Von Sinnen I

11. März 1822
Auf dem Meer vor Nassau

„Allein besitzen zu wollen, ist äußerster Wahnsinn."
~ Marcus Tullius Cicero

Tief atmete sie den salzigen Geruch des Meeres ein, während sie an der Reling stand und den sanften Wellengang beobachtete. Noch gestern hatten sie den Hafen Nassaus verlassen und waren aufgebrochen, um sich nach den Höhlen umzusehen, die sich als Treffpunkt für die Spione nutzen ließen.

Die meisten, die ihnen bisher auf ihrer Suche aufgefallen waren, hatten sich als wenig vielversprechend erwiesen. Mal waren sie zu weit oben in den Klippen gelegen, mal zu schmal, sodass kein Mann sich durch die Öffnung zwängen konnte, oder sie besaßen keinen Zugang über den Strand, sondern grenzten direkt ans Wasser.
Aber sie würden die Richtige finden. Anne war davon überzeugt. Ihnen blieben noch zwei Tage und ihre Crew war mit Spähern gesegnet, die bessere Augen als ein Adler besaßen. Solche wie Jaspal zum Beispiel. Damals, als sie ihn und Desna in Bombay auf das Schiff geschmuggelt hatte, hatte er Jack, ihr und allen anderen versichert, dass es keinen lebenden Menschen gab, der diesen Posten besser besetzen konnte als er. Und er hatte damit nicht gelogen. So manches Mal hatte er sein Können bereits unter Beweis gestellt, Schiffe dann erkannt, wenn sie noch etliche Seemeilen weit von der Searose entfernt über die Wellen gedümpelt waren.  

Schritte, die sich ihr in beachtlichem Tempo näherten, ließen sie ihre Hände vom Schanzkleid nehmen und sich umdrehen. Mit einem freudigen Lächeln erwartete sie Jack entgegenzusehen, doch es war Samuel, der da auf sie zukam.

Etwas an der Art, wie er sie musterte, kam ihr sogleich seltsam vor. Er hielt nicht an, kam näher und näher. So nah, dass sie zurückweichen musste, bis sich das Holz der Reling gegen ihre Hüften drückte.

„Ich halte es nicht länger aus. Ich werde wahnsinnig. Wahnsinnig, wahnsinnig, wahnsinnig", murmelte er. Anne hatte den Eindruck, dass diese Worte ihm selbst und nicht ihr galten.

War er wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt? Schreiend, weil er sich einbildete Schmerzen in den fehlenden Gliedmaßen zu spüren? Mary hatte ihr erzählt, dass er dann häufig Anzeichen von Verwirrung zeigte.

Aber als sie ihm in die hellblauen Augen sah, da erkannte sie einen trüben Schleier, der sich über sie gelegt hatte. Das Opium? Aber hatte Read nicht erwähnt, es würde langsam an Wirkung verlieren, weil er eine Resistenz aufbaute?

„Sam", sagte sie in leisem, ruhigen Ton seinen Namen und legte ihm die Hände an die Schultern. „Besser, du legst dich wieder hin. Du scheinst nicht ganz bei Sinnen zu sein."

Einen Moment lang sah er sie so ernst an, fast schon finster, dass ihr mulmig zumute wurde. Aber dann fing er an zu kichern. Das Kichern schwoll zu einem unüberhörbaren Lachanfall an, der erst nach einer guten halben Minute wieder abebbte. „Nein. Nein, Anne. Ich war noch niemals so klar im Kopf. Noch nie habe ich so deutlich vor mir gesehen, was ich will und ... da ist so eine Stimme in mir, die mir sagt, dass es Zeit wird, dass ich es mir nehme."

Viel zu grob packte er ihre beiden Unterarme und hielt sie fest. Sie keuchte vor Schmerzen auf. „Samuel, lass mich los! Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?", schrie sie ihn an und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.

Seine Fingernägel gruben sich in ihre Haut, als er ihn zusätzlich verfestigte. „Anne, ich kann mich nicht länger dagegen wehren. Ich kann nicht länger ..." Er sprach nicht zu Ende, stattdessen presste er ihr seine Lippen auf.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Es war genug! In einer flüssigen Bewegung schnellte ihr Knie nach oben und traf ihn an seiner empfindlichsten Stelle.

