Alkohol und Glücksspiel

28. Februar 1822
Nassau

„Hinterm sogenannten Neuanfang verbirgt sich für gewöhnlich nur ein totgesagtes Finale."
~ Peter Rudl

Der Wind rauschte in den Blättern der Palmen, die seichten Wellen des Ozeans schlugen sanft gegen das raue Holz des Bugs, spielten ein plätscherndes Schlaflied, das ganz anders war als das Orchester der Wogen, die sie einmal quer über den Atlantik getragen hatten. Das Licht der Sonne brach sich im Wasser. Die Reflexion der Strahlen tänzelte liebevoll im Takt der einschläfernden Melodie über die Planken des Rumpfes, hinauf bis in die Segel, die ein paar Männer soeben zu ordentlichen Stoffbahnen zusammenrefften.

Schiffe jeglicher Größe dümpelten im türkisfarbenen Wasser der Bay, das so klar war, dass man die Wellen des Sandes am Grunde ausmachen konnte. Die Konturen von Haien und Schildkröten schoben sich gemächlich über den Sand, Barrakudas und andere Raubfische stoben durch glitzernde Schwärme kleinerer Fische. Das Grün des Dschungels brannte sich lebendig in seine Augen, nachdem sie die letzten zwei Monate nichts weiter zu Gesicht bekommen hatten als Wasser, Wind, Sonne und Grenzenlosigkeit so weit der Horizont reichte. Und das ein oder andere Handelsschiff, das ihren Weg gekreuzt hatte.

"Ich weiß, du hasst das Festland, aber das hier..." Ben trat zu ihm ans Schanzkleid und legte seine Hände auf den Handlauf, tat es ihm gleich und ließ seinen Blick schweifen. "Aber das hier ist dann doch etwas ganz ganz anderes. Und außerdem ist es nur eine Insel." Die Ratte kniff die Augen zusammen und blinzelte, sodass seine viel zu großen Schneidezähne hervortraten.

Stege und Piere reichten weit in die Bucht hinaus, deren hölzerne Planken von Wind und Sonne so ausgeblichen waren, dass sie beinahe weiß wirkten. Es war schwer zu erkennen, wo der Bereich des Hafens endete und das eigentliche Land begann, da sich Schiffe jeglicher Klasse und Größe zunehmend dicht an dicht einander schmiegten, sodass kaum noch das Meer zu sehen war. Pinassen und Fleuten, kleine Schoner neben großen Fregatten und dazwischen ankerten winzige Schaluppen. Das überfüllte Chaos erstreckte sich über eine Küstenlinie von mindestens einer Meile, womöglich mehr.

Jacks Aufmerksamkeit richtete sich auf eine große Galeone, deren Bauch aus der Masse der Gefährte herausstach und von der lediglich das Heck zu sehen war. Anders als die der meisten lagen ihre Masten kahl und schienen zu kurz, um das gewaltige Schiff auch nur mit der Geschwindigkeit weniger Knoten auf Seefahrt zu lassen. Der Rumpf wirkte wie der massige Körper eines Mastschweins, das zu fett geworden war, um sich noch auf den Beinen zu halten.

"Aye, du hast recht." Jonah trat an seine andere Seite, beschirmte seine Augen mit einer Hand und ließ seinen Blick über den Pier gleiten, der die Searose mit der Insel verband. Da die Fregatte zu einem der größeren Exemplare mit mehr Tiefgang gehörte, hatten sie weiter draußen in der Bucht anlegen müssen. Einige ihrer Männer machten sich soeben händereibend und scherzend auf den Weg, ihre Prisen beim anstehenden Landgang auf den Kopf zu hauen.

"Habt ihr die Wachposten eingeteilt?", fragte Jack an seinen Maat und seinen Steuermann gewandt. "In einem Hafen voller Piraten traue ich keinem einzigen Mann über den Weg, der sich als Hafenmeister ausgibt. Wir haben fast den ganzen Laderaum voller Beute. Es gibt Erzählungen von Ladungen, die verschwinden, von ganzen Schiffen, die sich mit einem Mal in Luft auflösen und ..."

