2. Die schlimmste Zeit des Jahres
Gab es eine Zeit des Jahres, die noch schlimmer war als Weihnachten? Er musste diese Frage unweigerlich mit nein beantworten. Keine andere Zeit des Jahres führte einem die eigene Einsamkeit und das persönliche Versagen so gut vor Augen wie Weihnachten. Alle waren so aufgesetzt freundlich und fröhlich. Menschen die das ganze Jahr über unfreundliche Egomanen waren wurden plötzlich zu Santa Clause persönlich, jedenfalls kam es ihm so vor. Überall waren Menschenmengen und an jeder Ecke stand ein Chor, der so viel Glühwein intus hatte, dass die Hälfte von ihnen den Text der Weihnachtslieder vergaß, die sie dort zum Besten gaben. Niemand war mehr er selbst und die ganzen Pärchen, die lachend durch den Schnee spazierten und Weihnachtseinkäufe machten, wirkten auf ihn wie skurrile Ebenbilder aus kitschigen Weihnachtsfilmen. Sie waren so naiv, dass sie Weihnachtsstimmung mit Liebe verwechselten, es war schlimmer als am Valentinstag. Wie sollte er das noch weitere vier Wochen aushalten?
Seit er denken konnte, war Weihnachten ihm ein Graus. Selbst als Kind hatte er es gehasst, sein Vater hatte sich mit Eierlikör volllaufen lassen und hatte seine Mutter bei allem was sie tat kritisiert. Die Ente ist zu trocken, die Kartoffeln zu kalt, die neue Krawatte war zu breit, die Musik zu laut und die Lichter am Weihnachtsbaum zu kitschig und grell. An allem hatte er immer etwas auszusetzen gehabt, hatte nur angeduselt vor dem Fernseher gehangen und ihn jedes Mal zur Schnecke gemacht, wenn er auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche, wo er seiner Mutter half, durch das Bild lief. An manchen Tagen hatte er sogar die Pantoffeln nach ihm geworfen oder wahlweise auch die Fernbedienung und alles Weitere in seiner unmittelbaren Umgebung, das nicht niet-und nagelfest war. Diese Weihnachtsstimmung, von der während der Feiertage alle besessen waren, kannte er nicht und so kam es ihm grotesk vor. Als wäre die Realität außer Kraft gesetzt und alles glänzte und leuchtete. Die Menschen vergaßen das Leid der Welt und die Probleme anderer. Es war eine Maskerade aus Glückseligkeit, die er nicht teilte.
Statt dessen saß er nun den ganzen Abend hier, in einem kleinen Lokal und blies Trübsal, wollte nur einen guten Whiskey genießen und das mit der Illusion von Geselligkeit und dann angetüddelt ins Bett fallen. Leider war heute Abend im Tropfenden Kessel, den er als Schauplatz seines Besäufnisses auserkoren hatte, eine idiotische Speed-Dating Veranstaltung, sodass er letztendlich hier landete.
Wobei sich verzweifelte Singles in ihrem Wahn, zu Weihnachten doch noch den richtigen Partner zu finden, zu beobachten spaßig angehört hatte, er war lieber gegangen. Dass eins der frustrierten Exemplare noch ihn an der Bar angesprochen hätte, das wollte er nun wirklich vermeiden. Auch den Bemühungen von Tom, ihn zur Teilnahme zu überreden, wollte er aus dem Weg gehen. Er hatte ihm gesagt, dass die Veranstaltung bis zweiundzwanzig Uhr gehen würde, also hatte er sich entschieden bis dahin hier zu bleiben, in diesem urigen kleinen Lokal und nach dieser Uhrzeit erst den Tropfenden Kessel aufzusuchen, denn der Feuerwhiskey dort war eindeutig besser als dieser.
Aber auch der Plan des einsamen Trinkens nur mit der Illusion von Gesellschaft durch die umsitzenden Personen wurde zunichte gemacht, denn der Barkeeper war durchaus sehr gesprächig und schneller als er es realisieren konnte befand er sich in einem Gespräch mit ihm, was im Nachhinein angenehmer war als zuerst erwartet.
