Dunkles Verlangen
15. März 1822
Nassau
„Jedes menschliche Tun ist vom Verlangen ausgelöst."
~ John Ruskin
Die Dunkelheit hatte ihren schwarzen Schleier bereits über Nassau ausgebreitet, als sie die Spione über den Pier in Richtung der Revenge scheuchten. Flackernde Fackeln erhellten ihnen den Weg und die Geräusche der Insel begleiteten sie. An anderen Orten war es zu dieser Uhrzeit so still wie auf dem offenen Meer, aber hier, in diesem angeblichen Paradies für Piraten, schwebte weit nach Mitternacht noch ein genauso lauter Klangteppich durch die Lüfte als wäre es tagsüber.
Anne hasste es.
Die letzten Tage waren so ruhig gewesen. Nur das Rauschen der Wellen, der angenehme, wenn auch schiefe Gesang ihrer Kameraden und Jacks Stöhnen. Sie hoffte, diese Insel so schnell wie nur möglich verlassen zu können.
Der Glatzkopf vor ihr geriet ins Stolpern, als Jonah ihm einen kräftigen Stoß verpasste. „Schneller!", schallte die Stimme ihres Käpt'n über ihre Köpfe hinweg. Anne teilte seine Ungeduld. Auch sie wollte das alles einfach nur noch hinter sich bringen. Sie betete, dass Blackbeard die vier Spione genügen würden, auch wenn er einen jeden Verräter gefordert hatte. Hoffen konnte man immer.
Zügig erreichten sie den ehemaligen Sklaventransporter. So langsam gewöhnte sie sich an den Anblick des vernarbten Dunkelhäutigen, der sie auch in dieser Nacht in Empfang nahm und sie über das Schiff führte. Und wie jedes Mal verlor der Koloss von einem Mann auch heute kein einziges Wort, sondern geleitete sie schweigsam wie ein Toter über das Deck, zum Treppenabgang und in den miefenden Schiffsbauch hinein.
Kurz bevor sie die Kajüte des Königs erreichten, rammte der Anführer der Spione die Fersen in den Boden. „Ich ... ich geh da nicht rein! Keiner von uns!"
Es löste eine Art Genugtuung in Anne aus, als sich die Furcht unter den Gefangenen ausbreitete. Sie glaubte sogar den Geruch von frischem Urin wahrnehmen zu können. Mindestens einer von ihnen hatte sich aus Angst eingenässt. Ein diabolisches Grinsen formte sich auf ihren Lippen, während sie Blackbeards Mann dabei beobachtete, wie er den Glatzkopf einfach im Nacken packte und ihn neben sich herschleifte, als handelte es sich bei ihm um einen angeleinten Köter.
Seine drei Anhänger zitterten so stark, dass Anne es selbst in dem schlechten Licht, das hier unten vorherrschte, erkennen konnte. Und auch das erfüllte sie mit einer seltsamen Zufriedenheit. Diese Männer hatten ihr eigenes Volk verraten und auch wenn Blackbeard ein Wahnsinniger war, oder gerade weil er einer war, freute Anne sich darauf dabei zuzusehen, welche Strafe er sich für diesen Abschaum ausgedacht hatte.
Die eigentlich recht geräumige Kajüte wurde mit einem Mal eng, als sie sich alle darin sammelten. Annes Schulter berührte Jaspals, so wenig Raum blieb ihr und sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über Scarlett hinwegblicken zu können. Jack und Jonah zwangen die Spione auf die Knie. Nicht weit von dem Loch entfernt, das direkt ins tödliche Meereswasser und in die Mäuler der hungrigen Haie führte. Jetzt war es allerdings, wie bei ihrem ersten Besuch, von einem Teppich verborgen.
„Ah, Calico Jack! Mein Freund, mein Vertrauter!", ertönte da Blackbeards rauchige Stimme, gefolgt von seinem irren, aufgesetzten Lachen. „Was sehen meine Augen da? Was für ein wunderbares Geschenk ihr mir doch mitgebracht habt!" Er erhob sich von seinem Stuhl, umrundete den Tisch und kam mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf die Gefangenen zu. „Vier Stück! Ach, ich wusste doch, dass ich mich auf Sie verlassen kann." Er kicherte entzückt wie ein verliebtes Mädchen.
Anne beobachtete, wie Jack nach der Schulter des Anführers der Spione griff, um ihn an Ort und Stelle zu halten, als dieser drauf und dran war aufzuspringen, während sich Blackbeards Fokus auf ihn richtete. Jacks Kiefer mahlten. Doch nicht vor Wut, sondern eher, als würde er auf etwas kauen.
"Sehen Sie unsere Schuld als beglichen an, Sir?", fragte er durch zusammengebissene Zähne.
„Geben Sie sich selbst die Antwort darauf, mein Lieber", säuselte Blackbeard, bevor er vor den Gefangenen in die Hocke ging. „Sie kennen die Abmachung."
"Ich verlange dennoch, dass Sie ihre Informationen aus den Männern ziehen und anhand deren Gehalt neu abwägen, wie viele weitere Dienste wir Ihnen schulden", schlug Jack zurück. "Die Searose ist nicht das einzige Schiff, das Sie in See stechen lassen haben. Sammeln Sie Ihre Erkenntnisse und womöglich wird es bereits reichen."
„Reichen wird es sicherlich nicht, Calico." Der König hob den Blick nicht, während er mit ihm sprach. „Aber ich werde darüber nachdenken, euch einen Teil der Schuld zu erlassen, sollte eines dieser Vögelchen ausreichend singen. Sagen Sie mir, welchen dieser Herren kann ich mit meinen Haustieren bekannt machen?"
Jack atmete einen Augenblick tief durch, ehe er mit einem stummen Kopfnicken auf die drei Männer links von ihnen deutete.
