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01. März 1822
Nassau
„Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe.
Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn."
~ Friedrich Nietzsche
Brennender Schmerz jagte durch ihre Adern, steckte ihren ganzen Leib in Brand. Eine innere Stimme schrie sie flehend an, sich zu setzen und ihren geschundenen Körper keinen weiteren Strapazen mehr zu unterziehen.
Aber sie konnte nicht. Sie konnte nicht stehenbleiben, weil sie wusste, was dann geschehen würde. Blackbeard hatte Samuel den verdammten Daumen abgetrennt! Dieser Bastard von Piratenkönig ... und die anderen Finger würden folgen, wenn sie sich nicht beeilten. Vielleicht sogar direkt der zweite Daumen, damit beide Hände ihres einstigen Freundes unbrauchbar wurden. Auch wenn der Gedanke makaber war, ein Glück war er nicht länger Späher, sondern Quartiermeister. Auf diesem Posten konnte er sich eher mit der fehlender Gliedmaße arrangieren, als damit täglich in der Takelage empor klettern zu müssen.
Es war ihre Schuld. Sie bereute es nach wie vor nicht das Leben dieses mickrigen Wurms beendet zu haben, aber dass sie dabei nicht diskreter vorgegangen war, das bereute sie sehr wohl.
Die Kiefer fest aufeinander gepresst, hinkte sie weiter am Pier entlang. Jack schlenderte scheinbar völlig gleichgültig neben ihr her. Die schwere Tasche mit dem Silber für Blackbeard, die von seiner Schulter hing, gab bei jedem seiner Schritte ein wohlklingendes Geräusch von sich, was dafür sorgte, dass sich die gierigen Augen aller auf sie richteten. Doch auch jene schienen Jack nicht im Mindesten zu beeindrucken.
Anne wusste, dass es nichts weiter als eine Maske war, die er sich aufgesetzt hatte. Angst suchte ihn heim und diese Furcht ließ ihn stets zu diesem eiskalten Arschloch werden. Konnte sie es ihm verübeln? Nicht, dass er wütend auf sie war. Aber die letzten Worte, die er auf der Searose an sie gerichtet hatte, hatten dafür gesorgt, dass sich eine Wut in ihrem Magen zusammengeballt und bis jetzt nicht wieder gelockert hatte. Sie würde ihn dazu bringen, sich dafür zu entschuldigen. Falls sie überlebten, was ihnen bevorstand.
Bei den Göttern, was hatte Blackbeard sich für sie ausgedacht? Lag Jack mit seiner Vermutung richtig und er ließ sie einzig und allein aus dem Grund zu ihm kommen, um Anne vor seinen Augen hinzurichten? Womöglich seinen Haien als Happen vorzuwerfen?
Ein eiskalter Schauer wand sich ihr Rückgrat hinab. Ihr Atem ging stoßweise und auch wenn sie die wenig anmutige Revenge bereits sehen und den restlichen Weg binnen weniger Sekunden hätten überbrücken können, blieb sie stehen. Sie umklammerte ihren schmerzenden Arm, dessen Schulter Mary wieder eingerenkt hatte und fixierte Jack.
Sollten das wirklich ihre letzten gemeinsamen Momente werden, dann wollte sie diese gewiss nicht so antreten. „Warte."
Neugieriges Interesse lag in seinem Blick, als er sich ihr zuwandte. Die Hoffnung, nein, die Bitte, ihre Entschlossenheit zu überdenken und von ihrem Plan abzulassen. Gemächlich zog er an seiner Zigarette. "Was?"
„Ich liebe dich, Jack. Egal, was uns gleich erwartet. Egal, ob du ohne mich dort herauskommst, oder ob wir beide unser Ende auf diesem Schiff finden werden und egal, was du vorhin zu mir gesagt hast. Ich wollte, dass du das weißt. Und ich wollte ... Ich wollte mich bei dir bedanken." Ein schwaches, aber warmes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
Sie erkannte, wie sein Mundwinkel zuckte. Ein verräterisches Beben erfasste seine Unterlippe, ehe er ein weiteres Mal an seiner Zigarette zog, bevor er jene achtlos in den Rinnstein schnippte. Die Kälte in seinem Blick schmolz, hielt sich jedoch in seinen Worten.
