte Tage.
Neun beschissen lange Nächte, in denen sie nichts und wieder nichts herausgefunden hatten. Nicht mal die Andeutung einer Spur. Als wäre Blackbeards Auftrag tatsächlich nur einem Hirngespinst entsprungen oder eine Manifestation seines paranoiden Wahnsinns gewesen.

Gemächlich fanden sich Asbury und Jaspal bei ihnen ein und zu guter Letzt stolperte auch Ben mit geröteten Augen und einem langgezogenem Gähnen durch die geöffnete Tür.

Jack nahm einen Schluck von seinem Kaffee und massierte sich die Nasenwurzel. Er hatte ein paar Ideen, die er vorbringen wollte, sollte die vergangene Nacht ähnlich erfolglos gewesen sein. Ein paar weitere Huren, die er bestechen konnte, andere Tavernen, die es zu observieren galt.

Er wollte bereits anfangen, als sich der Eingang zu seiner Kajüte plötzlich verdunkelte und Jonahs breite Gestalt im Türrahmen erschien. Ein breites Lächeln lag auf seinen Zügen, das seine weißen Zähne hervorhob, während er über die Schwelle trat und sich den speckigen Dreispitz von Kopf nahm.

Jack registrierte am Rande, dass dessen Kleidung dampfte, ganz so als wäre er den ganzen regnerischen Morgen über durch Nassaus Straßen gelaufen. Womöglich hatte er etwas herausgefunden.

Scheinbar gelassen schob Jack sein Geschirr zusammen, begann damit eine Zigarette zu drehen und räusperte sich, um sich die Aufmerksamkeit aller zu sichern. "Irgendwelche neuen Erkenntnisse in der letzten Nacht?", fragte er. Wie jeden erfolglosen Morgen. "Irgendjemand, der anfangen möchte?"

„Aye." Jacks verschlafener Blick richtete sich auf Winston. Hatte er sich verhört, oder hatte der Kanoniermeister gerade tatsächlich mit einem Ja geantwortet?

Er hob interessiert die Augenbrauen. "Dann lassen Sie uns nicht länger warten, Mr. Asbury."

„Jaspal, Desna und ich haben etwas Vielversprechendes aufgeschnappt. Während wir eine Runde Karten spielten, konnten wir hören, wie sich zwei Männer am Nebentisch über etwas verdächtig Klingendes unterhalten haben. Es ging um ein Treffen in einer abgelegenen Höhle in den Klippen. Zwar fiel kein Wort über Spionage oder gar über die Marine, aber dass sich irgendwer an so einem Ort verabredet, ist doch wirklich nichts Gewöhnliches."

Jack blies den Rauch in die Luft. "Ich stimme Ihnen zu. Irgendwelche weiteren Details, die uns helfen könnten? Ein Datum? Eine Uhrzeit?"

Die zarte Stimme von Desna tänzelte wie eine laue Sommerbrise durch den Raum. Kaum wahrnehmbar. „Ja." Schon in diesem einen Wort war der stark ausgeprägte indische Akzent noch immer zu hören. „In drei Tagen, kurz vor Mitternacht."

"Aye. Dieses Detail macht die Information tatsächlich um einiges vielversprechender", warf Ben freudig mit vollem Mund ein. Reads tadelnden Blick quittierte er mit einem unschuldigen "Was?". (Kursiv)

„Aber wir wissen nicht, in welcher Richtung diese Höhle liegen soll", warf Jaspal ein und schenkte seiner Schwester ein warmes Lächeln. „Wir sollten die drei Tage, die uns bleiben, dazu nutzen, um die Klippen abzufahren und auszukundschaften, welche Höhlen für ein solches Treffen als geeignet erscheinen."

"Sehr guter Einwand." Jack nickte. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sich Stolz in seiner Brust ausbreitete. Das seltsame Geflecht, das sich fast vollkommen hierarchielos in seiner Kajüte zusammengefunden hatte, sobald die Tür nach außen geschlossen war und sowohl aus Männern als auch Frauen bestand, funktionierte reibungslos. Bis auf Ben vielleicht.
Aber allen der hier versammelten Crewmitgliedern würde er im Gegensatz zu Blackbeard sein Leben anvertrauen.