Brüllend ließ er von ihr ab, fasste sich in den Schritt und krümmte sich, wie ein alter Mann, dem man den Gehstock abgenommen hatte.

Mit vor Nervosität beschleunigtem Atmen beobachtete sie ihn dabei. „Egal was Mary dir verabreicht hat, es ..."

Weiter kam sie nicht. Erschrocken musste sie mit ansehen, wie Jack Samuel an den Schultern noch weiter zurück riss.
Sein Blick war so dunkel, dass sie die Nacht in seinen Augen aufziehen sehen konnte.
"Cherleton! Wer zum Henker glauben Sie zu sein?"

Nur langsam richtete Samuel sich wieder zu seiner vollen Größe auf. Er musste Jack mehrmals anblinzeln, bis ihm offenbar bewusst wurde, wen er da vor sich hatte. „Ah, der Käpt'n! Der Herzensbrecher! Der größte Scheißkerl auf der ganzen Welt! Wie schön, dass Sie zu uns stoßen!" Samuels Tonfall troff nur so vor Sarkasmus und sein Grinsen erinnerte Anne an Blackbeards, das vom Irrsinn gezeichnet gewesen war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Was war nur los mit ihm? Sie erkannte ihn gar nicht wieder.

Jacks Griff um Sams Kragen festigte sich. Anne bedachte die ganze Szenerie mit gemischten Gefühlen. Dabei biss sie sich auf die Unterlippe, die wegen Sams Kuss noch immer in Flammen stand. Sie kam nicht umhin zu bemerken, wie die Mundwinkel ihres Käpt'n zu zucken begannen. Als würde ihn diese Situation aus irgendeinem makaberen Grund amüsieren. "Nicht ich bin der Herzensbrecher, Cherleton!", spuckte er dem Quartiermeister entgegen.

Mehr und mehr Männer wurden von dem Gebrüll angelockt. Da es gerade nicht viel zu tun gab, die Searose artig ihren Kurs hielt, ohne dass es irgendwelchem Zutun bedurfte, nahmen es sich einige sogar heraus, sich in einer Art Halbkreis um die Streithähne zu versammeln.

„Ich erinnere mich recht, dass du ihr wehgetan hast, als sie dir nicht gab, was du wolltest! Da kam sie mit blauen Flecken an den Handgelenken in die Küche zurück! Und jetzt nimm deine dreckigen Finger von mir!", zischte Sam zur Antwort.

Anne schluckte. So oft hatte sie versucht ihm zu erklären, dass Jack ihr damals keine Gewalt angetan hatte, dass die blauen Flecken von einer harmlosen Auseinandersetzung zwischen ihr und Jack herrührten. Und jetzt? Jetzt stellte er Jack vor versammelter Mannschaft auf eine Stufe mit Sully. „Sam, du weißt, dass es nicht so gewesen ist. Ich habe es dir ..."

„Du sagst, dass es nicht so war. Aber ich bin mir sicher, du nimmst ihn nur in Schutz! Verdammt, du bedeutest ihm so viel wie das brackige Wasser im Kielraum! Gar nichts! Sonst hätte er nicht abgedrückt, als er auf dich gezielt hat!"

Alle hielten den Atem an und richteten ihre Blicke auf Jack. Weder er noch Anne hatten irgendjemandem davon erzählt. Dass keiner davon wusste, hätte auch so bleiben sollen.

"Aye..." Ein unbeeindrucktes Lächeln hatte sich auf Jacks Lippen geschlichen. "Und als Nächstes behaupten Sie, unser Kaperbrief wäre eine Fälschung."
Er ließ ein abfälliges Lachen folgen, in das der ein oder andere Mann an Deck mit einstimmte. "Sie halluzinieren, Cherleton. Ich weiß nicht, was Sie sich in Nassau haben andrehen lassen oder ob Ihnen das Opium nicht bekommt. Aber Sie werden damit aufhören Lügen über mich und meine Besatzung zu verbreiten. Und Sie werden aufhören über Dinge zu sprechen, von denen Sie nichts verstehen." Ihre Nasenspitzen waren sich so nahe, dass sie sich beinahe berührten.

