Kapitel 20
Nachdem wir das Besteck und die Tassen zurückgebracht hatten, erkundeten wir den Rest des Schulhauses. Im ersten Stock verkauften die Schüler, die textiles Gestalten als Fach hatten, und die, die wie ich damals im Kunstzweig waren, zusammen Karten, kleine, genähte Stoffanhänger, Schminktäschchen und ein paar andere Sachen, die man halt in der Schule machen konnte.
Tine kaufte für ihre Mutter, die bald Geburtstags hatte, eine Karte, auf der ein Blumenstrauß mit einer Mischung aus Aquarell und schwarzem Fineliner gemalt wurde. Ich fand sie wirklich schön und hatte mir fast überlegt auch eine mitzunehmen, aber ich machte Karten lieber selber, als sie mir zu kaufen.
Irgendwann kamen wir dann in den zweiten Stock, wo nur ein Raum geöffnet war, in dem man Just Dance spielen und Karaoke singen konnte. Ich war in beidem leider absolut schlecht und sang nur, wenn niemand dabei war. Tine schien auch nicht gerade Lust darauf zu haben, weshalb wir in Richtung der IT Räume gingen, wo ich früher Unterricht bei Tine gehabt hatte. Ich wusste nicht, was genau wir hier machten, aber ich ließ es einfach auf mich zukommen.
"Begleitest du mich nach drinnen?", fragte sie mich, als würde sie mich in ihre - unsere - Wohnung bitten.
"Natürlich, Frau Lindner", lachte ich und ergriff ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte.
Sie führte mich zu ihrem IT-Raum und kramte den Schlüssel aus ihrer hinteren Hosentasche hervor. Das Schloss war schnell geöffnet und sie zog mich durch die Tür, die sie direkt hinter mir wieder schloss. Ich ging zu meinem alten Platz und mir schossen sofort tausend Erinnerungen in den Kopf, die ich mit diesem Zimmer verband: Wie Tine vorne stand und uns unterrichtet hatte, wie meine Gedanken nur bei unseren Küssen gewesen waren und wie ich ihr hinterher geschmachtet hatte, obwohl alles hoffnungslos gewesen war.
Ich setzte mich auf den grauen Drehstuhl und Tine stellte sich an ihr Pult. Wir waren uns gegenüber, nur, dass uns zwei Tische, ein PC und ein Monitor trennten.
"Welches Thema behandeln wir heute im Unterricht?", fragte ich spielerisch nach und musste ein Lachen unterdrücken.
"Ich habe etwas ganz Besonderes vorbereitet. Dafür brauche ich aber jemand freiwilligen."
Ich meldete mich spaßeshalber, obwohl ich wusste, dass sie nur mich drannehmen konnte.
"In Ordnung, Elea. Komm bitte nach vorne zu mir ans Pult."
Ich stand wieder auf und ging um die lange Tischreihe herum zu ihrem. Dann stand ich vor ihr und wir sahen uns für einen Moment einfach nur an.
"Und wofür brauchen Sie mich?", fragte ich sie und biss mir auf die Unterlippe.
"Dafür", antwortete sie knapp, bevor sie mich an sich zog und unsere Lippen miteinander vereinte.
Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl unseres Kusses und Tines warmen Atems, der mein Gesicht streifte. Ein erleichtertes Seufzen kam von ihr und ich schnaubte belustigt auf. Sie musste schon etwas länger das Verlangen danach gehabt haben. Aber sie wollte zwischen den Schülern nicht weiter gehen, als unsere Hände zu halten. Nicht, weil wir zwei Frauen waren, sondern weil sie eine Lehrkraft und das nicht unbedingt professionell war. Noch unprofessioneller war aber das hier.
Plötzlich stieß mein Hintern an die Tischkante und holte mich in die Realität zurück. Wenn wir jetzt nicht aufhören würden, dann hätten wir hier gleich Sex auf ihrem Pult. Deshalb löste ich mich von ihr und ihr schien es auch in den Sinn zu kommen, dass es wohl besser wäre, wenn wir an diesem Punkt stoppen würden.
"Ich denke, Sie brauchen jetzt keine Freiwillige mehr", grinste ich.
"Lass uns wieder zu den anderen runtergehen", meinte sie und lächelte mich zufrieden an.
"Okay."
Zusammen verließen wir den Raum, den Tine wieder abschloss, und gingen nach unten ins Erdgeschoss. Da fiel mir ein, dass ich Frau Brünnlein noch nicht gesehen hatte, die mit Sicherheit in der Küche beim Abspülen oder Zubereiten half.
"Ich wollte noch kurz einen Abstecher in die Küche machen", gab ich ihr Bescheid.
"Geht klar, ich bin dann mal im Innenhof und unterhalte mich mit ein paar Eltern oder Kollegen."
Sie ließ meine Hand langsam los und wir trennten uns. Ich bog in den Gang nach links ab, von dem man durch die Glaswände in den Pausenhof sehen konnte, und Tine ging gerade aus und dann durch eine Glastür, wo sie schließlich zwischen den Leuten verschwand.
