Die Kette und der Fluch
22. März 1822
Nassau
„Manche Abwesenheit trägt sehr zur Verbundenheit bei."
~ Michael Marie Jung
Felicité war eine echte Kräuterhexe. Zumindest sah sie aus wie eine. Völlig verrucht.
Ihre lange blonde Mähne war an diversen Stellen verfilzt, eine Augenbraue fehlte ihr und sie trug einen Glanz in den blauen Iriden, der Anne an den Wahnsinn erinnerte, der auch stets in Blackbeards zu finden war. Und sie war nicht alleine gekommen. Auf ihrem Arm schlummerte ein alter Kater, der genauso ungepflegt erschien. Sein braun-weißes Fell war struppig und stand in sämtliche Richtungen ab, die Schnurrhaare waren knittrig, das rechte Ohr fehlte ihm ganz und das Linke war so verkrüppelt, dass es kaum noch als ein solches auszumachen war.
Die kleine, bleiche Hand der Französin strich behutsam über den Rücken ihres Haustiers, während sie Anne ein zuckersüßes Lächeln schenkte. „Was sagt ihr? Haben wir einen Deal?"
Es war nicht so, als hätte Felicité die Weltherrschaft für ihre Informationen gefordert und doch flüsterte da etwas in Anne, dass es keine gute Idee war, diesen Handel einzugehen. Diese Frau schrie förmlich nach Schwierigkeiten, aber im Grunde blieb ihnen keine andere Wahl, als sie mitzunehmen. Sie wusste, wohin die Marineschweine segelten. „Das ist womöglich unsere einzige Chance", sagte sie also an Jonah und Ben gewandt.
Die Ratte stand zähneknirschend in der Ecke, während der Steuermann mit verschränkten Armen auf Jacks Stuhl ruhte.
„Woher sollen wir wissen, dass sie die Wahrheit spricht?", wollte Scarlet wissen. „Sie könnte genauso gut eine Informantin der englischen Arschlöcher sein, die uns so wie Jack ans Messer liefern will. Vielleicht war es auch sie, die die Marine erst auf seine Fersen gehetzt hat. Das würde nur Sinn ergeben!" Wie so oft gestikulierte er dabei wild mit den Armen.
„Tu nicht so, als wäre ich gar nicht anwesend. Das kann ich nämlich gar nicht leiden", gurrte Felicité in ihrem fast schon niedlichen Akzent. Im nächsten Atemzug schnalzte sie missbilligend mit der Zunge. „Sehe ich wie jemand aus, der mit der Marine verkehrt?" Sie wartete nicht auf eine Antwort. „Wohl kaum." Irres Gekicher. „Zumindest nicht auf die Weise, die dir durch den Kopf schwirrt. Ich bin keine von der Sorte, die sie sich ins Bett holen würden, wenn sie sie zu fassen bekämen, sondern eher so eine, die am Galgen enden würde."
„Weshalb?", hakte Jonah nach. In seiner Stimme lag ehrliches Interesse.
„Ach, erst haben sie mir etwas genommen, dann habe ich mich revanchiert. Nur noch nicht zur Genüge. Die Rechnung ist noch nicht ganz beglichen." Der Kater gähnte, hob den Kopf und blinzelte aus müden, trüben Augen in die Runde.
„Und du willst, dass wir dich mitnehmen, weil ..."
„Hör mal, Jungchen." Jonah hob bei der eigenartigen Betitelung seiner selbst die Augenbrauen. „Ich hege kein Interesse daran euch meine Lebensgeschichte darzulegen, deshalb formuliere ich es knapp. Ihr versichert mir, dass ich als Passagier auf diesem Schiff reisen darf, dafür sage ich euch, wo die Marine Halt macht. Alles andere sollte nebensächlich sein. Am Ziel angekommen trennen sich unsere Wege. Ihr geht eurer Aufgabe nach und ich meiner."
„Wir haben genug Weiber an Bord", knurrte Ben. Demonstrativ sprach er wieder so, als wäre Felicité Luft, was die Kräuterhexe dazu veranlasste, ihn wütend anzufunkeln. „Ich schlage vor, dass wir die Informationen anders aus ihr herausquetschen und sie dann über die Reling werfen."
„Wir foltern niemanden, der es nicht auch verdient", widersprach ihm Anne. „Ich sage, dass wir es machen. Wir gehen den Handel mit ihr ein."