"Du schuldest mir keinen Dank, Anne. Du schuldest mir mehr Achtsamkeit." Er trat nahe an sie heran. Sie fühlte seine warmen Hände sanft ihre Wangen berühren. Seine Lippen streiften die ihren voller Zärtlichkeit.
"Es gibt keinen See, kein Meer und keinen Ozean, in dem ich lieber untergehe und ertrinke, als in dir, Anne Bonny!", flüsterte er.
Dann gab er sie frei.
Ohne auf sie zu warten ging er weiter. Sie sah ihm noch einen Herzschlag lang nach, bevor sie ihm humpelnd folgte.
Hätte er sie doch nur nach dem Warum gefragt. Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie dankbar für die Chance war, die er ihr vor einem Jahr gegeben hatte. Dass er ihr völlig neue Welten offenbart und sie zu der freien, stolzen und unzähmbaren Frau gemacht hatte, die sie heute war. Aber vielleicht war es besser, dass er ihr die Gelegenheit nicht gab, sich all ihre Gedanken und Gefühle von der Seele zu reden, denn diese Worte hätten den bittersüßen Geschmack eines Abschieds getragen. Und verabschieden würde sie sich von ihm erst, wenn sie an der Pforte zur Hölle stand.
Zugegeben, das Eisentor, das den Eingang der Revenge markierte, kam dieser ziemlich nahe. Aber hatten sie nicht schon mal einen Ort betreten, der der Unterwelt geglichen hatte? Das Bordell in Ratnagiri. Sie hatten diesen Tag überlebt, den Kampf und die Bilder, die sich für immer in ihren Erinnerungen eingebrannt hatten. Vielleicht würden sie auch aus dieser Sache lebendig herauskommen, sich herauswinden wie ein Fisch aus den Fängen eines Anglers.
Noch war nicht die Zeit um aufzugeben. Sie hatten noch immer eine Chance. Es war noch nicht vorbei.
Der dunkelhäutige Wachposten nahm sie auch dieses Mal in Empfang und führte sie erneut schweigsam über das Deck, hin zum Treppenabgang, bis in den modrig riechenden Bauch des Schiffe hinab.
Vor einer schmalen Treppe hielt man sie auf, durchsuchte jede kleine Falte ihrer Kleidung nach Waffen, versteckten Messern und Schießpulver, ehe man ihnen gestatte weiter zu gehen.
Anne wollte es nicht, aber sie konnte das vor Furcht schnelle Schlagen ihres Herzens nicht verhindern. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an, ganz so als hätte sie eine Handvoll Sand geschluckt.
Zu der Feuchtigkeit, die die Luft schwängerte, gesellte sich eine weitere Note hinzu, die ihr die Luft aus den Lungen und den Schweiß auf die Stirn trieb: Blut.
Ein Schrei. Sie zuckte zusammen, beherrschte sich, nicht an dem Wachposten vorbei zu hinken und allen voran in die mörderische Kajüte des Käpt'ns zu stürzen.
Der ohrenbetäubende Schmerzenslaut ebbte in der gleichen Sekunde zu einem winselnden Jammern ab, in der sie den schlecht beleuchteten Raum betraten, in dem sich unzählige Reichtümer stapelten.
Anne wurde schlecht. Dann sank sie auf die Knie. Sie konnte keinen weiteren Schritt mehr tun, sobald sie Samuel erblickte, wie er an dem massiven Tisch aus Teakholz stand, die linke Hand von zwei Männern auf die Platte gepresst. Und Blackbeard stand grinsend daneben, hielt einen Stummel in die Höhe, den Anne als Zeigefinger identifizierte.
