Insomnia
04. April 1822 - Kurs Richtung Florida
"The night is the hardest time to be alive and 4am knows all my secrets." - Poppy Z. Brite
Wasser schlug über ihm zusammen. Er versuchte mit Armen und Beinen zu schwimmen und zu schlagen, doch das letzte Licht der Sonne verblasste unterhalb der Wasseroberfläche zu einem tänzelnden Funkeln, das ihn verhöhnte. Schlieren seines Blutes und der Rauch des Brandes verdunkelten den Schein. Das Gewicht der eisernen Fesseln zog ihn nach unten, untersagte ihm freie Bewegungen, die er brauchte, um zu schwimmen. Immer weiter und weiter sank er wie ein Stein hinunter in die unendliche Tiefe des dunklen Blaus.
Unter ihm brannte das Wrack des sinkenden Schiffes noch immer lichterloh und tote Männer, ihre Haut so bleich und kalt wie die Schaumkronen der See, schwebten reglos in der Nähe im trüben Wasser. Er glaubte Davies zu erkennen, wie er die neunschwänzige Katze noch immer in der fest geschlossenen Faust hielt. Ein paar andere Männer. Jérôme, George und Tom. Ben.
Luftblasen stiegen vor ihm auf, dann Asburys Gestalt, die Lippen in einem letzten panischen, vergeblichen Atemzug geöffnet, die Augen weit aufgerissen. Tote Iriden, die ihn anschuldigend anstarrten.
Er wollte ausatmen und um Verzeihung bitten, als das kalte Wasser in seinen Mund drang und seine eigene Lunge mit Wasser füllte. Er versuchte nach Luft zu schnappen, aber es gelang ihm nicht auch nur einen weiteren Atemzug zu tun.
Noch während seine Welt um ihn herum in Dunkelheit versank, erkannte er Anne an der Seite des Kanoniermeisters, wie sie ihn mit sich zog, um mit ihm an die Oberfläche zu schwimmen. Seine Lippen öffneten sich zu einem stummen Schrei, der sich in einer einzelnen, winzigen Luftblase manifestierte. Sie hatte ihn zurückgelassen, um Winston zu retten.
Jack schreckte auf. Sein Atem ging stoßweise. Er lag auf dem Bauch. Das Laken unter ihm war klitschnass. Panisch versuchte er Luft zu holen und seinen donnernden Herzschlag zu beruhigen, doch es wollte ihm kaum gelingen.
Verstört von seinem Alptraum sah er sich um. Das fahle Licht des Mondes fiel durch die geöffneten Vorhänge und erhellte Annes Silhouette, die ruhig schlafend neben ihm lag. Das hier war die Searose. Er war zu Hause.
Für einen kurzen Moment überlegte er sie zu wecken und sich von ihrer liebevollen Fürsorge zurück in den Schlaf wiegen zu lassen, doch nach nur einer Sekunde verwarf er die Eingebung. Sie hatte bereits genug wache, sorgenvolle Stunden wegen ihn verbracht. Und für ihn war an Schlaf eigentlich nicht mehr zu denken.
Noch immer atemlos hob er die Hände, an deren Gelenken die weißen Verbände leuchteten, die Read ihm angelegt hatte. Hastig löste er die Knoten und wickelte das weiße Leinen ab, riss sich den Rest des Stoffes beinahe von den Armen, bis die wunde Haut darunter zum Vorschein kam. Er ertrug es nicht länger. Das einnehmende Gefühl auf seiner Haut.
Sein Herz schlug noch immer unendlich schnell, als er sich eilig erhob, um Anne nicht doch noch durch irgendeine Unachtsamkeit zu wecken und schob sich durch die Tür hinaus, die seine Koje mit der Kapitänskajüte verband. Nachdem er sie hinter sich geschlossen hatte, sah er sich zögernd um. Der Raum lag im nächtlichen Zwielicht. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es ihm, als hätte er sich verändert, doch dann wurde er sich etwas anderem bewusst. Die Kajüte war dieselbe.
Er war anders.
Angespannt ließ er sich auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken und entzündete das schüchterne Licht einer Kerze, ehe er damit begann in den Schubladen nach seinem Drehzeug zu kramen. Er fand es genau dort, wo er es vor der Zeit seiner Abwesenheit hinterlassen hatte. Himmel, Anne und die Crew mussten die ganzen zwei Wochen über der festen Überzeugung gewesen sein, dass sie ihn retten konnten. Und wie verflucht knapp sie Erfolg gehabt hatten.
Hatten sie?
