Von Entschuldigungen und Zeitbomben
03. April 1822
Atlantik
„Fehler der anderen sind keine Entschuldigung für die eigenen."
~ Helga Schäferling
Heute vor einem Jahr war sie zu Grayson Parker geworden. Monatelang hatte sie sich danach unter dem Deckmantel ihrer falschen Identität als Küchenjunge in Blackwoods Kombüse durchgeschlagen. Zuerst hatte sie den Smutje nicht leiden können, aber dann, als sie sich zu Anne Bonny bekannt und er sich ihr im Folgenden geöffnet hatte, war er zu ihrem Verbündeten und Freund geworden. Ja, vielleicht sogar zu so etwas wie Familie. Nicht zum ersten Mal, seit sie von seiner Vergangenheit wusste, wünschte sie sich im Geheimen, ihn anstelle William Bonnys zu ihrem Vater zu haben. Aber Familie konnte man sich nicht aussuchen. Zumindest nicht die, die einen übers Blut verband.
„Ich schaff' das nicht länger, bin so gut wie allein. Huntington und Gardner sind lahm und ungeschickt wie sonst keiner", stellte der Glatzköpfige klar, während er ihr gegenüber saß. „Du musst mir zwei der anderen Männer nach unten schicken. Zwei, die nicht auf den Kopf gefallen sind."
Anne überflog die Liste mit den Namen der Besatzung. Dass Tiw früher oder später bei ihr auftauchen würde, um um Ersatz für Piet und Desna zu bitten, war ihr bewusst gewesen. Und doch gestaltete sich die Aufgabe als unerfüllbar für sie.
Verdammt ... Jack sollte hier sein, um das zu übernehmen! Sie hatte sich nie ausreichend mit jedem einzelnen Maat befasst. Ja, sie kannte ihre Namen und ja, sie wusste, wer auf welchem Posten agierte, aber bei den Göttern, sie kannte sie bei Weitem nicht ausreichend, um zu sagen, wer am geeignetsten war, um Blackwood in der Küche zur Hand zu gehen. Es musste jemand sein, der flink war und der bei Schlägen auf den Hinterkopf, beleidigenden Worten und einem andauernd kommandierenden Tonfall nicht sofort die Konfrontation suchte. Jemand wie Piet oder Desna eben, die beide zu ruhig und zurückhaltend waren, um wirklich Kontra zu geben und lieber das taten, was man von ihnen verlangte. Verlangt hatte. (Kursiv)
Anne knirschte mit den Zähnen. Erneut stellte sie sich die Frage, weshalb ausgerechnet diese beiden mit Samuel verschwinden mussten ...
„Lass mich das übernehmen", brummte Jonah über ihren Rücken hinweg, als könnte er die Rauchwolke tatsächlich sehen, die ihre wirbelnden Gedanken verursachte.
Nichts lieber als das. Sie nickte ihm zu und schaffte ihm Platz, sodass er sich über die Liste machen konnte. Aber der Steuermann setzte sich nicht und warf auch keinen Blick auf die aufgereihten Namen. „Felicité kennt sich mit Kräutern aus, also tut sie das sicher auch mit solchen, die man zum Kochen benutzt. Ich werde sie dir schicken. Sie und Diamond. Sie bittet mich schon länger darum, sich wirklich nützlich machen zu können."
Zufrieden mit dieser Entscheidung erhob sich Blackwood auf die Füße. „Ich brauche die beiden noch heute Abend." Mit diesen Worten wandte er sich von Anne und Jonah ab, um aus der Kapitänskajüte zu treten. Anne beobachtete seinen Gang. Seit Felicité sich auf dem Schiff befand, schien dieser deutlich besser geworden zu sein. Sie war sich sicher, dass die Kräuterfrau die Quelle seiner schwindenden Nervenschmerzen war und auch dafür war sie dem blonden Racheengel überaus dankbar.
„Ich gehe und gebe den Frauen Bescheid", befand Jonah, doch noch ehe er sich in Bewegung setzen konnte, hielt Anne ihm den Arm vor die Brust.
„Das mache ich", beschloss sie. „Sieh du lieber nach Ben. Ich habe gehört, dass ihn eine Grippe plagt und auch wenn ich ihm das nicht glaube, sondern daran festhalte, dass er sich des Alkohols wegen so miserabel fühlt, tut es ihm sicherlich gut, wenn er merkt, dass sich jemand um ihn sorgt."
Jonahs verschiedenfarbige Augen musterten sie aufmerksam. Lag da so etwas wie Anerkennung in seinem Blick? Der Ausdruck verweilte so wenige Herzschläge auf seinem Gesicht, dass Anne es nicht mit Sicherheit zu sagen vermochte. „Er behauptet, dass es mehr ist, als nur eine Grippe", erwiderte er mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme.