Sie übergab sich. Erbrochenes befleckte die Dielen unter ihrem zitternden und mit Schweiß bedeckten Leib, kroch in die Zwischenräume ihrer Finger, mit derer Hilfe sie sich in kniender Position hielt.
Blackbeard, angezogen von dem resignierenden Geräusch, das sie dabei von sich gab, richtete den Blick mit den irre funkelnden Augen auf sie und Jack. Dann lachte er. „Ah! Meine Freunde! Calico Jack! Anne Bonny!"
Jacks Antwort drang nur dumpf an Annes Ohren, während sie darum rang, wieder Herrin über ihren eigenen Körper zu werden.
"Es ist heuchlerisch von Freundschaft zu sprechen, während Sie den Finger einer meiner Männer in den Händen halten und meine Navigatorin so zurichten, dass sie es kaum schafft, einen Fuß vor den anderen zu setzen", knurrte er, obwohl er wissen musste, dass seine Worte auf taube Ohren stoßen würden. Oder schlimmer gar, das Feuer des Wahnsinns nur noch weiter anfachen würde, das Blackbeards Verstand befallen hatte. Er schob sich die Tasche von den Schultern und ließ diese vor sich auf den Boden fallen, wo sie mit einem vielversprechenden Klimpern aufkam.
Anne musterte das schwere Mitbringsel, das sie kaum registriert hatte, als sie aufgebrochen waren. Dabei wischte sie sich die Reste des Erbrochenen aus dem Mundwinkel.
"Die geforderte Summe", erklärte Jack indessen. "Und fünf Pfund Sterling obendrein, um die Schuld zu begleichen."
Aber Blackbeard schüttelte den Kopf. „Habt ihr meine schönen Regeln vergessen?"
Schwankend hievte sich Anne zurück auf ihre Beine, keuchte, sobald ihr verwunderter Fuß Boden fasste und griff instinktiv zu ihrer rechten Seite, um Halt zu finden. Ihre Finger bekamen eine massive Bronzefigur zu fassen, die eine Meerjungfrau verkörperte.
Ihre Aufmerksamkeit sog sich an Samuel fest, dessen Hand noch immer von zwei Männern auf dem Tisch gehalten wurde, obwohl der Quartiermeister kaum noch bei Bewusstsein schien und jegliche Spannung aus den Muskeln in seinem Arm gewichen war. Blut strömte aus der offenen Verletzung, die der abgetrennte Zeigefinger hinterlassen hatte. Und dann brach er zusammen.
Die Schergen Blackbeards machten sich eine Freude daraus, als sie ihn einfach losließen und er infolgedessen wie ein nasser Sack auf die Planken knallte.
Das Blut rauschte in Annes Ohren.
"Keineswegs, Sir. Aber Ihre Regeln beinhalten einen Preis, den ich nicht zahlen werde!"
Blackbeard seufzte theatralisch auf, trat energischen Schrittes auf sie zu und baute sich vor Jack auf, während er ihm mit der abgetrennten Gliedmaße auf die Brust tippte.
Anne beobachtete, wie Samuels Fingerspitze mit jedem Wort, das Blackbeard sprach, einen blutigen Abdruck auf Jacks weißem Hemd hinterließ. "Immer dieses unnötige Aufbegehren am Anfang! Glauben Sie mir, wenn ich ihnen verrate, dass ein jeder einzelne Kapitän eines Schiffes sich irgendwann einmal fügt!", zischte er wütend. "Es führt kein Weg daran vorbei, Calico Jack. Einer meiner Männer gegen einen von Ihren!"
Jack ließ seine Worte unbeeindruckt über sich ergehen. Lediglich ein Zucken seines kleinen Fingers verriet Anne seine innere Anspannung.
Als der König der Insel geendet hatte, wies Jack mit dem Kopf in Richtung des Tisches, an dessen Füßen Samuel noch immer reglos lag.