Mit geübten Bewegungen drehte er sich eine Zigarette und griff nach einer Schachtel mit Streichhölzern. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Stapel zerrissener Kleidung, der auf einem der Stühle vor seinem Schreibtisch lag. Mantel und Hemd, welche Davies ihm fast vom Körper geschnitten hatte. Langsam erhob er sich und steckte sich die Zigarette hinter das Ohr, ehe er um den Tisch herum trat und nach den Fetzen seines Mantels griff. Er hob den dunklen Calicobaumwollstoff an und erschrak fast, als ihm etwas kleines, silbernes vor die Füße fiel.
Vorsichtig bückte er sich danach. Annes Kette mit dem Schmetterlingsanhänger musste sich in einer der Fasern verfangen haben. Ein sanftes Lächeln schlich über seine Lippen. Sie würde sich freuen, wenn er ihr das geliebte Schmuckstück zurückgab und ihr eröffnete, dass es nicht sein feuchtes Grab am Grunde des Ozeans gefunden hatte. Gleich morgen früh. Achtsam verstaute er es in der verborgenen Schublade seines Schreibtisches, die er sorgfältig wieder verschloss, ehe er das Licht wieder löschte und sich hinaus an Deck begab.
Das Rauschen der Wellen legte sich beruhigend auf seine Sinne, der frische Wind kühlte streichelnd seine verschwitzte, bloße Haut und das funkelnde Zelt der Sterne entfaltete sich über seinem Haupt, während er an das Schanzkleid trat und den Blick gen Horizont schweifen ließ. Er steckte sich das Pergament zwischen die Lippen, entzündete den Tabak und nahm einen tiefen Zug vom Rauch. Sofort musste er husten, doch die beruhigende Wirkung legte sich umgehend auf sein Denken und zum ersten Mal seit zwei Wochen kam es ihm so vor, als würden sich seine Schultern entspannen. Er fokussierte sich auf das rote Glimmen der Glut und wollte seine Gedanken wandern lassen, als sich plötzlich etwas Weiches um seine Beine wand.
Unmittelbar sah er hinunter und erkannte eine Katze oder das, was einmal eine gewesen sein mochte. Das, was verkrüppelten Ohren glich, zuckte herausfordernd und die mandelförmigen Augen fixierten ihn aufmerksam.
„Der erholsame Schlaf will Sie nicht finden, habe ich recht, Calico Jack?", ertönte scheinbar aus dem Nichts die Stimme, die viel zu lieblich für den Teufel war, dem sie gehörte.
Jack fixierte die Hexe mit seinen Blicken, die sie allerdings nicht zu stören schienen und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. "Ebenso wenig wie Sie, nehme ich an?"
Felicité kicherte. Bei den Göttern. Aus ihrem Mund klang dieses Geräusch noch irrer als aus dem Blackbeards. „Ich habe schon lange nicht mehr das Vergnügen, den geruhsamen Schlaf meinen Gast nennen zu dürfen. Viel mehr zwinge ich ihn dazu, zu mir zu kommen. Das könnten Sie auch, Jack." Ein makaberes Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen, das ihm kalte Blitze über die Haut jagte.
"Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich noch einmal auf irgendeine Magie von Ihnen zurückgreife, jetzt da Sie das Leben meines Maats bedrohen", hielt er ihr entgegen.
„Es ist keine Magie." Beinahe schon empört hob sich ihre kaum noch vorhandene Augenbraue. Mit welchen Substanzen musste ihr Gesicht in Berührung gekommen sein, dass die Haare an dieser Stelle nicht mehr nachwachsen wollten? Oder rasierte sie sie absichtlich, um so verrucht auszusehen? Sie unterbrach seien Gedankenflüsse. „Es sind die natürlichen Vorkommnisse auf unserer Erde. Man muss nur wissen, wie man sie nutzt. Oder wie man sie nicht nutzt."
Er schüttelte entschieden den Kopf und wandte sich ab, um seinen Blick erneut über den Ozean schweifen zu lassen. "Lassen Sie mich mit Ihrem Hokuspokus in Frieden."
Anders als erhofft, ertönte seinen Worten folgend nicht das sich entfernende Klackern ihrer Stiefelabsätze auf dem Holz. Sie blieb, wo sie war, während der Kater weiterhin um seine Beine herum scharwenzelte. „Hat Ihnen mein Geschenk nicht geholfen? Die Blätter, meine ich. Ich bin mir sicher, dass sie das haben."