Samuel zuckte nicht einmal mit der Wimper. Standhaft erwiderte er Jacks Blick.
Was war nur in ihn gefahren? Unmöglich konnte dieses ungewöhnliche Verhalten nur vom Opium hervorgerufen worden sein. Er wirkte bei Weitem nicht so benommen wie die Huren in Ratnagiri, aber sie glaubte sich an einen ähnlichen Schleier zu erinnern, der deren Augen bedeckt hatte. Was ließ ihn so halluzinieren?
Bei den Göttern, welchen Trunk hatte Mary ihm verabreicht, in der Hoffnung, es würde die nicht vorhandenen Schmerzen verschwinden lassen? Zugeben, die Hand hielt er in diesem Moment, als würde sie ihn gar nicht mehr kümmern. Aber sein Verstand ...

„Ich sage nichts als die Wahrheit und irgendwann werden es alle erkennen. Dass ihr Käpt'n ein Nichtsnutz ist, der nur auf sein eigenes Wohl bedacht ist. Dass ihr Käpt'n lügt, lügt und noch mehr lügt."

Es war nur eine Frage der Zeit, bis er Jack zum Explodieren bringen würde. Was sollte Anne dann tun? Dazwischen gehen?

Samuel wandte Anne das Gesicht zu. Da konnte sie die trübe Nebelwand wieder erkennen, aber sie konnte auch den Kummer sehen, der ihn schon viel zu lange zerfraß. Ihretwegen. „Und du wirst es auch irgendwann feststellen! Dass du einen Fehler begangen hast, ihn mir vorzuziehen! Ich hätte dich auf Händen getragen, aber er stößt dich irgendwann über die Reling! Oder er ..." Er richtete den Fokus wieder auf Jack. „ ... erschießt dich doch noch. Dann, wenn du es nicht erwartest. Weil er ein treuloses Schwein ist. Weil er dich nicht liebt, dich niemals so lieben könnte, wie ich dich liebe!"

Etwas in Anne krümmte sich vor Schmerzen. War es ihr Herz? Die Schuldgefühle, die sein jämmerlicher Anblick in ihr auslösten?

Gebannt sah sie dabei zu, wie Jacks überhebliches Lächeln mit jedem Wort, das Sam sprach, zunehmend erstarb. Als er die Stimme erhob, glich sie einem unheilvollen Flüstern. "Sie haben Recht. Das könnte ich nicht", gab er leise zu. "Ihre Liebe sucht ihresgleichen. Oder ... Ist es vielleicht doch eher etwas anderes? Etwas ganz und gar Größeres?"

Er legte einen Finger an sein Kinn, als müsste er überlegen. "Die Art von Liebe, in der man sein Gegenüber zwingt die Tarnung aufzugeben. In einem Moment, der auch ein Todesurteil hätte sein können?"

Kurz hielt er inne. "Die Art von Liebe, die jemanden umgarnt, bis Sie zum Ziel gekommen sind, nur um sie dann fallen zu lassen?" 
Ihm entfuhr ein abfälliges Lachen. "Nennen Sie so etwas Liebe? Oder handelt es sich doch vielleicht eher um eine Art feiger Besessenheit?"

Er schüttelte den Kopf, wie um sich selbst zu widersprechen.  "Nein, Mr. Cherleton. Ich glaube, Sie sind ein Opfer von simplem Neid geworden."

Als würde die Bedeutung von Jacks Worten gar nicht wirklich zu ihm durchringen, legte Samuel in spielerischer Geste den Kopf schief. „Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe, Käpt'n?"

„Was?"

Vor Überraschung weiteten sich Annes Augen zum zweiten Mal an diesem Tag. Im selben Atemzug hob sie die Hand vor den Mund, als Samuel Jack die Lippen aufpresste.
Doch nur für eine Sekunde. Jack riss den Kopf des Quartiermeisters grob an dessen Haaren von sich weg.
"Was zur Hölle stimmt nicht mit Ihnen?!", fragte er so laut, dass ihnen nun auch die letzten aller Besatzungsmitglieder ihre Aufmerksamkeit schenkten.

In der Stille, die sich an Deck ausbreite, hätte man eine Stecknadel auf den Planken aufkommen hören können. Aufgebracht spuckte Jack vor Sam auf den Boden.

Dieser wischte sich lachend über den Mund. „Dachte ich's mir doch. Sie zu küssen ist wie einem Fisch die Lippen aufzudrücken. Ekelhaft."