"Nehmen Sie ihn!"
Hatte sie die Worte bisher einfach auf sich einrieseln lassen, erwachte sie jetzt aus der Art Starre, in deren Griff sie sich befand, seit sie diesen gottverlassenen Raum betreten hatten. „Nein!"
Wie konnte Jack nur? Samuel hatte nichts mit alledem am Hut! Sie trug die Schuld, nicht er!
Blackbeard lachte rau, wandte sich nun ihr zu und hielt ihr den abgetrennten Finger entgegen. „Mehr ein Käpt'n als der echte es ist." Er zwirbelte sich den dunklen Schnurrbart. „Sehen Sie, Mr. Calico, diese Antwort hätte ich erwartet. Dass sie Ihren, nun ... zugegeben .... Jetzt wohl nicht mehr ganz so fähigen Maat über das Wohl einer Frau stellen. Huren fürs Bett sind alle ersetzbar, aber Männer mit einer solchen Kenntnis über Weine nicht. Jetzt sehen Sie mich doch nicht so verdutzt an, Miss Bonny. Natürlich habe ich mich mit dem lieben ... wie auch immer der Name war ... gut unterhalten, bevor die erste Stunde vorbei war und ich ihm den Daumen abhackte."
Er lächelte. Widerlich süß. „Er hat tatsächlich ganz fest daran geglaubt, dass Sie hier auftauchen, bevor es dazu kommt. Schade um die beiden guten Finger. Aber er wird lernen damit zu leben."
Die letzten Worte brauchten etwas länger, bis sie in Annes Verstand sickerten.
Blackbeard würde Samuel nicht töten. Er war nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Erleichterung ergriff von ihr Besitz.
"Es freut mich, dass wir Sie überraschen konnten, Mr. Blackbeard." Jacks Stimme war weich wie Butter, als er sprach. "Tatsächlich hat die Wahl Ihres menschlichen Pfands lediglich Miss Bonny heraufbeschworen. Meinetwegen hätten Sie den Mann filetieren und den Haien als Festessen servieren lassen können." Er nickte zu der offenen Luke hinüber. "Ich hätte ihn nicht vermisst. Ich hätte Segel gesetzt und wäre aus Ihrem dem Wahnsinn verfallenen Königreich verschwunden!" Die Worte spuckte er ihm entgegen. Dann hielt er inne, als würde er sich an etwas Zurückliegendes zu erinnern versuchen.
"Aber dann fiel mir unsere gestrige Begegnung ein. Sie haben sich bereits eines Mannes meiner Mannschaft bemächtigt. Ich habe den Soll bereits im Voraus bezahlt, den Sie fordern. Wir sind quitt!"
Anne hielt den Atem an. Sie verstand selbst, wie dünn und brüchig dieser Strohhalm war, nach dem Jack griff.
„Sie sprechen von dem Mann, den ich an meine Haie verfüttert habe? Ach Jack, das war doch nur ein Willkommensgeschenk." Er lachte wieder. „So ist es eben üblich, neue Gäste auf Nassau zu begrüßen. Außerdem funktioniert hier nichts nach dem Grundsatz Auge um Auge, Zahn und Zahn. Ich glaubte Ihnen unmissverständlich klargemacht zu haben, dass unabhängig davon, was ich oder meine Männer tun, an keinen von uns Hand angelegt werden darf." Ein knappes Augenzwinkern in Annes Richtung folgte. „Doch Ihre kleine Raubkatze meinte dennoch, dass sie sich von der Leine befreien müsste, um den armen Sully an seinen eigenen Eiern ersticken zu lassen."
Blackbeard seufzte theatralisch. „Das ganze erheitert mich mehr, als Sie glauben wollen. Sully war eine madige Fliege. Hätte er in meinem Gefüge keine Rolle innegehabt, die ich nur schwer verschmerzen kann, wäre ich dazu geneigt gewesen, die zwei Finger Ihres Quartiermeisters als ausreichende Strafe zu betrachten. Aber Sully hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die mir sehr nah am Herzen lag."
