Gnade eines süßen Vergessens II
20. März 1822
- Ort unbekannt
"I Know What I Know, You Know? If You Don't Know, Then You Don't F***ing Know, Do Ya?" - Alfie Solomons, Peaky Blinders
Die Schwärze seines Schlafes veränderte sich, wurde abgelöst von verwaschenen Bildern eines Inselparadieses, über dem sich langsam die Nacht herabsenkte. Er wandelte alleine auf einer überfüllten Straße, auf der die Huren ebenso zahlreich aufgekreuzt waren, wie ihre Freier. Er betrat einen Laden, der voller Pflanzen war und aus dem er nur kurze Zeit später mit einem kleinen Säckchen getrockneter Blätter und einer gläsernen Phiole, einer hellgrünen Flüssigkeit wieder herausgetreten war, die so eine seltsame Farbe aufwies, dass ihr Schein beinahe an die Fluoreszenz des Meeresleuchtens erinnerte. Das irre Kichern einer gesichtslosen Frau. Das herrische Miauen einer Katze.
Er trat auf die Straße und wollte sich bereits in eine andere Richtung abwenden, als ihm jemand vertrauensvoll einen Arm um die Schulter legte. Er hörte geflüsterte Worte, deren Inhalt er nicht wiedergeben konnte und als er an sich herabsah, erkannte er den Lauf einer Pistole, der sich in den dunklen Stoff seines Hemdes drückte. Ein raues Lachen. Ein Mann, der eine Augenklappe trug. Zwei andere, die sich rechts und links von ihm postierten und ihn mit in eine abgeschiedene Gasse drängten. Das wilde Klopfen seines Herzens in seiner Brust. Ein schmutziges, stinkendes Tuch, das sie mit einem Mal vor seinen Mund und seine Nase hielten, bis ihm schwindelig wurde. Als er nicht aufhörte sich zu wehren ... Ein stechender Schmerz an seinem Hinterkopf. Finsternis.
Jack schreckte auf. Sein Herzschlag donnerte durch seinen Brustkorb, sodass er glaubte, es würde im nächsten Augenblick aus seinen Rippen hervorbrechen. Sein Mund war trocken und sein Haar schweißnass.
Die Dunkelheit um ihn herum hatte sich verändert, glich mehr einem verwaschenen Grau und es gelang ihm, die Umrisse der Gitterstäbe vor sich auszumachen. Licht drang durch Risse und Löcher in den Teernähten der Bordwand zu ihnen hinein.
Schwer atmend setzte er sich auf.
Sein Traum ... Es war keiner gewesen. Nur eine schüchterne Erinnerung, die sich ihm gezeigt hatte.
Hastig verstaute er Annes Schmuckstück wieder in einer der gut verborgenen Innentaschen seines Hemdes, ehe er dazu überging seine restlichen Taschen nach den weiteren Errungenschaften des vergessenen Abends zu durchforsten. Sein Finger berührte etwas Scharfes und ihm entfuhr ein aufgebrachter Fluch. Als er die Hand zurückzog, waren seine Finger rot vor Blut.
"Verfluchter Mist!"
Die Phiole mit dem Schmerzmittel für Cherleton! Sie musste zerbrochen und die Arznei vom Stoff seines Mantels aufgesogen worden sein. Vorsichtig, soweit es mit den Ketten an den Händen möglich war drehte er die Innentasche auf links und schüttete die Scherben heimlich auf den Boden der Zelle, ohne dass einer der anderen Insassen aufwachte. Probehalber leckte er am Innenfutter des Kleidungsstücks. Es schmeckte bitter. Vielleicht würde es ihm helfen, dem hämmernden Kopfschmerz Einhalt zu gebieten.
Doch da war noch mehr: In seiner anderen Tasche befand sich das Beutelchen mit den Blättern. Jack fischte eines heraus und begann konzentriert darauf herumzukauen. Sofort breitete sich die inzwischen bekannte Taubheit wieder in seinem Mund aus und er spürte, wie das Zittern und die Schwäche in seinen Gliedmaßen nach einigen Minuten nachließen. Sogar sein allgegenwärtiger Durst verwandelte sich in eine lediglich schüchtern tänzelnde Flamme.
