Von Hexen und geraubten Herzen (Prolog)
23. Dezember 1851
London
Der Geruch von Bier, Schweiß und Blut erfüllte die stickige Luft des schäbigen Etablissements. Schmutziges Licht mehrerer Öllampen erhellte die Räumlichkeiten nur bedürftig und gab den Blick frei auf die feiernden Männer und Frauen.
Langsam wandte sie ihren Kopf in Richtung der nicht unbedingt guten Musikergruppe, die ihr Bestes gab, um die heitere Stimmung aufrechtzuerhalten. Gegröle und ungehaltenes Lachen mischte sich zu den unharmonischen Klängen einer Fidel und zweier Lauten. Die Worte des Sängers gingen beinahe völlig darin unter. Traurig, wenn man bedachte, dass die Texte eine wahrhaft schöne Bedeutung besaßen.
Nur sie allein schien trotz der alles verschlingenden Kakophonie darauf zu achten.
Dabei verfolgten ihre Augen den seltsamen kleinen Mann in dreckiger und löchriger Kleidung. „In deinen Kindesaugen, als noch alle Tage Blüten trieben, lagen große Taten. Welche kühnen Träume sind geblieben?"
Je konzentrierter sie dem Lied lauschte, desto weiter entfernt schienen ihr die unliebsamen Geräusche, die sie stets daran erinnerten, nicht dort zu sein, wo sie sein wollte. Dort, wo ihr Herz sie hinlockte.
„Die Welt barg ein Geheimnis, so unschuldig und rein. Der Zauber deiner Wiege, soll er nun gebrochen sein?"
War er das? Lange Zeit hatte sie geglaubt, in die Fußstapfen desjenigen Menschen zu treten, den sie am meisten liebte. Abenteuer zu erleben, der eigene Wille ungebrochen und reich um das Wissen, dass das eigene Selbst das Wertvollste auf der ganzen Welt war.
Und doch hockte sie nun in dieser verpesteten Spelunke, einen Becher mit dem schlechtesten Rum, den sie je gekostet hatte, in ihrer einen Hand und den müden Kopf in die andere gestützt.
„So still die alten Helden. Ihre Wege schienen klar. So fern die Zauberwelten. Sind sie heute nicht mehr wahr?"
Sie schloss die Augen, ließ sich einen Moment von den Worten des Sängers tragen.
Was hatte sie aus ihrem Leben gemacht? Sie war sich sicher, weder ihre Mutter noch ihr Vater wären stolz gewesen, sie so zu sehen.
In zerlumpten Kleidern, das schwarze Haar starr vor Schmutz, die Augen ohne jeglichen Glanz. Sie hatte sich selbst verloren bei dem Versuch so zu werden wie sie. So mutig, so selbstbewusst, so ...
„Was macht ein hübsches Ding wie du denn ganz alleine hier?" Ein Hustenschwall folgte. Noch bevor sie die Lider wieder aufschlug, schwebte ihr der Geruch von faulenden Zähnen und rauchigem Whisky entgegen.
Am liebsten hätte sie gelacht. Hübsch? Ja, vielleicht war sie das einst gewesen. Bevor sie das geerbte Gold verloren und in der Gosse Londons gelandet war. Das einzige wertvolle Stück, das ihr geblieben war, war die silberne Kette mit dem Anhänger in Form eines Schmetterlings, der neben einem zweiten Schmuckstück baumelte, das mit seiner Schnur aus Leder und der in Silber eingefassten, trüben Glasscherbe allerdings eher wirkte wie belangloser Müll. Nun lebte sie in einem kleinen Zimmer oberhalb dieser Taverne und verdiente ihr Geld indem sie die verklebten, gammligen und müffelnden Räume säuberte, sobald die letzten Gäste in die Morgendämmerung davon taumelten.
Nicht zu vergessen gingen alle Getränke und auch das Essen des Wirts aufs Haus. Wobei sie sich an letzteres nicht mehr heranwagte, seit sie sich den Magen so übel verstimmt hatte, dass sie drei Tage lang nur gebrochen hatte.
Schweigend musterte sie die beiden Männer, die sich ungefragt zu ihr an den Tisch gesetzt hatten. Sie studierte die faltenüberzogenen Gesichter, die spröden Lippen und die Zahnlücken dahinter. Dem Rechten fehlten fast alle Haare auf dem Kopf, der Bart wies ebenfalls spärliches Wachstum auf. Gier funkelte in seinen Froschaugen, Lust in den mausgrauen seines Mitspielers.
Dessen aschblondes Haar triefte vor Fett.