„Wer glaubst du, wer du bist?" Die Ratte baute sich vor ihr auf, das Gesicht hochrot vor Wut. „Du hast gar nichts zu sagen, Bonny! Wenn der Käpt'n nicht da ist, dann obliegt die Befehlsgewalt Jonah und mir! Ich weiß gar nicht, was du Abschaum hier überhaupt zu suchen hast! Das frage ich mich schon, seit du diesen Raum betreten hast!"
Als fände Felicité Gefallen an der Situation, lehnte sie sich zurück und beobachtete den Schlagabtausch mit einem Grinsen.
Anne atmete tief durch, bevor sie sich zu einer Antwort herabließ. „Auch wenn es dir missfällt, Mr. Ich habe das Sagen und du bist ein Nichts, ich bin schon lange kein unbedeutender Küchenjunge mehr. Ich gehöre zu den bedeutendsten Personen auf diesem Schiff und habe ebenso ein Mitspracherecht wie ihr beide."
„Ach ja? Ist nur blöd, dass es mich einen Scheiß interessiert, was du mir sagst! Ich werde einen Teufel tun und mich von einem Weib herumkommandieren lassen! Mag ja sein, dass deine Muschi dem Käpt'n den Kopf verdreht hat, aber mir ..."
„Es reicht!", donnerte Jonahs tiefe Stimme durch den Raum. Sowohl Ben als auch Anne warfen ihm einen gereizten Blick zu, weil er es sich herausnahm, sich einzumischen.
Der Steuermann rieb sich die Schläfen, bevor er Anne auf seine seltsame Weise durch sein eisblaues Auge musterte. Einige Herzschläge lang ruhte sein Fokus allein auf ihr, ehe er ihn auf Scarlet richtete. „Wir gehen den Handel ein."
„Was?" Empört riss Ben beide Arme in die Luft. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du lässt dich dazu herab, dir von ihr sagen zu lassen, was wir tun?!"
„Anne ist die einzige, die uns zu Jack führen kann. Wir sollten auf sie hören, wenn wir ihn lebend wiedersehen wollen", erwiderte Jonah gelassen, ohne auch nur einen Hauch von Bens Wut zu übernehmen.
„Was hat das schon wieder zu bedeuten? Verdammt ... ich verstehe gar nichts mehr! Die Hexe ist doch diejenige, die den Aufenthaltsort kennt und nicht Bonny!"
„Und die Hexe kann es nicht leiden, wenn man sie so nennt!", fauchte Felicité, als wäre sie mehr Katze als der Kater auf ihrem Arm, der weiterschlief, als wäre nichts gewesen.
„Du hast recht, Ben. Du verstehst gar nichts. Aber das musst du auch nicht. Es reicht, wenn ich es begreife." Jonah warf Anne einen weiteren Blick zu, der ihr sagte, dass sie später darüber reden würden. In Ruhe.
„Also sind wir im Geschäft?" Die Französin sprang auf die Beine und blinzelte einem nach dem anderen mit einem hoffnungsvoll schimmernden Glanz in den Augen entgegen.
„Aye. Das sind wir", erwiderte Anne und streckte ihr die Hand entgegen. Als Felicité diese ergriff, reichte es Ben offenbar. Zumindest stürmte er vor sich hin fluchend aus der Kajüte und knallte die Tür so fest hinter sich zu, dass die Wände wackelten.
Die Kräuterfrau schmunzelte. „Kurze Zündschnur. Gefällt mir. Ich mag Männer mit Feuer unter dem Hintern."
Anne behielt ihren Gedanken dazu für sich, der beinhaltete, dass Felicité wohl die erste Frau war, die so von Ben sprach und dabei einen nicht gespielten träumerischen Ausdruck auf den kleinen Pausbäckchen trug. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Jonah.
„Wir segeln los, wenn du es befiehlst", versicherte er ihr, noch ehe sie etwas sagen konnte.
Auch wenn es sie wunderte, was ihn dazu bewogen haben mochte, ihr das Kommando zu überlassen, legte sie die Klärung dieser Frage auf einen späteren Zeitpunkt. Sie wollte keine Sekunde länger warten. „Wie lautet unser Ziel?", verlangte sie von Felicité zu wissen, die sich wieder in den Stuhl hatte sinken lassen und ihren Kater kraulte.
„San Salvador."
Anne nickte Jonah zu. „Mach die Searose klar zum Ablegen."
***
Nachdem sie aus Nassaus Hafen heraus gesegelt waren, hatte Anne sich endlich dazu durchringen können, zu schlafen.
Sie wusste nicht wie viel Zeit vergangenen war, als es an der Tür zu Jacks Kajüte klopfte.