Ich lugte in die Küche, in der wirklich viel los war. Größtenteils ältere Schüler rannten umher und spülten ab, während ein paar andere Boxen zu ihren Deckeln sortierten, damit man diese den Eltern zurückgeben konnte, die etwas für das Fest gebacken hatten.
"Elea!" Frau Brünnlein kam gerade mit einem Wäschekorb voller Geschirrtücher, Putzlappen und Schwämme unter dem Arm aus dem Lager, in dem auch eine Waschmaschine und ein Trockner standen.
"Frau Brünnlein, wie schön dich wiederzusehen", begrüßte ich sie und umarmte sie glücklich.
"Ach, wir duzen uns schon so lange, da kannst du mich auch gleich Isolde nennen", bot sie mir an und ich nickte zustimmend.
Sie stellte schnell den vollen Korb ab und setzte sich für einen Moment hin.
"Ziemlich stressig hier. Aber das kenne ich ja gar nicht anders", lachte ich und beäugte für einen Moment wieder das Chaos um uns herum.
"Ach ja Elea, so ist das nun mal", sie seufzte, "aber jetzt erzähl, was machst du derzeit beruflich?"
"Ich mache eine Ausbildung zur Erzieherin", lächelte ich sie stolz an.
"Das ist schön. Du hattest ja schon immer eine soziale Ader, das hat man schon daran gesehen, wie du immer ganz schnell mit allen ins Gespräch gekommen bist, wenn du mal in einer anderen Gruppe warst", meinte sie und spielte dabei auf das Wahlfach Kochen an, das ich jedes Jahr seit der siebten Klasse belegt hatte.
"Ja, das stimmt. Derzeit bin ich aber in der Schule und auch noch nächstes Jahr. Aber dann bin ich das Letzte fast nur im Kindergarten."
"Ach, das überstehst du schon. Ich habe außerdem gehört, dass du und Tine euch gefunden habt", lächelte sie glücklich und ich war mir beinahe sicher, dass sie das spätestens bei diesem einen Nachmittag vor drei Jahren gemerkt hatte, als wir zusammen mit Tine Pizza gegessen hatten.
"Ja das stimmt. Hat zwar seine Zeit gedauert, aber jetzt haben wir uns", sagte ich glücklich und bemerkte im Augenwinkel einen Jungen, der auf uns zukam.
"Frau Brünnlein, da passt irgendwas mit der Spülmaschine nicht", nannte er sein Problem.
Die Frau mir gegenüber seufzte kopfschüttelnd und meinte: "Das war dann Wohl der Startschuss, um sich wieder ins Getümmel zu stürzen, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder."
"Ja, ich auch", verabschiedete ich mich ebenfalls von ihr und machte mich dann auf den Weg, um Tine zu suchen.
Das ging schneller als gedacht, aber ich bemerkte neben ihr einen Mann, der mir nur zu gut bekannt war. Es war Matthias, der sich inzwischen schon seinen vierzig Jahren näherte. Bevor ich die Zwei jedoch erreichen konnte, gingen sie weg. Was sollte ich tun? Einerseits vertraute ich Tine, dass sie nichts Unüberlegtes machen würde, aber andererseits wollte ich wissen, wohin sie verschwanden.
Ich musste schnell entscheiden und so beschloss ich, ihnen unbemerkt zu folgen, was mir sogar gut gelang, weil ich unter den anderen Leuten nicht auffiel. Sie gingen in den ersten Stock in Richtung Lehrerzimmer, doch bogen in den Gang danach ab, der zum Zweiten führte. In diesem Flur lagen zudem noch das Büro des Konrektors und ein paar Besprechungszimmer, die anscheinend ihr Ziel waren. Hier hielt sich trotz des Festes niemand auf, da dieser Teil des Schulgebäudes eigentlich nur von den Lehrern genutzt wurde.
Ich hörte, dass sich eine Tür schloss und schlich leise in den Gang, um den Raum zu suchen, in dem sie sich befanden. Zwar waren die Türen recht robust, aber man konnte trotzdem gut hören, was in den Zimmern vor sich ging, vor allem, weil die beiden nicht gerade leise waren.
"Was machst du denn hier?", fragte Tine leicht aufgebracht.
"Meine Verlobte Vera hat ihren Sohn hier auf der Schule, also habe ich jedes Recht", verteidigte er sich und Tine verstummte.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es war, wenn man erfuhr, dass ein Mensch, der einem mal so wichtig war, jemand anderen hatte. Auch, wenn sie keine Gefühle mehr für ihn hatte, musste es wehtun.
"Sie hat das, was ich dir nie geben wollte", fiel ihr auf und spielte damit auf das Kind an.
"Und sie hat mich nicht mit einer viel jüngeren Frau betrogen."
"Hör auf Matthias." Tines Stimme war mit einem scharfen und drohenden Unterton versehen.
"Tine, sieh sie dir doch mal an, war sie zu dem Zeitpunkt damals eigentlich volljährig? Sie hätte deine Schülerin sein können!"