Das wusste Anne. Sie hatte es schon vor ein paar Tagen mitbekommen, dass er Read voller Inbrunst davon zu überzeugen versucht hatte, sie sollte sich ihn genauer ansehen. Natürlich war Mary seiner Bitte nachgekommen, aber sie hatte ihn ohne einen neuen Befund zurück in seine Koje geschickt. „Aye. Dass er es in letzter Zeit mehr mit der Sauferei übertrieben hat als jemals zuvor, scheint er dabei aber zu vergessen."
„Sei nachsichtig mit ihm. Es ist Jack. Er vermisst ihn, wie wir anderen auch. Vielleicht sogar noch ein klein wenig mehr. Sie kennen sich immerhin von Kindesbeinen an und haben kaum einen Tag getrennt voneinander verbracht." Auch das war ihr nicht entfallen. Jack hatte ihr von der gemeinsamen Vergangenheit erzählt. Sie nickte nur, was Jonah als Antwort zu genügen schien. Zumindest trat er daraufhin aus an Deck, um seinen erkrankten Freund zu besuchen.
Anne folgte ihm wenig später ins Tageslicht. Kurz wanderte ihr Blick über das endlose Blau des Meeres, das sich zu allen Seiten mit dem des Himmels verband. Nur hier und da waren einzelne weiße Wölkchen unterwegs. Ganz wie verloren gegangene Lämmer.
Mit gemischten Gefühlen begab sie sich zu Jonahs Kajüte, die er sich derzeit mit seiner Frau und seinem Kind teilte. Bevor sie eintrat, zögerte sie allerdings. Seitdem sie Diamond vorgeworfen hatte, nichts weiter zu sein, als eine dumme Hure, hatte sie kein wirkliches Gespräch mehr mit ihr geführt. Gewissensbisse nagten an ihr. Zu recht. Wie sehr hatte Diamond ihr einst zur Seite gestanden, als sie ihr vor einem Jahr den Kopf geschoren hatte, um sie entgegen ihrer Zweifel zu Grayson Parker zu machen? Ohne Diamond wäre sie niemals dort, wo sie heute war. Sie und Jack wären sich niemals näher gekommen, sie hätte Winston und Jaspal niemals kennengelernt und wäre niemals in ihrem eigenen Sein gewachsen. Und wie dankte sie es Diamond? Indem sie sie beleidigte, nur weil die Angst und die Wut auf sie selbst Oberhand gewonnen hatten. Es wurde Zeit sich zu entschuldigen.
Zaghaft klopfte sie an und verbarg ihre zitternden Hände hinter ihrem Rücken. Diamond stand am kleinen Rundfenster, die schlafende Ocean in den Armen und sah hinaus auf die sanften Wellen. Als sie Anne bemerkte, wandte sie sich ihr zu und lächelte.
Verdammt ... Anne schluckte. Wie konnte diese Frau noch immer so freundlich zu ihr sein? Nach allem, was sie ihr an den Kopf geworfen hatte. „Diamond, ich ...", setzte sie im Flüsterton an. „ ... Es tut mir leid."
Fragend hoben sich die Augenbrauen ihrer Freundin, als würde sie gar nicht verstehen, weshalb Anne um Verzeihung bat. So versuchte sie es erneut. Dieses Mal etwas deutlicher. „Es war ein Fehler, dich dafür verantwortlich zu machen, was mit Jack geschehen ist."
„Ach, Anne", erwiderte sie ebenso leise, schaukelte das schlafende Bündel noch ein wenig, bevor sie es sicher in Jonahs langer Hängematte ablegte. Sie kam auf Anne zu. „Ich habe es dir nie übel genommen. Du hattest furchtbare Angst. Mir wäre es an deiner Stelle nicht anders ergangenen."
Auch wenn Anne bezweifelte, dass Diamond sie in umgekehrter Situation derartig beleidigt hätte, nickte sie. Erleichtert darüber, dass sie ihr gegenüber nicht zornig gestimmt war. Nicht so wie Ben, der es ihr nach wie vor nicht hatte verzeihen können, dass Jonah ihr die Führung übergeben hatte. Nicht so wie Samuel, der nun irgendwo da draußen war.
Diamonds Hände legten sich vertrauensvoll an ihre Oberarme. „Wir holen ihn zurück. Felicité hat es mir genauestens erklärt. Der Wind steht gut, die Marine hat zwar einen Vorsprung, aber eine Fregatte ist schneller als ein Gaffelschoner. Und die Searose ist um Welten besser bewaffnet. Das ist wohl der einzige Vorteil daran, dass sie in geheimer Mission unterwegs sind. Sie konnten sich kein Schiff nehmen, das in irgendeiner Weise auf ihre wahre Identität hätte hindeuten können."