Sein Fokus richtete sich erneut auf sie. Schweigsam zog er an seiner Zigarette, ehe er sich zu einem "Haben sie", hinreißen ließ. "Am Anfang." Er fügte seinen Worten eine anschuldigende Nuance hinzu. "Allerdings haben sie auch begonnen, meinen Verstand an der Nase herumzuführen. Haben mich Dinge sehen lassen, die nicht da waren", sprach er leise. "Am Ende hat es mich meine Tarnung gekostet. Ich bin nicht so verzweifelt, dass ich mich von Ihrem Teufelszeug in Versuchung führen lassen würde!"
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen. Ruhig und beständig, wie die Wellen in dieser Nacht.
„Das waren nicht allein die Kräuter. Es waren die anderen Umstände. Der verlorene Tag- und Nachtrhythmus, Flüssigkeitsmangel, das Ausharren in der Dunkelheit, die ständige Angst, die Sie gehabt haben müssen. Diese Dinge raubten Ihnen den Verstand, den die Blätter Ihnen erst in einer ungewohnten Schärfe geformt haben müssen." Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie sie mit den Schultern zuckte. „Aber mir soll es gleich sein, ob Sie sich selbst durch schlaflose Stunden zwingen."
Für einen Augenblick lauschte er der schweigsamen Stille zwischen ihnen. Dann nahm er einen letzten Zug von seinem Tabak und schnippte den Rest ins Meer. Er wusste nicht, was ihn dazu bewegte die folgenden Worte auszusprechen. Vielleicht seine plötzlichen leeren Hände, die nicht mehr wussten, wie er sie ohne Fesseln bewegte. Vielleicht die Angst vor weiteren Albträumen. Vielleicht die Furcht von der Schlaflosigkeit, die ihn in der endlosen Dunkelheit des Gefängnisses in den Wahnsinn getrieben hatte. Oder auch die Sorge darum, seine Verfassung nicht länger mithilfe irgendwelcher Blätter selbst manipulieren zu können. "Na schön. Zeigen Sie es mir."
***
Schwarzes Wasser. Blaue Augen, die sie entschlossen und zugleich furchtsam musterten. Kurzgeschorenes Haar, in dem schleimige, dunkelgrüne Algen hafteten. Mit Seepocken überzogene, bläulich verfärbte Lippen. Sie öffneten sich. Noch ehe ein einzelnes Wort sie überkam, wusste Anne schon, was sie ihr zurufen würden.
„Ich komme hier schon raus!" Die Stimme klang furchtbar verzehrt und dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie sie sich zuhalten wollte. Sie rührte sich nicht. Eiskaltes Grauen packte sie, als etwas von dem ölfarbenen Meerwasser aus seiner Mundhöhle lief. Erst waren es nur einzelne Schwalle, doch diese wurden rasend schnell zu Bächen, ja gar zu Flüssen.
Anne wollte den Blick abwenden, doch sie konnte nicht. Eine unsichtbare Macht ergriff Besitz von ihr und zwang sie dabei zuzusehen, wie aus dem Meerwasser geronnenes Blut wurde. Schwarz wie die Nacht. Schwarz wir ihre Seele.
Sie war schuld! Sie hatte ihn zurückgelassen! Und das war nun der Zoll, den Winston dafür verlangte. Auf ewig würde er sie heimsuchen und sie an ihr Vergehen erinnern. Daran, dass sie lediglich für den Bruchteil einer Sekunde daran gedacht hatte, ihm zu helfen. Nur bis er ihr zurief, sie solle mit Jack verschwinden. Und das hatte sie getan. Bei den Göttern ... sie hatte sich kein einziges Mal mehr zu ihm umgewandt. Als wären sie niemals Freunde gewesen, hatte sie ihm den Rücken gekehrt. Wie verdorben, wie vergiftet von ihrer Liebe zu Jack war ihr Innerstes, dass sie einen Menschen, der ihr wichtig war, einfach so dem Meer überließ?
Der Anblick des Ertrinkenden schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte das Gefühl nicht länger atmen zu können. Röchelnd schlug sie um sich, als der Sauerstoff in ihren Lungen so knapp wurde, dass sie dachte, der Tod wäre gekommen, um sie zu holen.
Sobald ihr bewusst wurde, dass es sich um einen Traum handelte, gelang es ihr die Lider aufzureißen. Schnell erkannte sie den Übeltäter, der sie in Wahrheit zu ersticken drohte. Sie zog sich das Laken vom Gesicht, das sich ihres unruhigen Schlafs wegen über jenes gelegt haben musste.
