Kapitel 10

Der nächste Morgen war grauenhaft. Ich war so müde, dass ich im Auto während der Fahrt zur Schule fast eingeschlafen wäre. Meine Beine und Waden taten von den Stöckelschuhen so weh, als wäre ich in ihnen einen Marathon gelaufen. Es war eine wirklich schlechte Idee gewesen und ich hätte einfach nur Ballerinas oder Sneaker tragen müssen, dann wäre mir das alles erspart geblieben. Der unsanfte Sex im Auto hatte auch seine Spuren hinterlassen, denn mein Becken tat ein wenig weh, wenn ich ging.

Auf dem Beifahrersitz lag eine Sporttasche, in die ich Sachen für das ganze Wochenende eingepackt hatte. Ich hatte zwar keine Ahnung, was Tine vorhatte, aber ich wusste, dass sie einen Plan hatte. Vielleicht lud sie mich ja zum Essen ein oder wir machten einen Ausflug, was bei den Temperaturen, die draußen herrschten, aber eher unwahrscheinlich war.

Als ich mit meiner Tasche in der Schule ankam, wurde ich seltsam von Mareike und Tiffany angesehen. Auch der Rest der Klasse musterte mich fragend, da wir heute keinen Sport hatten oder irgendetwas, für das wir eine Tasche bräuchten.

"Hey, ziehst du aus oder was machst du mit der?", lachte Tiffany und deutete auf den gemeinten Gegenstand.

"Ich bin das Wochenende über bei meiner Freundin." Ich war irgendwie stolz darauf, dass ich Tine meine Freundin nennen konnte.

"Ah okay, können wir sie eigentlich irgendwann mal kennenlernen?", fragte Mareike mich.

Die zwei hatten sich damit abgefunden, dass ich jemanden Neues hatte. Zwar war es nicht ihr Lieblingsthema, was auch der Grund war, weshalb ich und sie es so selten ansprachen wie möglich, aber da sie mit mir schon eine Weile befreundet waren, wollten sie auch das Beste für mich. Mit Manuela hatte ich nicht mehr gesprochen, aber da Mareike bald Geburtstag feierte, war ich mir sicher, dass ich sie dort wiedersehen würde. Ich hatte beschlossen, dass wir den Kontakt fürs Erste nicht halten sollten, damit sie über mich hinwegkommen konnte und Zeit für sich hatte. Ich wusste, wie schwer es war, aber das war wahrscheinlich das Beste für sie.

"Ich werde sie euch irgendwann mal vorstellen, vielleicht ein Abendessen in meiner Wohnung, aber gebt uns noch ein bisschen Zeit."

Sie nickten verständnisvoll, aber ich wollte gar nicht wissen, wie lange das noch anhielt. Sie hatten ja noch nicht erfahren, dass meine Freundin unsere ehemalige IT-Lehrerin war.

Ich schob den Gedanken zum Glück halbwegs beiseite und freute mich lieber auf das Wochenende. Es war unser erstes Mal, dass wir mehr als eine Nacht zusammenwohnen würden. Vor Aufregung sah ich alle paar Minuten auf die Uhr, trommelte mit den Fingerkuppen auf den Tisch und wippte mit meinem Knie auf und ab. Ein paar meiner Klassenkameraden sahen mich genervt an und ich versuchte peinlich berührt, damit aufzuhören und zur Ruhe zu kommen.

Nach acht Schulstunden war es endlich so weit und ich stürmte als erste aus dem Raum. Tine würde schon zu Hause sein und auf mich warten. Hastig verabschiedete ich mich von Tiffany und Mareike und ging im Laufschritt durch die vielen Seitenstraßen in Richtung Tines Wohnung. Ich brauchte wahrscheinlich deshalb auch nur die Hälfte der Zeit, um zu ihr zu kommen.

Als ich die Treppen nach oben rannte, erwartete sie mich schon im Rahmen ihrer Wohnungstür. Das hatte sie die letzten Male, bei denen wir uns hier getroffen hatten, auch getan, was ich unglaublich süß fand.