Verflucht, er brauchte einen Plan! Er musste überlegen, welche Informationen ihn am Leben erhalten würden und welche es wert waren, für die Zukunft aufgespart zu werden, um ihn im Falle eines Falles vor dem Galgen zu retten. Was konnte er der Marine auf die Nase binden, um sie in die Irre zu führen? Was konnte er erzählen, um die Legende Calicos zu schützen? Er wusste nicht, wie lange diese Reise ins Ungewisse andauern würde und wie viele Treffen mit Davies ihm vergönnt waren, doch er musste es schaffen, ihn am Ende des Weges so weit auf seiner Seite zu haben, um ihm zu vertrauen. Ihm womöglich einen Posten in seiner Mannschaft anzubieten, damit er sich beim nächsten Landgang aus dem Staub machen konnte.
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, ehe das Geräusch polternder Schritte nicht nur ihn aus seinen Gedanken aufschrecken ließ, sondern auch seine Mitgefangenen aus ihrem gnadenvollen Schlummer riss. Eine neue Kerze wurde mitgebracht und ihr Licht ersetzte das der alten am Abend zuvor. Haferbrei und Wasser wurde verteilt. Als man die Tür zu seiner Zelle aufschloss, war er bereits auf den Beinen.
Das Einauge, Mr. Jones, musterte ihn mit einem misstrauischen Zug um den Mund.
"So so ..." begann er mit surrender Stimme. "Das schwarze Vögelchen ist also bereits auf den Beinen? Ein paar Schlucke Wasser und eine Mütze voller Schlaf und es ist wieder im vollen Besitz seiner Kräfte?" Er spuckte braunen, vom Kautabak gefärbten Speichel auf den Boden.
"Aye!" Jack hielt seine Antwort schlicht. Bei allen Göttern, mit seiner eigenen Stimme zu sprechen, fühlte sich so gut an im Gegensatz zu dem heiseren Röcheln, das er gestern noch von sich gegeben hatte. Dennoch sagte er nichts weiter, da er sich darüber bewusst war, dass das Einauge nur auf ein einziges falsches Wort von ihm wartete, um ihm die Fresse zu polieren, wie er es offenbar mit Jerome getan hatte.
Die Männer flankierten ihn in den schmalen Gängen und Jacks Herz drohte überzulaufen vor Freude, als er ohne fremde Hilfe einen Schritt nach dem nächsten machte. Seine Beine und seine Muskeln zu bewegen kam einer Art Erlösung gleich, von der er nicht gewusst hatte, dass es ihm danach verlangte. Die aufgehende Sonne stand in seinem Rücken und warf seinen langen Schatten vor ihm auf die Planken des Decks. Endlich erkannte er einen Kurs! Jack unterdrückte ein freudiges Geräusch, sobald er begriff, dass sie geradewegs nach Osten segelten. Viel zu schnell hielten sie vor der Tür des Käpt'n an, die sich sogleich öffnete. Ein Schauern überzog seine Haut, als er in das freudig strahlende Lächeln Käpt'n Davies blickte.
"Ah, Mr. Bonny, mein Freund."
Jack nickte ihm zu und beobachtete, wie jener mit einer weißen Servierte ein paar Krümel von seinem Hemd wischte.
"Käpt'n!"
"Kommen Sie herein, Gentlemen, was darf ich Ihnen zu trinken anbieten lassen. Kaffee? Tee?"
"Kaffee. Danke, Sir." Er blieb stehen, sah dabei zu, wie Davies sich an einen reich gedeckten Frühstückstisch an die Seite des Marineoffiziers Mr. Pearl sinken ließ. Die Ketten, die seine Hände aneinander fesselten, klirrten, während er seine Tasse entgegennahm und erinnerten ihn daran, dass er kein Gast dieses Käpt'n war. Jack vernahm ein unwilliges Grummeln in seinem Rücken, das er dem Einauge zuschrieb. Offenbar war ein solch zuvorkommender Umgang mit Gefangenen kaum üblich. Er rechnete sich dieses Handeln auf seine Chancen an. Genüsslich trank er einen Schluck des schwarzen Gebräus. Zur Hölle, er hätte ein ganzes Königreich für eine Zigarette gegeben! Aber er verbot sich selbst darum zu bitten.