Langsam richtete sie sich auf, schob ihren protestierenden Körper aus der Koje und entzündete die Lampen. Es war bereits dunkel geworden und kaum ein Geräusch drang zu ihr hinein, was ihr verriet, dass es mitten in der Nacht sein musste. Bei den Göttern, sie musste wirklich erschöpft gewesen sein, wenn sie so lange im Reich der Träume versunken gewesen war.
Schleppenden Schrittes schlurfte sie auf die Tür zu und öffnete. Jonahs verschiedenfarbige Augen blickten ihr entgegen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie müde auch er aussah. War es Ocean, die ihn wachhielt oder war er doch besorgter um Jack, als sie es ihm zugedacht hatte?
Sie ließ ihn ein und erinnerte sich im selben Atemzug daran, dass er noch mit ihr hatte reden wollen. Ungestört.
„Was kann ich dir zu trinken anbieten?" Anne wandte sich den Regalen mit dem Alkohol zu. Dabei ignorierte sie den seelischen Schmerz, der sich indes wieder bemerkbar machte. Es fühlte sich falsch an, dass sie es war, die sich anstelle von Jack an den Flaschen und Gläsern bediente.
„Whisky für mich." Sie konnte hören, wie Jonah den Raum durchquerte, um sich am Tisch niederzulassen.
Mit zwei Getränken in den Händen setzte sie sich ihm gegenüber und reichte ihm seins.
„Du siehst ausgeruhter aus. Das ist gut", stellte er fest, sobald er einen Schluck genommen hatte.
Anne nickte. „Aye. Schlaf war bitter vonnöten. An Deck verläuft alles, wie es soll?"
„Die Männer verrichten ihre Arbeit. Die Hoffnung darauf, ihren Käpt'n bald wieder an Bord zu haben, treibt sie an. Felicité habe ich bei Read untergebracht. Die beiden scheinen sich blendend zu verstehen. Diamond und Ocean halten sich in meiner Kajüte auf."
Diamond.
Da bedurfte es auch noch eines klärenden Gesprächs. Die Wut und die Angst hatten Anne blind werden und Dinge sagen und tun lassen, die sie nicht so gemeint hatte. Erneut nickte sie. „Gut."
Sie nippte an ihrem Glas und schob es dann weit von sich weg. Himmel, eine heiße Tasse Tee hätte ihr viel mehr zugesagt, als der saure Alkohol. „Du wolltest reden, dann rede. Was hat dich dazu bewogen, dich auf meine Seite zu schlagen? Auch wir hatten in der Vergangenheit Differenzen. Dass du den Handel eingehen wirst, war mir klar. Du bist kein Dummkopf, so wie die Ratte. Aber dass du mir das Kommando übergibst, kam doch überraschend."
„Erinnerst du dich daran, dass du Jack die Kette deiner Mutter überlassen hast, damit ich sie mir nochmals ansehen kann? Da du sie nicht an deinem Hals trägst, nehme ich an, dass er sie noch immer in seinem Besitz hat."
Wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie daran keinen einzigen Gedanken verschwendet. Was war das Erbstück ihrer Mutter schon neben Jack? „Ja. Sie ist bei ihm. Wo auch immer das sein mag."
„Der Fluch, der dich mit dem Schmuckstück verbindet", führte Jonah weiter aus.
Anne widerstand dem Drang nur schwerlich, mit den Augen zu rollen. Sie hielt nichts von seinem Hokuspokus, aber sie war bereit sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Mit einer Handgeste forderte sie ihn dazu auf fortzufahren.
„Die Kette kommt immer wieder zu dir zurück. Du verlierst sie, sie wird dir gestohlen oder was auch immer. Aber am Ende landet sie immer wieder bei dir. Jack meinte, du hättest Worte von dir gegeben, die ihn nachdenklich gestimmt haben."
Sie wusste sofort, wovon die Rede war. „Was zusammengehört, findet immer wieder den Weg zueinander", murmelte sie vor sich hin.
Jonah nickte. „Verstehst du jetzt, warum ich dir die Führung überlasse?"
„Die Kette ruft mich zu sich ..." Anne rieb sich über die Stirn. So absurd das Ganze auch klang, es schürte die Hoffnung in ihrem Inneren an, bis sie lichterloh brannte. Sie hielt nichts von Jonahs Vorsehungen, aber an diese wollte sie glauben. Mit aller Kraft wollte sie sich daran klammern.
„Egal, ob er am Leben ist, oder nicht. Du wirst uns zu ihm führen, weil der Schmuck es so will."
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