Ein erfreutes Lächeln formte sich auf Blackbeards Lippen. Er fasste sich an den Schnurrbart und fummelte an einem der Enden herum. „Fein. Das wird meinen süßen Schätzen gefallen."
„Wovon zur Hölle sprechen Sie, Mann?", keuchte nun der Glatzkopf, der bis dato seine Zunge verschluckt gehabt zu haben schien. Anne konnte die Angst in seinen Worten hören, das Zittern in seiner Stimme.
Die anderen waren zu sehr von Panik erfüllt, als dass sie den Mut aufgebracht hätten, etwas zu sagen.
„Von meinen Haien." Blackbeard richtete sich wieder auf. „Zu gerne hätte ich Sie mit ansehen lassen, wie ihre Kumpanen um Gnade winseln, aber ..." Sein Blick schweifte über alle Anwesenden. „ ... es ist doch wirklich eng hier. Die Luft wird gleich erfüllt sein mit dem köstlichen Duft von Blut und Fleisch. Das möchte ich genießen, aber das kann ich nicht, wenn es nach eingepissten Hosen und Schweiß stinkt und ich nicht einmal den Platz finde, um meinen Tieren zu applaudieren."
Ohne dass Blackbeard es befehlen musste, drängte sich der Narbengesichtige zwischen ihnen allen hindurch. Grob stieß er Anne zur Seite, genauso wie Ben, Jonah und Jack. Scarlett wollte sich zuerst beschweren, hielt dann aber doch den Mund, als zwei andere Männer, die bis zum jetzigen Zeitpunkt in den Schatten ausgeharrt hatten, den Teppich zur Seite rollten. Wahrscheinlich erinnerte sich die Ratte ebenso wie Anne an Lesly, der in dieses nasse Grab gestoßen worden war.
Sobald das Loch von nichts mehr verborgen wurde und die ersten spitzen Flossen die Wasseroberfläche durchbrachen, fingen die drei zum Tode verurteilen Männer zu wimmern und zu weinen an.
Anne hegte keinerlei Mitleid mit ihnen.
Blackbeards treuer Mann riss den Glatzkopf grob an den Armen hoch.
„Kümmer dich um unseren Gast." Der Piratenkönig schenkte dem Anführer der Spione eines seiner wahnsinnigen Lächeln.
Als er von dem Kollos aus dem Raum geschleift wurde, erhaschte Anne einen letzten Blick auf sein Gesicht. Es war blasser als das einer Leiche. Zuckersüß winkte sie ihm zu, sobald sein Blick den ihren kreuzte und warf ihm noch eine Kusshand hinterher. Sollte er doch in der Hölle namens Revenge schmoren, bevor er ins wahre Höllenfeuer geschickt wurde.
„Euch möchte ich nun auch bitten zu gehen", wandte sich Blackbeard an Jack und seine Leute. Er schnippte mit den Fingern, woraufhin einer seiner anderen Männer ihnen deutete, dass sie ihm folgen sollten. „Ich werde Sie wissen lassen, wie wir weiter verfahren, sobald Ashton alle Informationen aus dem kahlen Schädel heraus gekitzelt hat."
"Aye", hörte Anne ihren Käpt'n sprechen. Seine Stimme klang kaum durch das feuchte Platschen der Haie und das Wimmern der Männer zu ihr herüber. "Sie wissen, wo Sie uns finden." Seine Worte schienen einen Hauch von Erleichterung in sich zu tragen, die Hinrichtung der Verurteilten nicht mit ansehen zu müssen.
Anne hingegen wäre nur zu gerne geblieben. Erschrocken von diesem seltsamen Verlangen betrachtete sie ihre Füße. Die dunkle Seite in ihrem Inneren, die seit ihrer Ankunft auf Nassau zunehmend die Kontrolle übernahm, jagte ihr Angst ein.
Es war nicht so, als wäre sie sich ihrer in diesem Moment zum ersten Mal bewusst geworden. Das war sie sich an jenem Tag, an dem sie die Freier und Hurenwirte in Ratnagiri auf dem Innenhof des Bordells zusammengetrieben hatten. Aber seither war dieses dunkle Etwas in ihr gewachsen, hatte sich an ihr und ihren düsteren Wünschen gelabt und seit sie Sully umgebracht hatte schien es Anne, als hätte es jede Faser ihres alten Seins verschlungen. Sie erkannte sich selbst nicht wieder und sich selbst fremd zu sein war beängstigender als dem Tod ins Auge zu blicken.
Sie mühte sich diese Gedanken in die hintersten Ecken ihres Verstandes zu drängen, während sie Jack und ihren Freunden hinaus auf die gottverlassenen Straßen Nassaus folgte.
Mit einem Mal blieben allesamt stehen und rissen sie so aus ihren finsteren Vorstellungen. Sie überbrückte die kurze Distanz mit zwei großen Schritten und erkannte Jonah keuchend am Boden knien, die Hände auf das sandige Pflaster gestützt.
Sein Atem ging stoßweise, seine Stimme klang, als würde sie aus einem tiefen Brunnen zu ihnen empor hallen.
"Sie zu trennen, ein Unglück. Sie zu lieben, ein Untergang. Schiffe brennen. Goldene Strände, grüne Pflanzen, sie brennen. So heiß, dass das Wasser des Ozeans zu sieden beginnt. Tod! Der Tod, Tod, Tod, Tod, Tod ..." Seine Stimme verblasste zu einem Flüstern.
Dann, mit einem Mal, griff er nach Jacks Schulter, der sich eilig neben seinem Freund niedergelassen hatte und krallte sich in den Stoff seines Mantels. "Hol tief Luft, bevor du tauchst." Anschließend brach er zusammen.
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