Ein paar der umstehenden Männer kamen nicht umhin, daraufhin in Gelächter auszubrechen.
Aber nur bis Samuel damit begann Eigengespräche zu führen. Mit gesenkter Stimme murmelte er: „Aber das erklärt noch viel weniger ... das ergibt keinen Sinn ... warum ... Anne ist ..." Nur die Hälfte seines Gebrabbels war tatsächlich verständlich.

Bevor die Sache erneut ausufern konnte eilte sich Anne an seine Seite zu kommen und ihm sacht die Arme auf die Schultern zu legen. „Komm schon. Ich bringe dich jetzt zurück zu Mary."

Sam bedachte sie mit einem undeutbarem Blick, bevor er nickte.

Getuschel und leises Gelächter machte sich unter den umstehenden Männern breit. „Was glotzt ihr überhaupt so blöd? Habt ihr nichts zu tun?", knurrte Anne sie an, woraufhin sich einige von ihnen davon scherten, aber nicht alle.

Bevor sie Samuel nach unten brachte, wandte sie sich noch einmal Jack zu. „Danke, dass du ihn nicht geschlagen hast", flüsterte sie ihm zu. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich werde mit Read darüber sprechen, was sie ihm verabreicht hat."

Da Samuel gefährlich neben ihr schwankte, wartete sie keine Antwort ab. In ihrem Rücken hörte sie, wie Jack einige Befehle erteilte und ihr daraufhin die Schritte des breit gebauten Niederländers Mr. Janssens folgten. Sie verdrehte nur die Augen. Als ob Samuel jemals wirklich zu einer Gefahr werden konnte.

***

Noch eine Weile lehnte sie im Rahmen der Tür zur Arztkajüte, nachdem Samuel in einen ruhigen Schlaf geglitten war.

Den Wachhund namens Bram hatte sie fortgeschickt, sobald sie bei Mary angekommen waren. Sie brauchte keinen gottverfluchten Aufpasser. Jack sollte es besser wissen.
Abstand haltend hatte sie Read anschließend dabei beobachtet, wie sie Sam etwas verabreicht hatte. Etwas, das seine Nerven beruhigen sollte und seinen Dienst auch getan hatte.

Er tat Anne leid. Nicht nur wegen der fehlenden Finger und dem Phantomschmerz, der nicht aufhören wollte ihn zu plagen. Auch wegen seines gebrochenen Herzens.

Schwer seufzend wandte sie sich schließlich ab und begab sich auf direktem Weg in Marys Arbeitszimmer. Sie klopfte erst gar nicht an bevor sie eintrat und auch auf eine Begrüßung verzichtete sie. „Was hast du ihm gegeben?"
Es existierte nur diese eine logische Schlussfolgerung auf Sams irrsinniges Verhalten.

Die Ärztin zuckte zusammen, als Anne sich ihr so unverhohlen näherte, warf ihr allerdings lediglich einen Blick über die Schulter zu, ehe sie sich wieder ihrer Aufgabe widmete gläserne Flaschen und Behältnisse von Staub zu befreien. "Eine Tinktur aus Baldrian und Opium", erklärte sie leise. "Es lässt ihn jetzt schlafen. Für ein oder zwei Stunden vielleicht." Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Ich verfluche die bevorstehende Nacht schon in dieser Sekunde. Wenn er jetzt schläft, wird es ihm dann umso schwerer fallen zur Ruhe zu kommen."

„Davon spreche ich nicht. Ich will wissen, was du ihm zuvor gegeben hast."
Wollte Mary sie zum Narren halten? Anne begab sich an ihre Seite, verschränkte die Arme vor der Brust, um die Ärztin daran zu hindern ihre Frage weiterhin zu ignorieren.

"Eine Alternative." Mary sah nicht auf, während sie weitersprach. "Es ist immer einen Versuch wert. Opium vergiftet den Körper und macht abhängiger als Alkohol oder Tabak. Samuel braucht bereits so hohe Dosen, dass ich bezweifle ..." Sie brach mitten im Satz ab und hielt in ihrer Bewegung inne. Und obwohl sie Anne nicht ansah, erkannte sie die Sorge in ihren Augen. "Ich habe vielleicht die Dosierung der Substanz falsch gewählt. Vielleicht habe ich ihm zu viel gegeben", überlegte sie leise, mehr an sich selbst gewandt, als an Anne.