Nicht, weil er über Druckmittel verfügte. Sondern weil er in ihre Treue und Loyalität vertraute, die auf Aufrichtigkeit beruhte.

Seine Aufmerksamkeit legte sich auf Jonah, der vergnügt mit seiner Tasse Kaffee in der Hand dastand. Als der Steuermann seinen Blick auffing, nickte dieser zustimmend. Die Kälte, die sonst die Aura seines blauen Auges umhüllte, schien heute einer ganz und gar lebendigen Weichheit gewichen zu sein.

"Wir sind nicht in Eile. Aber wir sollten auch keine Zeit verlieren. Gibt es Einwände, in drei Stunden klar zum Ablegen zu sein?", fragte Jack.

„Sollte funktionieren", erwiderte Winston und nickte ihm zu.

"Aye!", rief auch Ben und Jaspal und Desna schlossen sich seiner Zustimmung an. Doch als Jacks Blick weiter glitt, bemerkte er, wie das breite Lächeln auf Jonahs Zügen langsam aber sicher erstarb. Sein Steuermann blieb stumm.

Read erhob die Stimme.
"Ich hatte diesen Morgen auserwählt, um mich in der Stadt erneut nach einem Schmerzmittel umzusehen", warf sie ein. "Es gibt ... Besatzungsmitglieder, denen der Schmerz nicht länger vorhandener Gliedmaßen die Sinne raubt." Sie presste die Lippen zusammen. "Wenn wir zwei Wochen auf See verbringen, sollte uns das Opium nicht ausgehen."

Es gelang Jack nicht, ein finsteres Lächeln zu unterdrücken. "Sehr gut, dass Sie das ansprechen, Miss Read. Ich habe einen weiteren Auftrag für Sie, was diese Problematik anbelangt. Schenken Sie mir im Anschluss fünf Minuten Ihrer Zeit."

Annes fragenden Gesichtsausdruck ignorierte er geflissentlich und einen Atemzug später gelang es ihm auch das ungeduldige Trommeln ihrer Fingerspitzen auf ihrer Kaffeetasse auszublenden.

Er wandte sich wieder an die Gesamtheit des inneren Kreises.
"Wenn es keine weiteren Fragen gibt, schicke ich euch hiermit auf eure Posten. Klar machen zum Ablegen!"

Mit diesen Worten begann er einen nach dem anderen aus seiner Kajüte zu scheuchen. Alle bis auf Read. Sogar Anne begab sich ohne weitere Einwände an Jaspals und Desnas Seite hinaus an Deck, um ihm die Privatsphäre zu gewähren, nach der er sie in einem stummen Blick gefragt hatte. Bei den Göttern, er liebte das blinde Vertrauen, mit dem die Götter ihre Verbindung gesegnet hatten.

Read stellte sich ihm fragend entgegen, als er die Tür hinter Jonah schloss.

"Worum geht es?", fragte sie tonlos. "Cherleton?"

Jack nickte abermals, legte seine Fingerspitzen aneinander.
"Aye. Natürlich Cherleton. Es geht immer um diesen verdammten Quartiermeister." Er machte eine Pause, um die Verachtung und Abscheu aus seiner Stimme zu verbannen und seinen Worten einen neutralen Ton zu geben. "Informieren Sie mich über den neusten Stand unseres gemeinsamen Sorgenkindes."

Sie seufzte, rieb sich mit der Hand über den verschwitzten Nacken.
"Für gewöhnlich klingen nicht nur die Schmerzen der Wunde nach ein paar Tagen ab, sondern auch die Überreizung der durchtrennten Nerven, die den Phantomschmerz hervorruft, lässt irgendwann nach. In den ersten Wochen lassen sich die Symptome gut mit Opium behandeln. Massagen helfen zusätzlich, wie ich bei ihrem Maat bereits unter Beweis stellen konnte", erinnerte sie ihn an ihren Behandlungserfolg, den sie Ben nach seiner Verletzung hatte angedeihen lassen.