Gierig die Luft einsaugend setzte sie sich auf und fuhr sich über die schweißnasse Stirn. Die Hand auf die Brust gelegt, um ihren trommelnden Herzschlag zu beruhigen, sah sie sich in Jacks Koje um. Winston war nicht hier. Niemand bedachte sie mit einem schuldbewussten Blick. Auch sonst war der Raum verlassen, wie sie sich nur wenig später bewusst wurde. Ihre Finger fuhren über Jacks leere Seite. Das Laken war kalt. Er musste schon länger fort sein. Sicherlich plagten ihn ebenso die Alpträume.
Nach zwei weiteren Minuten erhob sie sich und streifte sich den Mantel ihrer Mutter über. Sobald sich der beige Stoff an ihren Körper schmiegte, fühlte sie sich sicherer. Anne hatte es nie erfahren dürfen, wie es sich anfühlte, wenn die liebenden Arme Eleonore Pools sie umschlossen, aber das hier kam dem wohl am nächsten.
Die frische Nachtluft begrüßte sie, als sie an Deck trat. Ihre müden Augen suchten das Schiff nach Jack ab, fanden ihn aber nicht. Ehrlich gesagt, war sie nicht böse darum. Auch wenn sie in dieser dunklen Stunde für ihn da sein wollte, war sie doch froh, dass er sie nicht dabei beobachtet hatte, wie sie selbst aus der Koje aufgeschreckt war. Die Dämonen, die sie nun heimsuchten, waren ihre eigenen und sie würde alleine mit ihnen fertigwerden. Nicht, weil sie sich nicht danach sehnte, dass Jack sie an seine Brust drückte, ihr zärtlich und tröstend über den Haarflaum in ihrem Nacken fuhr, sondern weil jener Schlimmeres durchlebt hatte als sie. Was er jetzt brauchte war kein jammerndes Weib, sondern eine starke Frau, die ihn auffing, wenn er zu fallen drohte. Und genau die wollte sie ihm sein.
Allerdings war ihr bewusst, dass sie dazu eines erholsamen Schlafes bedurfte. Sie musste die Alpträume niederringen, bevor sie zum festen Bestandteil einer jeden Nacht wurden.
Ihre Füße trugen sie ihn Richtung Treppenabgang, noch ehe sie den Entschluss richtig gefasst hatte. Auf der ganzen Searose gab es nur eine Person, die imstande war ihr dabei zu helfen. Vielleicht zwei, wenn man Felicité bedachte. Aber der Kräuterhexe vertraute sie nicht. Nicht mehr. Was, wenn sie ihr am Ende nur das gleiche Gift verabreichte, mit dem sie die Ratte seit Tagen nährte? Nein, das Risiko wollte sie nicht eingehen.
Zaghaft, da sie sich sicher war, dass Mary bereits im Reich der Träume versunken sein musste, nachdem sie den ganzen Tag alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, sich um Ben und ein paar kleine Verletzungen zu kümmern, die bei der Seeschlacht zustande gekommen waren, klopfte sie an deren Tür.
Entgegen ihrer Vermutung hörte sie auf der anderen Seite der Tür allerdings sogleich, wie etwas über den Boden geschoben wurde. Dann Schritte und schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und das warme Licht einer Öllampe ergoss sich auf die Spitzen ihrer Stiefel.
„Anne." Marys Stimme war weich und sanft, umfing sie wie eine Decke, die sich wärmend um ihre Schultern legte.
Anne betrachtete das rote Haar, das sich über die Schultern der Schiffsärztin ergoss. Welch seltener Anblick. Sie erinnerte sich nicht daran, wann Mary es zuletzt offen getragen hatte. Oder daran, dass sie es jemals getan hatte. Aber es war schön, wie sich das Licht der Lampe darin fing und es an unterschiedlichen Stellen wie dunkle Rubine schimmern ließ.
„Ich hoffe, ich wecke dich nicht", gab Anne zur Begrüßung von sich.
Mary trat beiseite und eröffnete ihr damit den Blick auf das Innere ihrer Gemächer. Einige Bücher lagen aufgeschlagen auf einem Tisch, ein Zettel mit handgeschrieben Notizen daneben. Anne erkannte die von Hand gezeichneten Abbildungen irgendwelcher Pflanzen, endlos erscheinende Listen in den dünnen Folianten. „Es ist wahrscheinlich vergebens. Custerlys zurückgebliebene Literatur ist kaum umfangreich genug, um über simple Gänseblümchen hinauszureichen, aber ..." Mit einer Geste ihrer Hand winkte sie Anne zu sich hinein. "Meine Gedanken haben nicht aufgehört das Rätsel um Scarlett lösen zu wollen und so habe ich mich der Recherche gewidmet", erklärte sie auf Annes fragenden Blick hin. "Wie geht es dir? Und Jack?"