"Hey", begrüßte ich sie, noch bevor ich sie erreicht hatte.

"Hey, schön, dass du endlich da bist", hieß sie mich willkommen und gab mir einen kurzen Kuss.

Wir gingen in den Flur, wo ich mich auszog und mir der Duft von irgendeiner intensiven Soße entgegenkam.

"Was riecht hier so gut?", fragte ich sie neugierig und schnupperte noch ein wenig in der Luft herum.

"Spaghetti mit Tomatensoße. Ich wusste leider nicht, wann genau du Schluss hast, deswegen ist das Essen schon ein bisschen kalt. Ich kann es aber aufwärmen", entschuldigte sie sich.

"Nicht schlimm. Danke, dass du etwas gekocht hast", bedankte ich mich und spürte erst dann, wie hungrig ich überhaupt war.

Seit meinem Frühstück um kurz nach sieben hatte ich nichts mehr gegessen. Dementsprechend war es mir auch eigentlich egal, ob das Essen nun frisch aus dem Topf oder nur noch lauwarm war.

"Setz dich schon mal, ich wärme die Sachen schnell auf und dann können wir auch schon Essen", erklärte sie, während ich mich so hinsetzte, dass ich sie am Herd beobachten konnte.

"Wie war dein Tag? Hat irgendwer unsere Beziehung noch mal angesprochen?", wollte ich wissen.

Sie drehte sich zu mir um. Mit dieser Frage hatte sie ihrer Reaktion nach anscheinend nicht gerechnet. Sie schluckte und öffnete ein paar Mal den Mund, doch schloss ihn wieder.

"Hey? Alles okay?"

"Es hat bloß schneller die Runde gemacht, als ich dachte. Mich haben sicher zwanzig Kollegen gefragt, ob das wirklich stimmt. Die Blicke von ein paar waren echt unangenehm und ich habe mich ständig beobachtet gefühlt. Im Unterricht haben sich Schüler gemeldet und damit eine Klassendiskussion ausgelöst." Sie klang verzweifelt.

Ich stand auf und ging zu ihr. Meine Hände legten sich auf ihre Hüfte und ich presste meine sanft gegen ihre.

"Du hast doch gesagt, dass wir das zusammen schaffen. Ich werde immer für dich da sein. Außerdem weiß niemand davon, dass wir zu meiner Schulzeit etwas miteinander hatten. Es besteht keine Gefahr für dich", versuchte ich sie zu beruhigen und sie nickte nach meiner kurzen Ansprache resignierend.

"Ich liebe dich", flüsterte sie gegen meine Lippen, bevor sie ihre darauflegte.

Nach einem langen Kuss, der all ihr Vertrauen in mich auszudrücken schien, machte sie unser Essen fertig, das wirklich gut schmeckte, auch wenn ich es eigentlich gar nicht leiden konnte, wenn es wieder aufgewärmt worden war. Während wir aßen, redeten wir kaum miteinander. Nur oberflächliche Themen wie mein Schultag füllten die Stille und als wir gerade unsere Sachen in den Geschirrspüler räumten, fiel mir etwas ein, womit ich die Stimmung lockern konnte.

"Was hast du eigentlich für das Wochenende geplant?", fragte ich beiläufig und warf dabei einen Seitenblick auf Tine, dessen Lippen ein kurzes Lächeln umspielte.

"Heute wollte ich einen gemütlichen Abend machen, ein bisschen Reden, Musik hören und Essen bestellen. Natürlich nur, wenn du Lust darauf hast", sagte sie selbstsicher, aber hängte den letzten Satz schnell dran.

"Hört sich gut an", lächelte ich, "und morgen?"

"Da würde ich gerne mit dir ausgehen." Ein charmanter Ausdruck lag in ihrem Gesicht und meine Mundwinkel schossen begeistert in die Höhe.