Die Kräuterfrau schien wirklich mit jedem Mitglied dieser Besatzung anzubandeln. Anne sollte es recht sein, immerhin tat sie dabei nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Sie nahm dem einen seine Schmerzen und dem anderen die Angst. Auch wenn sie sich nur schwer vorstellen konnte, dass das Schiff der Marine so schlecht bewaffnet war, wie Felicité es andeutete. Immerhin gelang es deren Vögelchen ja nicht einen direkten Blick unter Deck zu werfen. Woher sollten sie also wissen, wie viele Kanonen im Verborgenen lauerten?
Ihre Gedanken dazu behielt Anne allerdings für sich. Sie wollte ihrer Freundin die Zuversicht nicht nehmen, dass diese Reise schon bald ein Ende finden würde. Anstatt darauf einzugehen, wechselte sie also das Thema.
„Blackwood hat mich aufgesucht und um Ersatz für Piet und Desna gebeten. Und da Jonah meinte, du hättest schon des Öfteren nach einer Aufgabe gefragt, der du nachgehen kannst, dachten wir uns, dass du diese Stelle gut einnehmen könntest. Natürlich nur vorübergehend, bis wir wieder in Nassaus Hafen ankern."
Diamond lächelte ehrlich. „Gern. Ich kann Tiw gut leiden. Er mag grob und unfreundlich wirken, aber ich kann es an seinen Augen erkennen, dass er einen weichen Kern besitzt. Außerdem kann ich so herausfinden, was du in den ersten Monaten nach deiner Abreise getrieben hast."
Anne schüttelte die Hände ihrer Freundin vorsichtig ab und nickte ihr zu. „Er braucht dich noch heute Abend." Ein freches Grinsen schlich sich auf ihre Lippen. „Sei gewarnt, die Arbeit in der Kombüse ist härter als sich um ein Neugeborenes zu kümmern."
Ein herzhaftes Lachen stellte die Antwort dar. „Oh, Anne. Du bist noch nicht Mutter. Aber vielleicht wirst auch du irgendwann herausfinden, wie unwahr diese Annahme ist."
„Vielleicht." Schon war die gute Laune verflogen. Diamonds Worte hatten ihr ungewollt einen tiefen Stich versetzt. Kurz dachte sie an letztes Jahr, als sie für die Dauer weniger Wochen angenommen hatte, ein Kind unter dem Herzen zu tragen. An Jacks Blick, der erst Furcht und dann die innigste Liebe offenbart hatte, die ein Mann nur empfinden konnte. Und dann an die Trauer in seinen Augen, als ihre Monatsblutung zurückgekehrt war. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, dass sie dazu womöglich keine weitere Gelegenheit erhalten würden. Wenn Jack bereits tot auf den Weiten des Ozeans ...
Nein. Schluss damit.
Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und ehe Diamond nachfragen konnte, was los war, meinte sie: „Ich muss weiter. Felicité wird ebenfalls für die Küchenarbeit gebraucht."
Ein knapper, schon fast sehnsuchtsvoller Blick in Richtung der wiegenden Hängematte folgte, in der Ocean im Schlaf leise Geräusche von sich gab. Anne würde den Traum einer eigenen Familie noch nicht begraben. Ebenso wenig wie den, dass sie Jack schon bald wieder in ihre Arme schließen würde. Ohne eine Erwiderung ihrer Freundin abzuwarten, trat sie aus der Kajüte des Steuermanns und machte sich auf den Weg in Reads Räumlichkeiten.
„Ich weiß nicht weiter", hörte sie Mary sagen, sobald sie dort angekommen war. Sie hielt sich zurück, um das Gespräch nicht zu stören und wartete zunächst im Türrahmen ab.
„Früher hat ihm der Trunk aus Ingwer, Fenchel, Anis und Kümmel immer geholfen. Selbst bei einer echten Grippe sollte er Wirkung zeigen." Die Schiffsärztin betrachtete mit nachdenklichem Ausdruck einen Becher in ihren Fingern.
„Manchmal können Infekte wahrlich hartnäckig sein", gab Felicité zu bedenken. Die Französin war gerade dabei die Regale zu entstauben, weshalb auch sie Anne nicht sogleich erspähte.
„Für wahr." Mary seufzte. „Hoffen wir, dass er bald wieder genesen wird. Sein ständiges Gejammer ging mir vorher schon auf die Nerven, aber jetzt ..."