Ekel stieg in ihr auf, aber nicht die geringste Spur von Angst. Sie kannte diese Art von Männern, begegnete ihr nahezu jede Nacht. Wenn man in den heruntergekommenen Teilen Londons lebte, hatte man nicht mit sauberen und gut riechenden Gentlemen zu rechnen, die eine Frau auf Händen trugen. Hier trieb sich das Gesindel herum. Ungenierte, schmuddelige Gestalten, die in ihr lediglich ein trauriges Gefühl hervorriefen.
Ja, sie taten ihr leid, denn sie waren ebenso verloren wie sie selbst. Vielleicht hatten sie früher einmal genauso gute Aussichten auf eine goldene Zukunft besessen und sie ebenso verspielt.
Sie wusste, wie sie mit solchen Kerlen verkehren musste. Ignoranz war meist die beste Option. Sobald sie merkten, dass sie ihnen keine Aufmerksamkeit zollte, weder in Form der Furcht noch in Form der Wut, suchten sie schnell wieder das Weite.
Diese beiden waren allerdings nicht so leicht abzuschütteln, wie sie wenig später feststellen musste. Als sie der Fettlocke keine Antwort schenkte, packte er grob ihr Handgelenk. „Hey Schlampe, ich rede mit dir!", keifte er sie an. „Wenn man ein Kompliment erhält, hat man sich gefälligst zu bedanken!"
Träge wandte sie ihm den Blick wieder zu. „Sie lassen mich nun besser los, mein Herr", schnurrte sie, doch das Ekel verhärtete seinen Griff nur. Sie bemühte sich, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, der ihren Arm durchzuckte.
„Ich entscheide, wann ich jemanden loslasse."
Sein Freund nahm ihr den Rum ab und spuckte in den Becher. Sie wollten sie provozieren, sie demütigen, aber sie hatten sich sie falsche Person für ihr Unterfangen ausgesucht. Nicht einmal mit der Wimper zuckte sie, als sie ihren Drink wieder an sich nahm und ihn in einem Zug hinunterkippte. Dabei kostete sie es alle Selbstbeherrschung nicht zu würgen.
Anschließend musterte sie erneut die Fettlocke, die sie noch immer festhielt. „Ich wiederhole mich nur ungern." Nun schwang ein bedrohliches Knurren in ihren Worten mit.
Ihr unüberhörbarer Groll entlockte dem Gespann ein amüsiertes Lachen. „Sieh an, sieh an", grunzte jetzt das Froschauge. „Ich mag die Bissigen. Du nicht auch, Berry?"
„Aye, Gordon. Es gibt keinen größeren Spaß, als wenn man die Gelegenheit bekommt eine wilde Stute zu zähmen."
In Erwartung, dass sich nun endlich Angst auf ihren Zügen breitmachen würde, sahen sie sie gleichzeitig wieder an. Dabei entglitten ihnen allerdings ihre selbstgefälligen Mienen, denn sie lächelte den beiden zu. Süß und lieb, als würde sie aus Langeweile nicht manchmal den Fliegen ihre Flügel ausreißen. „Wenn ihr nicht wollt, dass ich eure Ärsche verhexe, dann verschwindet ihr jetzt besser."
"Unsere ... Was?" Berrys Reaktion fiel wie erwartet aus. Er löste seinen Griff.
Entspannt lehnte sie sich zurück und genoss die sich in den Augen spiegelnde Mischung aus Unsicherheit und Unglauben. "Ihr habt mich durchaus richtig verstanden."
"Was faselst du da, Weib? Es gibt keine Hexen!", bellte Gordon und verschränkte skeptisch über diese Behauptung die Arme vor der Brust.
"Wollt ihr das wirklich herausfinden? Nur zu, stellt mich auf die Probe. Mit Vergnügen zaubere ich euch einen Fluch an den Hals."
Er wollte spielen? Das konnte er haben. So langsam wich die aufgebrandete Wut aus ihrem Inneren und machte stiller Vorfreude Platz.
Berry war unterdessen jedwede Farbe aus den eingefallenen Wangen gewichen. Seine Finger schlossen sich um die Schulter des Froschauges. Er versuchte seine aufkeimende Nervosität herunterzuspielen, indem er weiter Scherze ohne einen Hauch an Witz riss: "Komm, suchen wir uns doch lieber ein weniger störisches Exemplar." Als wäre sie in seiner Welt tatsächlich nicht mehr als irgendein Vieh, das es zu zähmen galt.