„Weshalb siehst du mich nicht an? Mary, ich merke, dass du mir etwas verschweigst!" Anne griff nach ihrem Handgelenk, um sie davon abzuhalten, die Flaschen und Gläser weiter zu entstauben. „Was war das für eine Substanz und wo, bei allen verlassenen Geistern, hast du sie her, dass du dich nicht einmal mit der richtigen Dosierung auskennst?"

Mary seufzte. Als sie den Blick auf sie richtete, brannte das Grün ihrer Augen vor Frustration.
"Jack hat es mir gegeben. Ich weiß nicht genau, worum es sich handelt", gab sie schließlich zu. Ohne ihr Raum zum Antworten zu geben, fuhr sie fort. "Anne, ich weiß, dass du dich um Samuel sorgst, aber ich werde nichts unversucht lassen. Es hat ihm geholfen. Er hat seine Hand benutzt und bewegt, ohne mit der Wimper zu zucken, ehe er völlig von Sinnen an Deck gestürmt ist."

Nur ein einziges Wort schaffte es in Annes Bewusstsein vorzudringen. „Jack?"

Aber natürlich. Jetzt ergab alles einen Sinn. Die Dinge, die er bei der Besprechung am Tag zuvor zu Mary gesagt hatte, nachdem diese Samuels Zustand zur Sprache gebracht hatte.
Das merkwürdige Zucken seiner Mundwinkel, als müsste er seine Erheiterung verbergen und dass er darauf verzichtet hatte, ihm eine zu verpassen. Obwohl sein Verhalten alles andere als akzeptabel gewesen war.

Anne spürte die Wut, die sich in ihrem Inneren zusammenballte. Gleichzeitig formten ihre Hände Fäuste. „Du wirst Samuel dieses Teufelszeug kein weiteres Mal einflößen, hörst du? Ganz gleich, ob dir deine Möglichkeiten ausgehen!"

Mary runzelte die Stirn. Dann blinzelte sie, als würde sich die Wirkung ihrer Worte erst in ihrem Verstand entfalten und dabei auf Widerstand stoßen. "Doch Anne, natürlich werde ich das."

"Mary, nein! Du..."

Doch Mary unterbrach sie. "Wenn es ihm hilft und davon gehe ich stark aus, wenn ich es schaffe, die richtige Dosierung zu treffen, werde ich dieses Teufelszeug, wie du es nennst, jederzeit einer abhängig machenden Arznei vorziehen."

Zorn braute sich in Annes Brust zusammen, formte die folgenden Worte, die es nur zischend über ihre Lippen schafften.
„Du sagtest, du weißt nicht, was es ist! Woher willst du dann wissen, dass es nicht genauso abhängig macht? Dass es keine noch abgedrehtere Substanz ist, die ihn langsam aber sicher zum Tode verurteilt?" Es kostete sie alle ihre Willenskraft, ihre zur Faust geballte Hand zu öffnen und Mary fordernd unter die Nase zu halten. "Gib es mir! Gib es mir, damit ich es Jack gegen den Kopf donnern kann."

Doch anstelle, dass sie Ärztin ihrer Aufforderung nachkam, schenkte sie ihr lediglich einen verachtenden Blick, der Annes Herz vor Wut ungebändigt durch ihre Brust donnern ließ. "Nein!"

Dieses eingebildete, rothaarige Weib! Dieses naive, sture Ding! Mary hatte ja keine Ahnung!
„Du warst nicht oben an Deck. Du hast nicht gesehen, was passiert ist", setzte Anne erneut an und machte noch einen Schritt auf Mary zu. „Und du weißt nichts von alledem, was bereits zwischen Samuel und Jack vorgefallen ist. Du kannst froh sein, dass es kein Gift war, das du ihm da gegeben hast."

Traute sie ihm das wirklich zu? Dass Jack dazu fähig war, Samuel auf so einem Weg zu beseitigen?

Ja, wenn sie ehrlich zu sich war, dann tat sie das. Niederschmetternde Enttäuschung machte sich in ihr breit, als sie sich dessen bewusst wurde. Weshalb hätte er ihr die Substanz sonst verschweigen sollen? Er hatte Sam schon bei Blackbeard loswerden wollen, hatte Teach Sams Leben in Austausch für Sullys angeboten.