„Er ist eine verlorene Seele auf den Weiten des Ozeans", erwiderte die Blonde und klang dabei überaus verträumt. „Ich werde ihm seine Medizin bringen. Dann kann ich auch gleich nach Pierre Jaques sehen." Sie kicherte. „Der Kater verlässt seine Seite nicht mehr. Sicher spürt er, dass sein Frauchen ganz angetan von ihm ist und flüstert ihm des Nachts ins Ohr, dass er sich doch einen Ruck geben soll."
Noch immer fand Anne es seltsam, dass jemand derart über Ben sprach. Felicité schien wirklich einen Narren an der Ratte gefressenen zu haben.
Als sie sich mit dem verstaubten Tuch umwandte, kreuzte ihr Blick den von Anne. „Langsam machst du mir Konkurrenz, Mädchen", begrüßte sie sie grinsend.
Auch Mary sah jetzt auf. Ernst funkelten in ihren grünen Augen. „Brauchst du etwas? Wenn nicht, dann verzieh dich und hör auf zu lauschen wie ein Kind an der Tür zum Elternschlafzimmer."
„Ich wollte Felicité nur darüber informieren, dass Blackwood sie ab heute Abend in der Kombüse braucht", entgegnete Anne, unberührt angesichts der bissigen Tonlage.
„Und das kann niemand anderes übernehmen?" Mary reichte der Kräuterfrau den Trunk für Ben. „Seit ich den Platz von Custerly eingenommen habe, ging mir keiner zur Hand. Und jetzt, da ich jemanden gefunden habe, der dazu fähig ist und sich nicht angegriffen fühlt, weil eine Frau das Kommando in diesem Bereich hat, kommst du und nimmst sie mir wieder weg!"
„Es geht nichts anders." Anne versuchte sich nicht von der Gereiztheit anstecken zu lassen. „Aber wenn es dir so wichtig ist, dann suchen wir dir jemanden, der dir ..."
„Schon gut. Ich kann auch beides tun. Zu den Essenszeiten Tiw unterstützen und dazwischen dir zur Verfügung stehen. Nur hört auf zu streiten. Ich hasse nichts mehr, als Frauen, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Wir sollten zusammenhalten und uns nicht anfeinden. Vor allem nicht wegen solchen Belanglosigkeiten", ging Felicité dazwischen.
Bevor Mary oder Anne etwas dazu sagen konnten, drückte sie der Schiffsärztin den Becher nochmals in die Hand. „Ich kümmere mich gleich darum, ich will unserem Käpt'n nur noch kurz etwas zeigen."
„Ich bin nicht ..." ... euer Käpt'n (kursiv). Anne bekam keine Gelegenheit zu Ende zu sprechen, da hatte Felicité sie auch schon am Saum ihres Ärmels gepackt und zog sie hinter sich her in einen Nebenraum. Dort ließ sie wieder von ihr ab, wackelte auf eine Kiste zu und kniete sich vor diese. Mit einem Handwink deutete sie Anne, dass sie sich zu ihr gesellen sollte. Erst sobald Anne neben ihr kauerte, öffnete sie den Deckel.
„Was soll das sein?", wollte Anne wissen und streckte bereits die Finger nach den drei silbernen, kinderfaustgroßen Kugeln aus, als Felicité sie wegschlug.
„Nicht anfassen! Die Dinger sind hochgefährlich! Das ist Naft. Habe ich von einer guten Freundin aus dem Orient geschenkt bekommen", erklärte die Blonde und schloss die Truhe auch schon wieder. „So kurz vor unserem Ziel wollte ich unbedingt, dass du davon weißt. Ich will das Schiff der strohdummen Marine in Flammen aufgehen sehen und nichts dient dazu besser, als dieses Zeug. Du entzündest es mit einem brennenden Pfeil und sobald es erst einmal entfacht ist, lässt es sich von nichts mehr löschen." Irres Gekicher. „Auch nicht vom Wasser. Im Gegenteil. Schüttet man das darüber, dann schürt es das Feuer nur weiter an."
Anne wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Zum einen konnte das Zeug wahrlich nützlich werden, zum anderen glich es einer tickenden Zeitbombe, die den Untergang ihres eigenen Schiffes bedeuten konnte. Allerdings blieb ihr keine Gelegenheit, um sich genauer damit zu befassen. Aufgeregte Rufe drangen bis zu ihnen unters Deck. Sie wollte bereits aufstehen, um nachsehen zu gehen, da streckte auch schon Winston den Kopf durch die Tür. „Segel in Sicht! Wir haben die Marine Schweine endlich eingeholt!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top