Dann ließ er seinen Blick über die Mahlzeit gleiten, die Pearl und Davies soeben offenbar beendeten und runzelte die Stirn. Sein Magen sollte angesichts all der Köstlichkeiten knurren wie der Donner eines Gewitters, doch aus seiner Mitte vernahm er lediglich ein erheitertes Säuseln. Er wusste, dass er hungrig sein musste, aber er hatte kaum Appetit. Misstrauisch schob er es auf das Blatt, das er in der Innenseite seiner Wange zu einem kleinen Knäuel zusammengestaucht hatte.
"Also Mr. Bonny. Wir sind gespannt. Erzählen Sie uns von Ihrem Käpt'n."
Jack hob die Augenbrauen.
"Was genau wollen Sie wissen?"
"Alles! Einfach alles kann von Bedeutung sein. Seit wann segeln Sie unter ihm?"
Jack zuckte mit den Schultern und tat so, als müsse er überlegen. Womöglich würde es ihm in die Karten spielen, wenn er vorgab, nicht an der Kaperung der Searose mitgewirkt zu haben.
"Ich bin der Crew vor einem knappen Jahr beigetreten, als er in Harwich nach neuen Besatzungsmitgliedern gesucht hat", log er. "Dass er auf der Searose in den Hafen eingelaufen ist, hat natürlich dazu beigetragen, dass er innerhalb von nur drei Tagen an die hundertdreißig Männer verpflichten konnte."
Er trank noch einen Schluck von seinem Kaffee.
"Wie stark ist Ihre Besatzung jetzt? Wie viele Männer segeln unter seinem Kommando?"
Jack atmete aus, als müsste er eine Zahl überschlagen. Es war gut, wenn man die Stärke der Mannschaft unterschätzen würde, aber es durfte auch nicht unrealistisch sein.
"Hundert sind vielleicht noch übrig. Vielleicht einhundertzehn. Wir erlitten einige Verluste, als ..." Er unterbrach sich und biss sich auf die Unterlippe.
Die beiden Würdenträger hingen gebannt an seinen Lippen.
"Als was?"
"Als wir nach Indien segelten, um uns einen Sklavenschatz anzueignen."
Jack beobachtete, wie Davies und Pearl einander bedeutsame Blicke zuwarfen.
"Die Schlacht von Ratnagiri war wochenlang in jedweden Rängen der Royal Navy in aller Munde. Ihr Käpt'n soll dort mit nur dreißig Männern ein Bordell zerstört und die gesamte Stadt in Schutt und Asche gelegt, sowie den Tod einiger Dutzend Männer der Marine zu verantworten haben."
Jack unterdrückte ein stolzes Grinsen.
"Wir waren nur zu zwölft. Was immer Sie sonst gehört haben ..."
Stille. Kritische Blicke. Unglauben.
"Was ist mit dem Gerücht, dass er Frauen in seine Mannschaft lässt?"
"Es ist wahr."
"Kommen Sie schon, Bonny. Reden Sie!"
"Es gibt ein Mädchen in der Küche. Eine fähige Ärztin, die den alten, alkoholkranken Shipdoctor abgelöst hat und dann gibt es noch die Navigatorin. Eine besserwisserische und nervige Frau, die sich zu viel auf ihren Posten einbildet."
"Teilt Ihr Käpt'n mit einer von ihnen das Bett?"
"Mit allen dreien. Anfangs zwingt er sie dazu." Er hielt inne. "Aber dann gehorchen sie ihm blind." Wunschdenken.
Amüsiert beobachtete er, wie die ehrbaren Würdenträger erbost die Lippen aufeinander pressten. Auch wenn die Rolle der Frau in angesehenen Kreisen nichts weiter war, als ein Schmuckstück an der Seite ihres Mannes, waren jene doch dazu bestimmt dem Schutze ihrer Ehemänner zu unterliegen. Dass Calico Jack sich dieses Geschlechts bemächtigte, stieß offenbar auf Ablehnung und Missfallen.
"Das ist dermaßen unehrenhaft. Er verteilt Posten also aufgrund von ... Gefälligkeiten?"
"Aye, Sir. Genau so ist es."
"Wie sind Sie an Ihren Posten gelangt?"
"Er hat diesen einen Steuermann ... Jonah heißt er. Er ist ein ehemaliger Sklave und ein Riese von Mann. Er hat mich und meine Fähigkeiten unter die Fittiche genommen."