"Und welche Rolle wäre das, Mr. Blackbeard?", fragte Jack. Ungeduld schmiegte sich um seine Worte. Der Unwillen, das Theater des selbst ernannten Herrschers weiter mitzuspielen.
„Wie erfreulich und höflich, dass Sie nachfragen. Ich dachte mir nämlich, dass es nur fair wäre, wenn Sie sich nun an Sullivans Stelle um diese Aufgabe kümmern, meinen Sie nicht auch?"
Anne hielt den Atem an. Ganz egal, was Sully für Edward Teach hätte tun sollen, dass dieser Auftrag nun unerfüllt blieb, war ihre Chance! Egal um was es sich dabei handelte, sie würden es tun. Jack würde annehmen. Ganz bestimmt. Und wenn nicht, dann würde sie den Auftrag akzeptieren. Auch wenn es womöglich bedeutete, erneut morden zu müssen. Was war schon einer mehr auf der Liste derer, die sie ihrer Leben beraubt hatte?
"Rücken Sie schon raus mit der Sprache, verflucht!"
Blackbeard dachte gar nicht daran, sein kleines Spielchen abzukürzen. Er schritt zurück an seinen Tisch, um sich mit dem Rücken dagegen zu lehnen. Samuels Finger schnippte er auf die Platte, als handelte es sich dabei um einen Zigarettenstummel und nicht um eine abgetrennte Gliedmaße. „Wie Sie wissen, trage ich die Verantwortung dafür, dass sich die Marine von Nassau fern hält. Aber wie ich erfahren musste, treiben sich auf dieser Insel infiltrierende Spione herum. Und die sollte Sullivan für mich ausfindig machen."
Anne registrierte am Rande, wie Jack erleichtert ausatmete. Doch dann zogen sich seine Augenbrauen zweifelnd zusammen.
"Sie haben diesen alkoholkranken Nichtsnutz Sully auf hochgradige Marinespione angesetzt?", fragte er ungläubig. "Wollten Sie ihn loswerden?"
„Es wäre nicht schade um ihn gewesen." Gleichgültig zuckte Teach mit den Schultern, bevor sich ein Lächeln auf seine Züge schlich. „Also? Was sagen Sie? Klingt das nach einem bezahlbaren Preis?"
Sie hörte das Knirschen von Jacks Zähnen bis zu sich herüberdringen. "Aye. Es klingt nach einem Angebot, das ich nicht ausschlagen kann."
Zufrieden klatschte Blackbeard in die Hände. „Wunderbar! Dann gilt es nur noch eine einzige Sache zu überprüfen!"
Verwirrt beobachtete Anne, wie er einen Revolver zog, der in einer Halterung an seinem Gürtel aufbewahrt gewesen war. Er streckte ihn Jack entgegen. „Greifen Sie zu, Jack."
Blackbeards Blick wanderte zu Anne hinüber. Etwas blitzte in seinen Augen auf, das sie nicht richtig deuten konnte. Aber egal was es war, es rief ein ungutes Gefühl in ihr hervor.
„Und dann beweisen Sie mir, dass ich auf Sie bauen kann. Sie erschießen ihre Raubkatze. Das ist mir Zeichen genug, dass sie mir loyal untergeben sind."
Annes Herzschlag setzte aus. Ihr Fokus schnellte zu Jack hinüber.
Die Stille, die Blackbeards Worten folgte, schien einzig und allein von ihrem Käpt'n auszugehen. Er bewegte sich keinen Zentimeter. Als hätte sich eine Schicht Eis in der Kajüte der Revenge ausgebreitet, verharrte auch Teach in seiner Position, in der er Jack den Revolver entgegenhielt. Die Sekunden schienen sich zu Minuten und dann zu Stunden auszudehnen, in denen keiner der beiden Männer ein Wort sprach. Als Jack die Stimme erhob, klang diese rau und laut in Annes Ohren. "Nein!"