Gordon bewegte sich allerdings kein Stück weit. Er schüttelte die Hand seines Freundes ab, als handelte es sich bei dieser um einen belanglosen Staubfilm und grinste die von ihnen auserkorene Beute für diesen Abend herausfordernd an. "Dann lass mal sehen."
Die Fettlocke murmelte etwas vor sich hin, das sich verdächtig nach "Ohne mich" anhörte und versuchte sich an dem anderen vorbeizuschieben. Der blockierte ihm allerdings den einzigen Ausweg. Lediglich das linke Ende der Sitzbank, auf der sie sich niedergelassen hatten, zeigte in den Raum hinein. Das andere war mit der hölzernen Wand, die in einem dunklen Rot angestrichen worden war, verbunden. So war Berry gezwungen auf seinem Hintern sitzen zu bleiben. Es war ihr recht. Wer große Töne spucken konnte, der durfte auch ruhig in seine Schranken gewiesen werden. Berry brauchte genauso eine Lektion erteilt wie Gordon.
"Habt ihr jemals von Anne Bonny und Calico Jack gehört?", fragte sie in die Lautstärke hinein. Dabei war sie sich sicher, dass nicht nur die beiden Betrunkenen ihr gegenüber hellhörig wurden. Ob sie es sich einbildete, wusste sie nicht, aber selbst die kleine Musikergruppe schien ihren Lärmpegel herunterzuschrauben.
Gordon zog eine seiner Augenbrauen nach oben. Selbst diese war löchrig. Sie fragte sich, ob er vielleicht krank war, dass sein Haar selbst an solchen Stellen nur so spärlich wuchs. "Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?"
Viel, dachte sie bei sich. Viel mehr als euch gleich bewusst werden wird.
Es war gar nicht nötig, dass sie ihm eine Antwort schenkte. Ein dicklicher Kerl, der alles Haar besaß, an dem es Gordon mangelte, drehte sich vom Nebentisch zu ihnen um, den Arm über die Sitzbank gelegt. "Sie soll ne Hexe gewesen sein, die dem alten Käpt'n mit ihrer dunklen Magie erst Herz und dann Verstand geraubt hat."
Das Froschauge winkte ab, schüttelte verärgert über das Einmischen des Bären seinen unförmigen Schädel. "Ja, ja. Jeder hier in London hat dieses dumme Märchen gehört. William Bonny, angesehener Richter dieser Stadt, soll der Vater gewesen sein. Da ist es doch klar, dass sich derartige Flunkergeschichten wie ein Lauffeuer verbreiten."
"Es handelt sich dabei mitnichten um eine Fantasterei irgendeines Spinners", widersprach sie, die einzige Frau in diesem heruntergekommenen Lokal, die keine Dirne war, ihm nur zu gerne.
"Ach nein?", schnaubte ihr Gegenüber verächtlich. Dabei schwappte ihr eine Welle seines üblen Mundgeruchs entgegen, der sie für die Dauer dreier Herzschläge lang das Gesicht verziehen ließ.
"Nein", erwiderte Berry an ihrer Stelle, wofür er einen anklagenden Blick seines Freundes erntete. Aber das schien ihm in diesem Augenblick egal zu sein. Unbeirrt fügte er an: "Ich kenne jemanden, der einst auf der Castor angeheuert hat."
"Auf der Castor? Aber das Schiff liegt doch schon Jahrzehnte auf dem Grund des Meeres", warf ein weiterer Fremder ein. Der Fidelspieler der kleinen Musikertruppe. Deren "Kunst" war mittlerweile zur Gänze verklungen. Stattdessen sammelten sich die vier Männer mit neugierigem Funkeln in den Augen um den Tisch der angeblichen Hexe.
Wie erwartet. Schon so lange waren Anne Bonny und Jack Calico ein Teil der Vergangenheit, doch sobald man auch nur einen der beiden Namen in den Mund nahm, hatte man die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesender inne. Sie musste dem gar nichts mehr zutun. Vorerst zumindest nicht. Sie hatte das Gespräch ins Rollen gebracht, nun konnte sie dem weiteren Verlauf entspannt lauschen, bis es an der Zeit war ihre anfängliche Behauptung zu beweisen.
"Aye, tut sie. Aber der Kerl ist schon auf der Castor mit Calico gesegelt, ist dem dann auf die Searose gefolgt und hat ihn begleitet, bis ..."
"Und wer soll das sein? Kennt man den?", unterbrach ihn der kleine Sänger. In gebückter Haltung lehnte er an der Sitzbank, auf der Berry und Gordon saßen.
"Sicher habt ihr ihn schon beim Namen gehört. Er heißt ..."