Zufriedenes Nicken.
"Wie sieht er aus? Gibt es ein besonderes Merkmal, anhand dessen wir Ihren Käpt'n während eines Gefechts erkennen können?"
Jack trank den letzten Schluck aus seiner Tasse. Das Porzellan klirrte nachdrücklich, als er es auf der Untertasse abstellte.
"Für diese Information fordere ich ein Entgegenkommen Ihrerseits!"
Zögern.
"Woran haben Sie gedacht, Mr. Bonny?"
"Sie müssen einen Arzt in die Zellen schicken und Mr. Laroche medizinisch behandeln lassen. Die Wunden fangen bereits an sich zu entzünden. Der Mann stirbt Ihnen sonst weg, wenn Sie es nicht tun!"
"Also das ist doch ..." Das Einauge in seinem Rücken verstummte jäh, als Pearl die Hand hob, um ihm Einhalt zu gebieten.
"Wir werden jemanden nach unten schicken, der sich die Verletzungen ansieht, Mr. Bonny. Bitte fahren Sie fort."
Jack hörte das unzufriedene Grummeln, das ihm ungute Schauer über die Haut jagte. Was, zum Henker, war soeben in ihn gefahren? Er kannte den Mann nicht und dennoch hatte er sich gerade für ihn ausgesprochen, als wäre er Teil seiner Mannschaft. Es kam ihm vor, als hätte Anne mit seiner Zunge gesprochen. Dennoch.
Jetzt wusste er, dass er Dinge in Austausch für Informationen verlangen konnte. Ohne weiter zu zögern fuhr er fort und konnte nicht verhindern, dass sich dabei einer seiner Mundwinkel in verräterischer Manier anhob.
"Käpt'n Calico hat so hellblondes Haar, dass es in der Sonne beinahe weiß erscheint. Seine Haut ist blass und seine Augen haben ein helles Blau. Ein Hauch von Wahnsinn liegt in ihnen. An seiner Linken fehlen seit kurzem Daumen und Zeigefinger." Samuel Cherleton.
Unschlüssige Blicke. Bedienstete begannen das Porzellan und die Reste des Frühstücks abzuräumen. Jack biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Er betete zu allen blinden Göttern, die ihn noch niemals angehört hatten, dass wirklich niemand der Anwesenden die Wahrheit kannte.
"Was ist mit Calicos Tätowierungen?", fragte Davies schließlich nach. "Man erzählt sich, Ihr Käpt'n hätte sich seine eigene Flagge auf der Brust verewigen lassen."
"Und auf seinen Armen hat er all die Schiffe aufgelistet, die seinen Plünderungen erlegen sind", fügte Pearl an. "So erzählt man sich."
Jack nickte. Er wollte sie in dem Glauben lassen, dass sie an jenem Körperteil nach dem verräterischen Zeichen suchen mussten.
"Ein jedes Mitglied der Mannschaft trägt das Zeichen irgendwo an seinem Körper. Es ist nichts Besonderes. Sein erster Steuermann, Jonah. Er ist dieser Körperkunst mächtig." Er hob sein Hemd ein Stück weit an, um zu verdeutlichen, was er meinte. An seinem linken Hüftknochen prangte das Abbild eines Steuerrades.
Pearl und Davies kniffen wie geblendet die Augen zusammen, als wäre es ihnen unangenehm gewesen, seine nackte Haut zu betrachten. Jack biss die Zähne zusammen, um nicht überheblich zu lächeln. Gleichzeitig fuhr ihm ein Schauer der Angst über den Körper. Niemand auf diesem Schiff durfte jemals auch nur einen Blick auf seine nackten Arme und seinen Rücken werfen! Das Eis unter seinen Füßen wurde dünn. Er hörte es bereits knacken.
"Wir danken Ihnen für diese ... ausführliche Unterredung, Mr. Bonny. Wir werden uns nun beraten, die Informationen zu Papier bringen und alsbald wieder nach Ihnen schicken."
Er machte eine wegwedelnde Handbewegung.
Als das Einauge nach den Ketten an seinen Handgelenken griff und ihn gewaltsam mit sich aus der Kajüte des Käpt'n zerrte, zweifelte Jack keine weitere Sekunde daran, dass sein Einspruch für Jerome unten in der Zelle ein Fehler gewesen war.
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