Dann machte sie ein unzufriedenes Geräusch.
"Aber Cherleton, er ... Nachts erwacht er schreiend und schweißgebadet. Die Schmerzen sind so stark, dass er erbrechen muss. Er kann kaum Laufen, ohne dass Schwindel ihn plagt. Ich sehe keine Chance, dass er innerhalb der nächsten Wochen wieder auf seinem Posten einsatzfähig sein wird. Er weckt mich jede Stunde aus dem Schlaf, wenn ich ihn nicht vollkommen unter Medikamenteneinfluss setze." Sie unterdrückte ein Gähnen. "Aber langsam beginnt er eine gewisse Toleranz für das Opium zu entwickeln."

Jack hatte ihre Sorgen schweigend mitangehört. Es gelang ihm nicht ein Zucken seines Mundwinkels zu unterdrücken.
"Ich verstehe Ihre Probleme." Er erhob sich und begab sich zu seinem Schreibtisch, wo er eine der Schubladen mit einem verborgenen Schlüssel aufschloss. Er holte das Fläschchen mit der purpurnen Flüssigkeit heraus und schüttelte es kurz. Einige Farbpartikel, die sich als Sediment abgesetzt hatten, wirbelten durch das Glas.

"Vor ein paar Tagen fand ich mich durch Zufall in einer sehr zweifelhaften Niederlassung voller Pflanzen und Amphibien ein", berichtete er. "Die Inhaberin gab mir das hier und versicherte mir, es sei besser als Opium oder Laudanum. Ich will, dass Sie es an Cherleton ausprobieren."
Er hielt es ihr entgegen.

Mary erbleichte. „Ich werde keinen meiner Patienten als Versuchsobjekt missbrauchen", entfuhr es ihr entrüstet.

Jack lächelte. "Doch, Miss Read. Das werden Sie. Ich werde Ihnen keinen anderen Kandidaten zur Verfügung stellen. Und Sie sagen selbst, dass das Opium bei Mr. Cherleton allmählich in seiner Wirkung nachlässt. Sie müssen Gedanken über Alternativen zulassen."

"Nein, Jack!"
"Doch!"
"Nein! Ich werde nicht entgegen des hippokratischen Eides handeln! Ich werde Cherletons Würde und Autonomie nicht untergraben."

Es gelang ihm nicht ein genervtes Augenrollen zu unterdrücken.
"Was auch immer." Er machte eine wegwischende Handbewegung. "Dann verkaufen Sie dem Mann das Mittel eben vorher als Alternative. Wenn er einer Behandlung zustimmt, haben Sie freie Bahn. Und Sie haben jetzt noch ganze drei Stunden Zeit, um den Laden aufzusuchen und sich von der Inhaberin über etwaige Nebenwirkungen informieren zu lassen!"

Erneut hob er die Hand, um ihr das Fläschchen entgegenzuhalten.
"Stellen Sie sich vor, eine ganze Nacht lang durchzuschlafen, ohne von seinen Schreien und seinem Stöhnen geweckt zu werden. Endlich die Ruhe zu finden, um sich von ihrer harten Arbeit am Tage erholen zu können. Geruhsame Nächte stehen Ihnen zu, Miss Read. So wie uns allen."

Er sah zu, wie ihr Widerstand bröckelte und schließlich in sich zusammenfiel. Dann griff sie nach dem Fläschchen.

***

Es wunderte Jack nicht, Jonah vor seiner Tür wartend vorzufinden, nachdem er Mary Read mit ihrem Auftrag und einer Dosierungsanweisung davon gescheucht hatte. Wortlos betrat sein Freund abermals seine Kajüte und ließ sich gemächlich auf einem der bequemen Stühle nieder, ehe Jack ihm sein Drehzeug anbot.

"Was an dem Plan steht entgegen einer deiner Vorahnungen?", fragte er schließlich gerade heraus, nachdem er Jonah eine Packung Streichhölzer zugeschoben hatte.

Der Steuermann ließ sich Zeit mit seiner Antwort, entzündete gemächlich seine Zigarette. „Weißt du Jack ...", begann er, während der blaue Rauch sich zur Decke empor kringelte. "Du befindest dich genau auf dem Weg, der für dich vorgesehen ist."