Unser letztes Date hatte mir mehr als nur gefallen und ich wollte am liebsten sofort wissen, was wir genau machen würden, aber sie schien mich überraschen zu wollen, weswegen ich nicht mehr nachhakte.

"Hättest du Lust darauf, ein wenig Musik zu hören?"

Ihre Frage überraschte mich nicht, denn sie hatte vorher erwähnt, dass wir uns einen gemütlichen Abend mit Musik machen könnten. Ich war gespannt darauf, was für ein Genre sie bevorzugte, denn ich hörte alles, bis auf Schlager und Country Musik.

"Gerne", stimmte ich ihr zu und als wir im Wohnzimmer auf der Couch saßen, ging sie zu einem der Bücherregale an der hinteren Wand.

Auf einem der Bretter standen jedoch keine Bücher, sondern ein dunkler Kasten und viele dünne Umschläge, die sich als Schallplatten entpuppten. Sie schien also ein Fan von eher älteren Stücken zu sein. Zumindest ließ dieses alte Speichermedium darauf zurückführen.

"Was möchtest du hören?", fragte sie mich und ich zuckte kurz mit den Schultern.

"Such dir das aus, was du am liebsten hörst", überließ ich ihr die Wahl.

Kurz darauf hörte ich ein kurzes Knirschen, danach fing an, irgendetwas Schnelles zu spielen. Ich kannte das Lied irgendwoher und die Stimme konnte ich sofort Elvis zuordnen, der Titel fiel mir jedoch nicht ein.

"Elvis?", hakte ich neugierig nach und ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

"Ja, mein Vater hat mich früher immer seine Platten hören lassen. Unter anderem waren Elvis und die Rolling Stones dabei, etwas seltener auch die Beatles." Sie schien in Erinnerungen zu schwelgen, denn ihre Stimme hatte einen leicht verträumten Ton angenommen und sie blickte in die Ferne.

"Mein Vater hört ACDC und Metallica. Meine Mutter wollte nicht, dass ich das höre, und hat mir stattdessen immer Michael Jackson oder irgendwelche Hörspiele von Biene Maja eingelegt", lachte ich, bei dem Gedanken daran, wie schockiert meine Mutter war, als ich bei meinem Vater im Arbeitszimmer gesessen hatten und aus den Boxen Dinge wie 'Asshole' gebrüllt worden waren.

"Bildungsauftrag: Erledigt", lachte sie und zeichnete einen Haken in die Luft.

Wir lachten noch eine Menge, vor allem wenn wir von Anekdoten aus unseren Kindheitstagen erzählten. Ich wusste nach zwei Stunden, dass Tine, als sie vier oder fünf war, in die Regentonne ihrer Großmutter gefallen war, bei der sie hin und wieder gewohnt hatte, da ihr Vater jung an Krebs erkrankt war und ihre Mutter nicht gewollt hatte, dass sie das Leiden ihres Vaters mitbekam. Zum Glück hatte er es überlebt. Außerdem hatte sie bei einem Besuch ihrer Großmutter eine Designerhose mit Löchern dabeigehabt. Da ihre Großmutter gelernte Schneiderin war, hatte sie die Hose geflickt, in dem Glauben, dass sie kaputt gewesen war.

Nach einer Weile wurden wir jedoch vom Knurren meines Magens unterbrochen.

"Wollen wir uns etwas bestellen?", fragte sie mich amüsiert.

"Mein Körper schreit förmlich danach", lachte ich.

"Was möchtest du denn? Also ich hätte Lust auf Sushi", schlug sie vor.

"Hört sich gut an, ich habe das schon so lange nicht mehr gegessen", überlegte ich.

Kurz darauf tätigte sie einen Anruf, während sie die Karte des Ladens in der Hand hielt. Für mich war zum Glück etwas Vegetarisches dabei, sonst hätte ich wahrscheinlich irgendeine Suppe oder Frühlingsrollen nehmen müssen.

"Wie lange dauert es, bis es da ist?", fragte ich Tine, sobald sie aufgelegt hatte.