"Aye! Wachposten klar!", erklang eine Stimme in seinem Rücken, die ihm einen wohligen Schauer die Wirbelsäule hinunter sandte. "Piet, Desna und Blackwood bleiben." Anne schob sich zwischen ihn und Jonah, streifte mit ihrer Hand kurz den Stoff seines Hemdes am Rücken. Allein diese Berührung genügte, um ihm einen Sturm über die Haut zu jagen und seine Erinnerungen an die letzte Nacht und den vergangenen Morgen neu zu entfachen.

"Aye, ich habe Mr. Brown gebeten, sich das Ruder anzusehen. Er wird ebenfalls bleiben und sich einen Überblick über nötiges Reparaturmaterial verschaffen, das er benötigt", ergänzte Jonah, noch ehe Jack irgendetwas anderes antworten konnte. "Es bleiben genügend Posten besetzt."

"Aye, fantastisch. Ihr habt also an alles gedacht." Grimmig nickte er. "Dann geht und verbringt ein paar schöne Stunden. Husch!" In einer abfälligen Handbewegung wedelte er in Richtung der Gangway.

Ben ließ sich nicht zwei Mal bitten und auch Jonah machte sich auf den Weg, nachdem er ihm zum Abschied mit der Hand auf die Schulter geklopft hatte. Jack beobachtete, wie sein Steuermann sich an die Seite Mary Reads begab, um sich der Stadt mit ihren Annehmlichkeiten hinzugeben.

Anne blickte ihm entgegen, umschloss seine Hand mit ihren Fingern. Ihren Fingern, die nichts mehr mit den weichen Händen einer hochgeborenen Lady zu tun hatten. Ihre Finger, die tagsüber Taue knoteten, Pistolen abfeuerten und Säbel schwangen und des Nachts über die nackte Haut seiner Brust strichen.
"Kommst du nicht mit?"

"Aye, ich komme." Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, während er beobachtete, wie sie ein paar zögernde Schritte in Richtung der Gangway machte. Ihre Locken fielen ihr inzwischen lang bis auf die Schultern, tanzten verspielt und ungebändigt in der milden Brise. Die Absätze der geschnürten Stiefel, die ihr bis zu den Knien gingen, hinterließen bei jedem ihrer Schritte ein selbstbewusstes Geräusch auf den hölzernen Planken der Searose, untermalten ihre stolze Haltung. "Es ist nur so, dass ich dich gerne ansehe, wenn wir allein sind. Allein auf diesem Schiff."

Sie warf ihm über die Schulter ein Augenrollen zu, gepaart mit einem lüsternen Grinsen. „Für unanständige Dinge bleibt uns auch später noch Zeit. Jetzt lass uns diese verruchte Stadt bestaunen, in der nur die leben, die genauso sind wie wir."

"Aye, Miss Bonny." Er begab sich an ihre Seite, bot ihr seinen Arm an, in den sie sich einhakte. "Wonach steht Ihnen der Sinn?", fragte er scherzend, während sie die Gangway hinunter zum Pier schlenderten. "Wollen Sie Champagner verkosten oder sich doch lieber die neueste Hutmode aus Paris ansehen?"

Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie das im Grunde wenig einladende Nassau betrachtete. „Diese Dinge gehören meiner Vergangenheit an. Zum Glück."
Der Geruch, der hier durch die Lüfte schwebte, konnte wahrlich nur von Seeleuten geliebt werden. Salzwasser mischte sich mit der widerlichen Note von Fischinnereien, Pech und Tran.

Die aus Holz erbauten Häuser wirkten nicht unbedingt standfest. Die meisten von ihnen boten einen schäbigen und ungepflegten Anblick.
Grölen und Gelächter, aber auch die Geräuschkulissen des ein oder anderen Streits drangen an ihre Ohren, untermalt von dem ewig anhaltenden Gekreische der Möwen.
Aber die Natur, die war durchaus atemberaubend. Goldener Strand, der sich zu beiden Seiten des Hafens fortsetzte, türkisblaues Wasser, unzählige Palmen, die den Weg säumten und das paradiesische Bild des Ortes perfektionierten. Man durfte lediglich nicht zu tief einatmen oder hinhören.