„Wenn Sie es nicht tun, Calico, dann werde ich mich erst Ihrer Raubkatze und dann Ihrer gesamten Mannschaft zuwenden. Einen Mann nach dem anderen werde ich auf Nassaus Strand ausbluten lassen, bis der Sand nicht länger golden, sondern rot wie abertausende Rubine schimmert."
Das war also ihr Ende. Aber es war in Ordnung. Wenn sie ihr Leben geben musste, um all ihre Freunde und ihre große Liebe zu retten, dann würde sie dem Lauf des Revolvers mit hoch gerecktem Kinn und ohne Furcht entgegensehen.
Beflügelt durch ihre Entschlossenheit ließ sie die bronzene Meerjungfrau schließlich los und nickte Jack zu. „Tu es." Bittersüßer Schmerz schwang in ihrer Stimme mit.
Jacks Aufmerksamkeit zucke zu ihr zurück, als würde er sich gerade das erste Mal ihrer Anwesenheit in dieser Hölle bewusst werden. "Bist du ebenso verrückt geworden?", hauchte er. "Hat dieser Wahnsinn dich genau so infiziert?", zischte er dann, ehe er sich wieder Blackbeard zuwandte. "Finden Sie eine andere Bedingung. Einen anderen Beweis. Ich werde nicht den Tod eines meiner Crewmitglieder zu verantworten haben!" Mit diesen Worten schob er Blackbeards Hand mit der Waffe von sich weg.
Bevor dieser den Revolver wegstecken oder gar auf selbst auf Anne richten konnte, war sie auf ihn zugetreten und nahm ihn ihm selbst aus den Fingern.
„Das nenne ich eine interessante Wendung ...", hörte sie Teach in ihrem Rücken murmeln, sobald sie sich Jack erneut zuwandte.
Ihr Arm zitterte nicht, als sie ihm die Feuerwaffe reichte. „Nimm sie und erschieß mich, Jack. Mein Leben ist nicht mehr wert als das der restlichen Mannschaft."
Samuels leises Raunen nahm sie nur am Rande ihres Bewusstseins wahr.
Jack schüttelte den Kopf.
"Das kannst du nicht ernst meinen, Anne!" Irrte sie sich oder war da tatsächlich eine Vibration der Unsicherheit in seiner sonst so vollen und selbstbewussten Stimme, die es stets schaffte, einem jeden Mann einfach alles einzureden? Seien es Mut, Stärke oder das Selbstbewusstsein, nicht einzuknicken, selbst wenn der Feind mit Kanonen auf sie schoss. Oder Lust, Begierde und so verdorbenes Stöhnen, dass sie sich des Nachts wie eine Göttin fühlte, wenn sie auf ihm saß.
Ihr Blick glitt zu seinen schwarzen Iriden, in denen nichts als bloße Furcht geschrieben stand.
"Das ist ein Bluff! Ein armseliger Bluff! Niemals würde dieser Wahnsinnige eine ganze Besatzung hinrichten, das ist..." Es gelang ihm nicht weiterzusprechen. Blackbeard schnalzte tadelnd mit der Zunge.
"Sind sie sich da so sicher, Jack? Dass es nur ein Bluff ist? Sie haben gesehen, wozu ich fähig bin. Sie haben gesehen, wie viele Männer mir unterstehen. Ihnen wird nicht entgangen sein, dass ich Sie beobachtet habe. Einhundert Musketen zielen in diesem Moment auf die Searose und ebenso viele Kanonen sind auf ihre hübsche Fregatte gerichtet. Es wird höchstens eine Stunde dauern, bis ich alle anderen Männer ihrer Crew, die sich in den Hurenhäusern und Kaschemmen verstecken, zusammengetrieben habe, um ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Wollen Sie das mitansehen? Wie das Blut ihrer Männer langsam durch den weißen Sand ins Meer sickert und die Haie anlockt? Nein?" Ein irres Lachen entrang sich seiner Kehle. "Oh, Sie wären nicht der Erste, den ich das sehen lasse und der dabei den Verstand verliert. Das Schreien und Flehen Ihrer Mannschaft im Ohr. All Ihre Vertrauten, die sich Ihnen mit ihrem Leben verschrieben haben, weil sie sich auf Ihre Führung verlassen."