Seitdem mir wirklich bewusst war, dass ich Hunger hatte, war es schlimmer geworden und ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Essen.

"Also die Frau am anderen Ende meinte, dass es so in zwanzig Minuten bis einer halben Stunde bei uns sein sollte. Wir haben echt Glück, dass meine Wohnung in der Nähe von der Stadtmitte liegt."

"Eine halbe Stunde werde ich wohl noch aushalten. Wenn sie aber länger brauchen muss ich wohl etwas anderes vernaschen", murmelte ich anzüglich, legte dabei meine Hand auf ihren Oberschenkel und ließ sie nach oben wandern.

"Damit sollten wir vielleicht noch warten, bis das Essen da ist. Wir wollen ja nicht, dass uns jemand unterbricht", meinte sie angestrengt und ich gab ihr einen kurzen Kuss, bevor ich von ihr abließ.

Letzten Endes war ich froh, dass wir gewartet hatten, denn das Essen kam früher als erwartet. Tine holte einen Weißwein zusammen mit ein zwei Tellern aus der Küche, während ich zum Plattenspieler gegangen war und mir etwas aussuchte. Als ich bei den Platten von Elvis ankam, zog ich einfach eine aus dem Regal. Es war eine Sammlung seiner besten Lieder und ich entschied mich dafür, sie einzulegen. Ich hatte bis jetzt nur einmal einen Plattenspieler verwendet, weshalb es eine kurze Weile dauerte, bis ich das erste Lied zum Laufen brachte.

"Ein schönes Lied, das du ausgesucht hast", schwärmte Tine, die gerade zwei Weingläser auf dem Couchtisch abstellte. Gerade eben lief 'Can't Help Falling In Love'.

"Danke, das ist die Platte, auf der seine Besten drauf sind", lächelte ich und genoss die ruhige Musik im Hintergrund.

Gemeinsam setzten wir uns hin und platzierten das Sushi, zusammen mit Wasabi und Sojasoße auf unsere Teller. Zum Glück konnte ich einigermaßen mit Stäbchen essen, so musste ich mich nicht vor Tine blamieren, die mit ihnen genau so gut wie mit einer Gabel umgehen konnte.

"Isst du häufig Sushi?", fragte ich sie beiläufig, als mir gerade mein Maki aus den Stäbchen in das Schälchen mit der Sojasoße gerutscht war.

"Recht oft, ich liebe die japanische Küche. Koreanisch esse ich aber auch sehr gerne."

"Merkt man, so gut wie du mit den Teilen", ich deutete mit meinen auf ihre Stäbchen, "umgehen kannst."

Sie sah mich nur mit zusammengepressten Lippen an, um ein Lachen zu unterdrücken. Ich versuchte mein Sushi aus der Soße zu bekommen, aber es wehrte sich vehement dagegen.

"Ich helfe dir", lächelte sie und schaffte es mein Essen aus dem Schälchen zu fischen, um es mir auffordernd vor den Mund zu halten.

Zaghaft öffnete ich die Lippen und sie schob mir das vor Sojasoße triefende Röllchen in den Mund. Ich verzog kurz das Gesicht, bevor ich mich an den starken Geschmack gewöhnte. Von Tine kam nur ein belustigtes Kichern.

Nachdem wir aufgegessen und zusammen eine ganze Flasche Weißwein getrunken hatten, lagen wir mehr aufeinander als nebeneinander auf der Couch. Mein Kopf ruhte auf ihrer Schulter, meine Hände hatten sich um ihre Taille geschlungen und mein linkes Bein lag zwischen ihren. Sie hatte ihren Kopf auf die Sofalehne gebettet und ihre Arme um meinen Oberkörper gelegt. Wir hatten noch nicht einmal unser Vorhaben umsetzen können, obwohl wir sonst nicht die Finger voneinander lassen konnten, so müde waren wir. Trotzdem war ich zufrieden damit, dass ich in ihren Armen einschlafen konnte.

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