"Also, Alkohol und Glücksspiel?", fragte er und konnte nicht verhindern, dass eine kleine, hoffnungsvolle Nuance in seine Worte einfloss.

„Alkohol und Glücksspiel", bestätigte sie ihm. "Aber lass uns zuvor sehen, wo wir etwas zu Essen finden, das nahrhafter ist als der ewige Mehlbrei!" Voller Vorfreude zog sie ihn an der Hand durch die sandigen Gassen. Dabei richtete sich nicht nur ein Blick auf sie beide, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass Annes Aufmachung in Hose und Hemd einen eher ungewöhnlichen Eindruck für eine Frau bot.
Mary mochte auch mit ihnen gesegelt sein und sie und Anne waren weitaus nicht die einzigen ihres Geschlechts auf dieser Insel, aber all jene anderen trugen Röcke und tief sitzende Dekolletés.

Sie kamen an ein paar Geschäften vorbei, in denen Segelmacher, Zimmermänner oder Navigationsmeister ihre Waren oder Dienstleistungen feilboten, passierten zwei Seilereien, in denen neue Taue aus Fasern gewoben wurden und blieben schlussendlich vor einem Fenster stehen, hinter dem Seekarten und filigran wirkende goldene Kompasse ausgelegt waren.

Nachdem sie ein paar Straßen und Gassen durchstöbert hatten, wählte Jack eine Taverne in einer Seitengasse aus, in der sich die Leute dicht an dicht drängten, der schiefe Klang einer Fidel durch die bunten Glasfenster hinaus auf die Straßen drang und aus der es verführerisch nach Essen duftete. Es bedurfte der ein oder anderen monetären Aufmerksamkeit, ehe eine der Bedienungen sie an einen wackeligen Tisch mit zwei Schemeln setzte und ihnen je eine dampfende Schale mit Suppe, sowie zwei blecherne Gefäße mit einer klaren Flüssigkeit vor die Nasen stellte. Auf einen fragenden Blick hin ließ sich der überforderte Angestellte zu einem einsilbigen "Conch" herab, ehe er sie im Gedränge der Leute allein ließ.

Jack ließ seinen Löffel in die rote Brühe gleiten, in der undefinierbare, gummiartige Stückchen herumschwammen. Er ließ seinen Blick durch den Schankraum schweifen, doch keiner der Gäste schien seine Zweifel zu teilen. Allesamt löffelten schwatzend und kauend das einzige Gericht, das es in dieser Taverne zu geben schien.
"Das sieht ja widerlich aus!", befand er.

Ein alter Mann mit grauem Bart, den er an den Enden zu zwei Kufen gezwirbelt hatte, lehnte sich zu ihnen herüber.
"Conch!", erklärte er. "Das Nationalgericht der Bahamas. Ihr seid an die richtige Stelle gekommen! Es gibt keine Taverne in ganz Nassau, die eine Salzwasserschnecke derart deliziös zubereitet, wie in diesem Eintopf hier!" Schlürfend leerte er seine Schale, sodass es Jack nicht gewundert hätte, hätte er sie mit der Zunge saubergeleckt. "Sie sollten davon kosten, Junge!" Prostend hob er ihnen seinen eigenen verbeulten Becher entgegen und stürzte den Inhalt die Kehle hinunter, ehe er ihn lautstark auf den Tisch knallte. "Und weil die Schnecken schwimmen müssen, gibt es den besten Rum der Insel obendrein!" Er grinste und entblößte zwei Reihen fauliger Zähne.

Jacks Lippen verzogen sich zu einem unechten Lächeln.
"Danke, Sir!" Er wollte sich seinem Gericht widmen, doch der Alte fuhr damit fort, sich zu ihnen hinüberzulehnen.