Auf einmal war es still.
"Sie war deine Schülerin", kam es nach einer langen Zeit plötzlich fassungslos von dem Mann.
"Matthias, ich", begann Tine, doch ihr Ex-Verlobter schnitt ihr das Wort ab.
"Ich glaube es nicht. Du hast lieber mit deiner Schülerin, und ich betone es noch mal Schülerin, geschlafen als mit mir?!" Seine Stimme wurde laut und bedrohlich und ich presste mich noch mehr in den Türrahmen, in dem ich mich versteckte.
"Matthias ich war einfach nicht mehr glücklich mit dir. Das mit ihr kam noch dazu, aber ich war einfach nicht mehr glücklich in unserer Beziehung!" Jetzt war sie auch laut geworden, jedoch bei Weitem nicht so wie er.
"Trotzdem ist das kein Grund, gleich mit der Erstbesten Sex zu haben und das Schlussmachen bis zur letzten Sekunde herauszuzögern, bis kurz vor der Hochzeit!"
"Sie ist nicht die Erstbeste, ich liebe sie mehr, als ich dich jemals geliebt habe!", verteidigte sie mich.
Trotzdem ging es mir nicht aus dem Kopf, dass er es wusste. Ohne, dass ich es bemerkt hatte, rannen mir Tränen über die Wangen und ich schluckte schwer. Meine Zweifel kamen wieder hoch und mein Herz zog schmerzvoll in meiner Brust, aber ich erinnerte mich an Tines Worte beim Kuchenessen und versuchte, meine rasenden Gedanken zu beruhigen.
"Das ist mir doch jetzt egal, ich bin glücklich mit Vera, aber pass auf, dass du der Kleinen nicht das Herz brichst. Ich habe sie gesehen und bin mir sicher, dass sie das nicht verkraften würde", drohte er und ein grauenhafter Schauer zog sich über meinen Rücken.
Dann öffnete sich plötzlich die Tür und ich hatte Panik, dass er mich sehen könnte, doch er schien in die andere Richtung zu verschwinden. Ich wartete noch einen Augenblick, bis ich aus meinem Versteck hervorkam, schnell in den Raum hastete und die Tür hinter mir schloss.
Tine sah mich mit geweiteten, großen Augen an, immer noch im Schock darüber, was gerade passiert war.
"Was hast du gehört?", fragte sie und Tränen sammelten sich in ihren Augen.
"Alles", gab ich zu und sah sie einfach nur stumm an.
Dann breitete ich meine Arme auffordernd aus und sie kam die wenigen Schritte auf mich zu, um sich kraftlos gegen mich fallen zu lassen.
"Es tut mir so leid, dass du das mitbekommen hast", schluchzte sie.
Ich bewegte mich zusammen mit ihr zu einem der Stühle, setzte mich und zog sie auf meinen Schoß.
"Du musst dich nicht entschuldigen. Besser so, als dass du es mir noch mal erzählen musst."
Ich streichelte vorsichtig über ihren bebenden Rücken und spürte, wie mir ebenfalls die Tränen über das Gesicht liefen. Es tat mir weh, dass es ihr schlecht ging und ich hatte Angst, weil er unser Geheimnis kannte, das nicht mal irgendeine meiner Freundinnen kannte.
"Er weiß es", sprach sie meinen Gedanken plötzlich aus.
"Ich weiß. Aber er kann uns nichts. Er hat nichts gegen uns in der Hand, er kann dir - uns - nichts tun", versuchte ich sie zu beruhigen, was aber wahrscheinlich nicht gut klappte.
"Was, wenn doch?", schluchzte sie.
"Was soll er denn haben. Wir haben keine Chatverläufe oder Bilder und als wir miteinander geschlafen hatten, war auch niemand dabei", erklärte ich ihr, was ihr einzuleuchten schien, denn sie sagte für eine lange Zeit nichts mehr.
Ich wusste nicht, wie lange wir dort noch saßen, aber Tine schien sich zu beruhigen und atmete nur noch gleichmäßig ein und aus.
"Danke", flüsterte sie und ich drückte sie einfach kurz.
"Wollen wir vielleicht wieder los? Vielleicht sollten wir nicht noch länger abwesend sein. Ich will gar nicht wissen, was deine Kollegen sich denken", versuchte ich sie zu animieren und sie löste sich leicht, um mich anzusehen.
"Davor gehen wir aber noch aufs Klo", meinte sie und ich nickte.
Gemeinsam gingen wir zu den Lehrertoiletten, damit wir von keinem Schüler gestört werden konnten. Niemand sollte Tine mit verlaufener Wimperntusche sehen, erst recht nicht ihre Schüler. Die würden bloß wieder Gerüchte erfinden und verbreiten.
Nachdem sie sich frisch gemacht hatte und mir noch mal um den Hals gefallen war, um mich lange zu umarmen, gingen wir zu den restlichen Leuten und versuchten das ausklingende Fest zu genießen, auch, wenn es mit den Worten ihres Ex-Verlobten im Hinterkopf schwer war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top