Jack kniff die Augen zusammen. Er glaubte ihm nicht. „Wohin ist dann die strahlende Sonne verschwunden, die dir aus allen Körperöffnungen geschienen hat, als du vorhin diesen Raum betreten hast?"

Jonah atmete tief und geräuschvoll ein und wieder aus. „Es dreht sich nicht immer alles nur um dich, Jack!"

Jack wollte den Mund öffnen und zu einer erbosten Antwort ansetzen, als die gesamte Wahrheit von Jonahs Worten zu ihm durchdrang. „Um wen geht es dann?"

Der Blick seines Freundes bohrte sich schmerzhaft in sein Hirn und er senkte die Lider. „Es gibt vorerst keine Bedrohung in Nassau, derer du und die Crew nicht gewachsen seid", drang seine Stimme an sein Ohr. "Keine, die ich sehen kann. Das Monster schlummert."

"Zählst du dich nicht länger zu der Crew, Jonah?", fragte Jack mit steigender Nervosität. "Was ist mit Bedrohungen dir gegenüber?"

Als er aufsah, wurde er des Kopfschüttelns seines Freundes gewahr. "Es geht auch nicht um mich."

"Um wen dann?"

Ein erheitertes Geräusch, das entfernt an ein bitteres Lachen erinnerte, stahl sich über Jonahs Lippen. "Ich spreche mit meinem Freund, nicht mit meinem Käpt'n?"

„Aye!"

"Diamond ist hier. Und sie hat ein Kind mitgebracht. Unser gemeinsames Kind."
Mit einem Mal sah Jack Tränen in den Augenwinkeln seines Freundes schimmern.

Er wollte den Mund öffnen, um zu fragen, wie er sich sicher sein konnte, der Vater des Kindes einer Hure zu sein, doch er schloss seine Lippen, ohne einen Ton hervorgebracht zu haben. "Willst du sie mitnehmen?", fragte er stattdessen. Die Hoffnung im Blick seines Freundes traf ihn mitten ins Herz. "Es befinden sich bereits drei Frauen an Bord. Auf eine mehr oder weniger kommt es nicht an", meinte er schulterzuckend.

Jonah schien zu überlegen. Sein Blick glitt ins Leere. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. "Nein. Das wird sie nicht wollen. Das Kind. Ocean. Es ist ein Mädchen. Sie ist so klein. Keine zwei Monate auf der Welt."

Jack lächelte. Plötzlich fuhr ein neidvoller Stich in seine Brust, als er sich des Gefühls erinnerte, das ihn selbst durchflutet hatte. Die Vorstellung, Anne sein Kind in den Armen halten zu sehen. Er schob den Gedanken beiseite. Es brachte nichts, sich nach Möglichkeiten zu sehnen, die er nicht hatte.
"Du musst ein verdammt glücklicher Mann sein."

Ein tiefes Lachen formte sich in der Brust seines Freundes. "Aye, Jack. Das bin ich wohl."

"Du kannst auch hier bleiben, wenn du es willst. Ihr habt Flitterwochen, die ihr nachholen müsst", schlug er vor.

Jonah rieb sich mit der Hand über das Gesicht, als würde er diesen Vorschlag tatsächlich in Erwägung ziehen. Dann runzelte er die Stirn.
"Du hast etwas anderes dafür im Sinn", stellte er fest. "Etwas, das ich für dich tun soll, bevor du mich aus deinen Diensten entlässt."

"Etwas, zu dem du auch Nein sagen kannst. Es ist kein Handel. Nur eine Bitte."

Er war sich fast sicher, dass Jonah nur nachfragte, um sicherzugehen. "Worum geht es?"

"Die Kette. Annes Kette. Ich will, dass du sie dir nochmal ansiehst. Du hast von einem Fluch gesprochen, als ich sie das erste Mal in den Händen gehalten habe. Und vor ein paar Tagen kam es zu einem Vorfall, der mich daran erinnert hat."

Es wunderte ihn nicht, Jonah eben jene Worte sprechen zu hören, die Anne benutzt hatte, obwohl jener nicht eine einzige Chance gehabt hatte, diese mitangehört zu haben.
„Was zusammengehört, findet immer wieder den Weg zueinander."

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