"Für gewöhnlich gibt es Wartezeiten von etwa einer Stunde, um an einen Platz zu gelangen, auf dem ihr beiden sitzt." Sein wässriger Blick flackerte unstet zu Anne und wieder zu ihm zurück. "Solch eine lange Wartezeit nimmt man nicht auf sich, wenn man nicht weiß, wofür man ansteht." Er rieb sich über den Bart. "Seid ihr neu in der Stadt?"

Jack hob demonstrativ den Löffel an die Lippen und probierte von der Brühe. Es war nicht schlecht. Salzige Aromen der See mischten sich mit den fruchtigen von Tomate, Chilli, Limette und Kokosnuss. Anne schaufelte indessen ihre Schale leer, als hätte der Alte gerade nicht davon gesprochen, dass es sich bei den zähen Stücken um Schnecke handelte.
Gemächlich nahm Jack noch einen Schluck vom Rum, ehe er zu einer Antwort ansetzte. Er mochte den Zuckerrohrschnaps nicht. Aber dieser war dennoch wahrhaftig etwas Besonderes.
"Aye, wir sind heute Morgen eingelaufen."

Die buschigen Augenbrauen des Alten schnellten in die Höhe.
"Konntet ihr Edward Teach schon eure Aufwartung machen?"

"Edward Teach? Wer soll das sein?"

Als hätte der Alte jetzt erst bemerkt, dass es sich bei der Person, die mit Jack am Tisch saß, um eine Frau handelte, zuckte sein Blick zu ihr. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich kritisch zusammen, als würde es ihm schwerfallen auf die Entfernung ein klares Bild zu erkennen.

"Edward Teach, Miss!", wiederholte er. "Auch bekannt unter dem Namen Blackbeard! Der Mann herrscht über Nassau und die ganze Insel."

Mit einem Mal verstummten die Gespräche um sie herum. Ein jedes Augenpaar richtete sich auf den alten Mann. Jack beobachtete mit einem befremdlichen Gefühl, wie alle Männer und Frauen in der Taverne in Einigkeit ihre Gläser und Becher hoben und sie gleichzeitig dreimal auf das Holz der Tische niedersausen ließen, wie um der Herrschaft ihres Königs ihre Anerkennung zu zollen.

„Und wir sollen ihm eine Aufwartung machen, weil er hier das Sagen hat?", hakte Anne weiter nach und schob ihre geleerte Schale von sich, nur um sich dem Zuckerrohrschnaps zu widmen. „Ist das denn Pflicht?"

"Und ob, Miss! Den Piratenkönig lässt man besser nicht warten. Er sieht jeden kleinen Handel, jeden Pakt, weiß über jeden einzelnen Handschlag bescheid. Er hört jedes Wort, das gesprochen wird..."

"Und mit Sicherheit weiß er auch bei jeder Prise seinen Finger mit auf die Goldwaage zu legen", beendete Jack die Aufzählung ihres Gegenübers.

"Aye, so ist es, Junge. Informiert euren Käpt'n, dass er sich schnellstens dort sehen lassen sollte, bevor Blackbeard auf die Idee kommt, ihn sehen zu wollen."

Jack knirschte mit den Zähnen. "Ein weiter Steuereintreiber, der glaubt, sich einfach so an unserem Reichtum bereichern zu dürfen."

Anne legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm. „Wenn er einen zu großen Anteil fordert, dann werden wir uns eben doch nicht für unbestimmte Zeit in Nassau niederlassen."

"Das ist es nicht, Anne", wandte er ein. "Ich frage mich nur, warum keiner der Amateure, die sich uns als Hafenmeister vorgestellt haben, uns darauf hingewiesen hat, uns dort anzukündigen! Das lässt doch vermuten, dass einer der beiden Parteien nicht die Person sein kann, die sie vorzugeben scheint. Verstehst du meine Zweifel?"

„Aye und genau wegen dieser Zweifel hat Calico genügend Männer an Bord gelassen. Der Searose wird nichts geschehen. Und wir ..." Sie leerte ihren Schnaps und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: „Und wir gehen den Käpt'n holen und dann statten wir diesem Edward Teach seinen gewünschten Besuch ab, wenn er schon so scharf darauf ist uns kennenzulernen."

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