„Wie soll es ihm schon gehen? Er hat unbeschreiblich Schreckliches erlebt. Wie so viele von uns", erwiderte Anne, während sie an den Regalen entlang schritt und die Beschriftungen entzifferte. „Ich frage mich, ob du etwas besitzt, das einem einen traumlosen Schlaf bescheren kann."
Auch wenn sie ihr den Rücken zugewandt hatte, wusste Anne, dass Mary sie aufmerksam beobachtete. Es fühlte sich an, als würde der Fokus der Schiffsärztin sich wie eine stärkende Hand auf ihre Schulter legen. "Ist es für ihn? Oder für dich?"
„Tut das denn etwas zur Sache?", stellte Anne betont monoton eine Gegenfrage.
Eine verneinende Bewegung von Marys Kopf, die viel eleganter wirkte, als ein bloßes Kopfschütteln, begleitete deren Worte. "Ich bereite dir eine Mischung aus Kamille, Melisse, Baldrian und Hopfen zu. Vielleicht, wenn wir Glück haben, finde ich irgendwo ein paar Reste von Passionsblume", überlegte sie laut und begann damit getrocknete Kräuter aus einem Regal mit unzähligen Schubladen zusammenzusuchen. "Du braust es auf wie Tee. Lass es etwa zehn Minuten ziehen."
Anne beobachtete Mary bei ihrem Tun, lehnte sich dabei wartend an einen der Schränke. „Und wer ihn trinkt, wird sicherlich von Träumen verschont bleiben?" Es war von Bedeutung, dass dem so war. Um einen klaren Verstand zu wahren und nicht dem Wahnsinn zu verfallen, musste sie Winstons Geist loswerden.
"Dafür gibt es keine Garantie, Liebes." Das Lächeln in Marys Stimme klang nachsichtig. "Es hilft dir fürs Erste Ruhe und Schlaf zu finden. Aber auf Dauer ist es nicht weise, seine Träume zu lange zu verleugnen. Sie sind nicht dein Feind, auch wenn es beängstigend sein kann, sich ihnen zu stellen. Aber wenn du versuchst die Schatten zu überdecken und zu ignorieren, werden sie hinter deinem Rücken wachsen und dich verschlingen." Inzwischen war sie fertig damit, die Kräuter in einem Säckchen aus Gaze zu sammeln und hielt Anne dieses entgegen. Ihre warme weiche Hand legte sich vertrauensvoll auf Annes, als sie dieses ergriff. "Du darfst dir Zeit geben, ehe du dich ihnen stellst, aber versuche nicht sie wegzusperren."
Anne biss sich in einer unsicheren Geste auf die Unterlippe. So fest, dass sich kurz darauf der metallische Geschmack von Blut auf ihrer Zunge ausbreitete. „Es geht nicht anders ... Nicht bis wir unser nächstes Vorhaben hinter uns gebracht haben. So lange muss dein Tee reichen und mir hoffentlich dabei helfen ..." Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass Mary verstanden hatte, dass es um sie ging. Und um zurückzurudern war es nun zu spät. Sie hatte Mary mit ihrer Antwort eine Bestätigung geliefert. Verdammt. Der Schlafmangel ließ sie immer unkonzentrierter werden. Erst hatte sie zwei Wochen keinen gefunden, weil Jack nicht bei ihr gewesen war und nun hielt sie Winston davon ab, in die schönen Seiten des Reichs der Träume einzutauchen.
"Ich bin da, Anne", unterbrach Marys warme Stimme ihre sprunghaften Gedanken. "Für dich. Wenn die Geister der Erinnerungen dich nicht schlafen lassen, komm zu mir. Wenn du es wünschst, können wir darüber sprechen. Wenn du denkst, es hilft dir, werde ich dir zuhören."
„Du würdest es nie verstehen ... Du warst nicht dabei ... Es ..." Anne rang nach den richtigen Worten, verlor sich allerdings noch während sie sprach im Tannengrün von Marys Augen. Jenes strahlte so viel Ruhe, so viel Sicherheit aus, dass Anne nichts lieber wollte, als sich hineinsinken zu lassen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Was war nur los mit ihr? „Ich sollte jetzt gehen."
Marys letzte Worte jagten ihr einen Schauer der Zuversicht über den Rücken.
"Ich muss es nicht verstehen. Es reicht, wenn du es tust. Komm wieder, wenn du mich brauchst."
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