Es gelang Anne nicht, schnell genug zu reagieren, als Jack ihr die Waffe aus der Hand riss und jene auf Blackbeard's Stirn richtete.
Sie hörte das verräterische Klicken der Entsicherung. Und noch dazu das dutzender Waffen mehr, die um sie herum gezogen und auf sie gerichtet wurden, in dem Moment, in dem ihr Käpt'n mit der Pistole auf den König der Piraten zielte.
„Jack ... es wird nichts ändern, wenn du ihm die Kugel in die Stirn jagst ..."
Mittlerweile zitterte auch sie. Sie hatte Angst. Aber nicht vor ihrem eigenen Tod, sondern davor, all ihre Freunde zu verlieren. Winston, Piet, Desna, Jaspal ...
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Als er sich nicht regte, noch einen und noch einen, bis sie vor ihm stand und die Schusslinie blockierte.
„Hören Sie auf Ihre Raubkatze, Jack", flötete Blackbeard. "Sie hat recht. Sie beide sind tot, noch ehe sie sich zu der Entscheidung durchgerungen haben, ob sie mir ein Loch in den Schädel pusten oder nicht."
Er grinste, als Jacks Hand mit der Waffe an seiner Stirn begann zu zittern.
Anne hob ihren unverletzten Arm. Sanft schmiegten sich ihre Finger um das kalte Metall des Laufs, nahmen ihn herunter, nur um sich ihn dann an die Brust zu pressen. „Drück ab. Es ist in Ordnung." Ihre Lippen bebten.
Sie spürte, wie ihre Knie unter ihr nachgaben. Haltlos sank sie vor ihm nieder. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Uns war mehr als genug Zeit vergönnt." War dem so? Sie ließ ihren Zweifeln keinen Raum, um sich weiter zu entfalten.
Ihre Worte, ihre Stimme, schienen auch ihm die Kraft und den Willen zu rauben, weiterhin aufrecht zu stehen, sodass sie sich Auge in Auge auf den blutbesudelten Planken der Revenge wiederfanden. Sie versuchte ihre Aufmerksamkeit von seiner bebenden Hand abzulenken, die die Pistole so fest umklammert hielt, dass die Sehnen und Knöchel weiß hervortraten. Ihr Fokus saugte sich an seinem Gesicht fest, seinen Augen, seinen Lippen.
Alles kam auf die nächsten Sekunden an. Auf das, was er tat. Und sie wusste, dass es nur einen Weg gab, um ihn dazu bewegen abzufeuern. Sie musste ihn bis aufs Blut reizen.
Er erwiderte nichts. Starrte sie einfach nur an. Die Furcht, die Machtlosigkeit in seinem Blick fügte ihr mehr Schmerz zu, als das genähte Loch in ihrem Fuß und der Arm in seiner stützenden Schlinge. „Jetzt tu es schon, verdammt! Oder bist du eine feige Sau, Jack?! Willst du als der Käpt'n in die Geschichte eingehen, der den Tod seiner ganzen Mannschaft zu verantworten hat, nur weil er nicht mehr Herr über sein eigenes Herz gewesen ist?! Weil er es nicht verschmerzen konnte, eine Frau zu ..."
Seine Lippen legten sich auf die ihren. Seine freie Hand schloss sich um ihren Oberkörper. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug.
Ein ohrenbetäubender Schrei entrang sich seiner Kehle, war Zeuge seiner inneren Qual, als er schließlich abdrückte.
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