Wieder fiel ihm jemand ins Wort. Dieses Mal war es der Schankmeister. "Tut doch nichts zur Sache, wen er kennt. Fakt ist, dass Anne Bonny eine Hexe war. Ich meine ... Man hat sie hinrichten wollen. Und wie durch Zauberhand öffnet sich mitten in der Nacht ihre Zellentür. Sie verschwindet in die Dunkelheit und kann von niemandem mehr gefunden werden."
Angespanntes Raunen machte die Runde. Gordon schien allerdings noch immer nicht überzeugt. "Das erzählt man sich zumindest", warf er ein. "Aber wer weiß schon, ob das stimmt. Ich gehe eher davon aus, dass sie einen Komplizen unter den Gefängnisanwärtern hatte, oder aber, dass sie nicht Anne Bonny, sondern irgendein anderes Weib geschnappt und kurz vor der Hinrichtung den Irrtum bemerkt haben. Dann musste die falsche Angeklagte natürlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwinden. Hätte ja sonst 'n schlechtes Licht auf die Richterschaft und auch auf die Royal Navy geworfen."
"Und wie erklärst du dir, dass Calico seinen Verstand verloren hat?", hakte Berry nach, fiel seinem eigenen Freund damit wiederholt in den Rücken. "Calico soll niemals nachlässig gewesen sein und dann lässt sich einer der berüchtigtsten Piraten aller Zeiten wie eine von der Katze in die Enge getriebene Maus einfach so festsetzen? Und davon abgesehen ... Ein Käpt'n stellt niemals eine Frau vor die Crew! Er aber ..."
"Ach." Gordon entfuhr ein Schnauben. "Ist es denn so selten, dass ein Weib einem gestandenen Kerl den letzten Nerv raubt, ihn in die liebenden Arme des Alkohols oder der Spielsucht treibt? Ich glaube kaum." Der Blick, den er Berry zuteilwerden ließ verriet ihr, dass es ihm genau so widerfahren sein musste.
"Würdest du mich für ein paar Stunden mit einer Hure stehen lassen?"
"Ich hätte dich stehen lassen für nur eine Minute im Bett mit der da." Als säße sie ihnen nicht länger gegenüber. Die anderen Zuhörer mussten über seine Worte lachen, manche stießen daraufhin miteinander an oder pflichteten Gordon mit stummen Gesten bei.
"Die da hat übrigens auch einen Namen." Als würden sie sich ihrer erst jetzt wieder bewusst werden, hielten sie mit einem Mal allesamt die Luft an. Den Eindruck bekam sie zumindest, so still wie es erneut geworden war. Ein jeder lauschte nun gespannt auf das, was sie in der nächsten Sekunde von sich preisgeben würde. "Feodora. So heiße ich."
Einige atmeten scharf ein. Es brauchte eine Minute, bevor sich der Sänger zu fragen traute: "Die Feodora?"
Mit einem breiten Lächeln auf den schmalen Lippen betrachtete sie Gordons Miene, die versteinerte. Nun hatte er offenbar seine Zunge verschluckt. Zumindest wagte er es nicht länger irgendetwas infrage zu stellen.
Feodora antwortete dem kleinen Mann mittels eines Schulterzuckens. "Wer weiß. Aber der da ist begierig darauf es herauszufinden." Als hätte sie just in diesem Moment einen unheilverkündenden Fluch ausgestoßen, lichtete sich die Gruppe aus Zuhörern um sie herum. Berry versuchte sich erneut an Gordon vorbeizuschieben, der daraufhin tatsächlich aufstand und seinem flüchtenden Freund einen Ausweg bereitete. Ohne sich nochmals umzudrehen verschwand die Fettlocke im Getümmel der anderen Gäste.
In völliger Ruhe bedeutete Feodora dem Schankmeister ihr einen neuen Rum zu bringen, indem sie den Becher nach oben hielt und ihn hin und her schwenkte. Währenddessen ließ sie Gordon nicht aus den Augen. Sie grinste ihn an, was eher an den Anblick eines zähnefletschenden Raubtiers erinnern musste, das seine Beute ins Visier genommen hatte. So schnell konnte ein Jäger zum Gejagten werden.
Das Froschauge öffnete den Mund, aber bevor auch nur ein Wort über seine rissigen Lippen kam, erhob sie ein letztes Mal für diese Nacht die Stimme und verscheuchte damit auch den letzten Mann: "Ich raube Männern gerne ihren Verstand. Und weißt du was ich mache, sobald sie mir erst einmal verfallen sind? Ich schneide ihnen das erbärmlich klopfende Ding aus ihrer Brust. Eignet sich wunderbar für diverse Tränke."
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