Marys Lippen, die sich öffneten und wieder schlossen, ohne dass sie etwas gesagt hatte, holten sie aus ihren Überlegungen ins Hier und Jetzt zurück. Aufgebracht fuhr sich die Ärztin mit den Fingern durch das offene Haar.
"Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Anne!"

„Nicht, bevor ich die angebliche Medizin in meinen Fingern halte", hielt sie ihr unmittelbar entgegen. "Was, wenn es ihn auf Dauer doch umbringt? Wenn ..."
Eine bodenlose Angst ergriff von ihr Besitz. Angst um Sam.

Aber der Blick, mit dem Mary sie bedachte, machte ihr klar, dass sie nicht weiterkommen würde. Nicht, wenn sie ihr drohte und erst recht nicht, wenn sie mit wahllosen Anschuldigungen um sich warf.

Stöhnend legte Anne den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, bevor sie Mary wieder ansah und es erneut versuchte. Dieses Mal ruhiger, auch wenn in ihrem Inneren ein Sturm der Gefühle tobte.
Sie würde Jack den Arsch aufreißen! Darauf konnte er wetten! Aber erst später. Zuerst galt es Samuel zu retten.
„Gut ... lass uns einen Kompromiss schließen. Ich gehe und spreche mit Jack und wenn er mir versichern kann, dass es Sam nicht das Leben kosten wird, wenn er dieses Zeug schluckt, dann darfst du es ihm weiter verabreichen. Aber bevor du nicht mein Einverständnis hast, wirst du es ihm nicht nochmal geben."

Versöhnlich reckte sie ihr die Hand entgegen. Noch immer in der Hoffnung, dass sie ihr die Substanz aushändigen würde.

Mary hingegen verschränkte die Arme vor der Brust. "Bist du Ärztin, Anne? Apothekerin? Hast du irgendwelche Kenntnisse der Heilkunst oder bist in der Pflanzenkunde bewandert? Bist du der verfluchte Käpt'n dieses Schiffes?", zählte sie auf. "Nein? Dann hüte dich verflucht nochmal davor, mir Anweisung zu geben oder Befehle zu erteilen!"

Eine unheilvolle Stille entstand zwischen ihnen, in der das gewaltvolle Donnern von Annes eigenem Herzschlages immer lauter dröhnte, ehe Mary erneut die Stimme erhob. Ruhiger diesmal. Versöhnlicher. Die heißen Flammen ihrer Wut zügelten die Worte dennoch nicht. "Stell deine Nachforschungen bei Jack an und komm dann wieder zu mir."

Demonstrativ lenkte Mary ihre Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihr stehenden Flaschen, als würden Annes lodernde Blicke ihr tatsächlich Unbehagen bereiten. "Du hast recht, ich kann nicht beurteilen, was zwischen den beiden vorgefallen sein mag", lenkte sie ein. "Aber glaubst du, der Käpt'n, der sich mehr als alles andere um seine Besatzung sorgt, hat mir das Mittel anvertraut, oder war es tatsächlich das Handeln eines Mannes, der eine potenzielle Bedrohung aus dem Weg räumen wollte?" Ein abfälliges Geräusch kam über ihre Lippen. "So ein kindisches Gehabe!"

„Kindisch?" Anne ließ ihre Hand sinken. „Verdammtes Weib ... wie kannst du dich guten Gewissens eine Ärztin nennen, wenn du ohne Skrupel Substanzen, von denen du keinerlei Ahnung hast, an jemandem ausprobierst? Und Sam ... Sam ist keine gottverdammte Bedrohung! Wenn überhaupt, ist er in dieser Sache das Opfer!", zischte sie ihr ungehalten entgegen, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte.

Zwar konnte sie Read in ihrem Rücken noch zetern hören, aber das interessierte sie nicht länger. Sie wollte ihren Zorn nicht über dem naiven Weib entladen. Nein. Diese Ehre sollte einer anderen Person gebühren.
Sie knallte die Tür zu der Schiffsarztkajüte hinter sich zu, trampelte wie ein wild geworden über die Planken, hangelte sich die Stufen nach oben und steuerte geradewegs auf den Grund ihrer unbändigen Wut zu.

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