Er hatte ihm von seiner Frau erzählt, die vor vielen Jahren gestorben war und wie sehr er sie gerade zur Weihnachtszeit vermisste und dass er seine Stimmung, die er ihm an der Nasenspitze ablesen konnte, durchaus nicht fremd war. Er hatte sich durch diese Vertrautheit, die er schaffte, dazu hinreißen lassen ihm auch einige private Dinge aus seinem Leben anzuvertrauen, wie die Geschichte mit seinen Eltern und dass er nie ein schönes Weihnachtsfest hatte. Noch jetzt wunderte er sich darüber, dass er so offen zu ihm war. Er hatte außer Albus, Lucius und Lily noch nie jemandem von seiner Familie erzählt und hatte es auch nie wieder vor gehabt. Was hatte dieser Mann nur an sich gehabt, dass er sich so bereitwillig geöffnet hatte? Aber nicht nur das hatte er preisgegeben, sondern auch, dass er tatsächlich seit vielen Jahren einsam war und ihm nur noch sehr wenige Freunde in seinem Leben geblieben waren. Aber als das Gespräch darauf gelenkt wurde, warum er keine Frau hatte, hatte er angefangen abzublocken. Das war ein Thema, das er tunlichst vermied und verdrängte. Also hatte er ab dem Moment nur darauf gewartet, dass es zweiundzwanzig Uhr wurde und er endlich gehen konnte, um sich den netten Ratschlägen und Fragen von Walter zu entziehen. Er wollte einfach nicht hören, wie schön es war, den einen Menschen, dessen Seele zur eigenen passte, der einen vervollständigte und ergänzte, zu finden. Denn es würde ihm niemals passieren. Er war kein einfacher Mann und schon gar nicht gut - für niemanden. Zu viel Furchtbares hatte er in seinem Leben erfahren und tun müssen, zu viel Ballast auf sich geladen. Heute hatte er, nach vielen Gesprächen mit dem Portrait seines, durch seine Hand, verstorbenen Mentors, damit irgendwie seinen Frieden gemacht, aber er glaubte dennoch, dass niemand seine Gesellschaft verdiente. Und zumeist konnte er auch gut auf Gesellschaft verzichten. Selbst Minerva, die eine Engelsgeduld mit ihm gehabt hatte nach dem Krieg, verzweifelte auch heute von Zeit zu Zeit noch an seiner schroffen Art, dennoch wurde sie es nie müde, zu versuchen, seine harte Schale zu knacken. Vielleicht war er einfach dazu bestimmt alleine zu sein, das hatte er auch Walter gesagt, der das vehement bestritten hatte und zu einer kryptischen Erklärung angesetzt hatte, darüber dass es für jeden Topf einen Deckel gab, oder so ähnlich. Ein wenig hatte ihn der Vortrag an die von Albus Dumbledore erinnert und er hatte ihn in diesem Moment sehr vermisst, so frustrierend seine Ratschläge, die er häufig ungefragt und in Rätseln äußerte, auch manchmal waren. "Sie dürfen sich nicht so dagegen verschließen, sie könnte nur einen Zusammenstoß entfernt sein", hatte Walter ihm gesagt. Und kurz darauf war er endlich vom Schlagen der Standuhr erlöst worden und mit schnellen Schritten zum Tropfenden Kessel hinüber geeilt. So nett der Mann auch war, das letzte was er an diesem Tag gebrauchen konnte, waren solche Weisheiten.
Hier hatte er nun stundenlang in einer dunklen Nische gesessen, den Alkohol genossen, der seine Gedanken wenigstens kurzzeitig hatte verstummen lassen und die Paare beobachtet, die sich bei diesem Speed-Dating scheinbar tatsächlich anziehend und sympathisch gefunden hatten. Er verdrehte die Augen, als er den Blick über sie gleiten ließ. Schon auf den ersten Blick war er sich sicher, dass sie nicht lange Gefallen aneinander finden würden, höchstens bis nach den Feiertagen, wenn die Realität wieder zuschlug und die Unzufriedenheit zurückkehrte und sie feststellen würden, dass sie sich nur aneinander geklammert hatten, aus dem Wunsch nicht allein zu sein. Dabei vergaßen sie, seiner Meinung nach, eine entscheide Sache, noch schlimmer als allein zu sein, war es mit dem falschen Menschen allein zu sein. Er fragte sich, wie verzweifelt man sein musste, um sich zu einer solchen Tat hinreißen zu lassen, sich mit weniger zufrieden zu geben, als man verdiente. Eher würde er sich eine Hand abhacken lassen, bevor er sich dort einreihte, lieber blieb er allein, denn das war es ohnehin, was er verdiente.
"Ich schließe gleich", teilte Tom ihm mit, "Das ist die letzte Runde." Mit diesen Worten stellte er ihm ein volles Glas Whiskey vor die Nase und entfernte sich, informierte auch die anderen Gäste. Sein Blick fiel auf die Uhr, es war wirklich spät geworden, er sollte nach Hogwarts zurückkehren. Wenn er diesen letzten Whiskey ausließ, konnte er sicher auch noch unfallfrei apparierren. Also legte er was er schuldig war und ein paar Sickel extra auf den Tisch, erhob sich und streifte den schwarzen Mantel über. Verließ das Lokal, während er sich noch den Schal umband. Die Tür stieß er mit dem Fuß recht heftig auf und hörte gleich darauf ein lautes Keuchen.
Wie er über die Türschwelle trat, sah er, dass er eine junge Frau mit der Tür getroffen hatte, die sich nun die Stirn hielt und dabei ihr Gesicht verdeckte. Innerhalb einer Sekunde hatte sein Blick die Situation erfasst und sein Gehirn sie eingeordnet. Ihm waren die Schneebedeckten Schuhe und der nasse Saum der Jeans ins Auge gefallen, die wilden Locken, in denen Schneeflocken hingen und wie sie taumelte. Bevor sie allerdings fallen konnte hatte er einen großen Schritt nach vorne gemacht und sie aufgefangen und an sich gedrückt.
"Entschuldigen Sie bitte, ich-", setzte er hastig zu einer Entschuldigung an und versuchte ihr dabei zu helfen, ihren festen Stand zurück zu gewinnen. Er brach jäh mitten im Satz ab, als die Frau panisch aufsah und ihr Blick sich in seinen bohrte. Warmes braun und ein scheuer, erschrockener Blick und es traf ihn, wie ein Vorschlaghammer. Er hatte Hermine Granger fast mit der Tür erschlagen.
"Sie!", rief sie überrascht aus, ihr Blick leicht verhangen, "Sie haben mich fast erschlagen." Er bemerkte deutlich das Lallen in ihrer Stimme und ein leichter alkoholischer Geruch schlug ihm entgegen. Sie hatte getrunken und das nicht zu wenig.
"Gott, mein Schädel fühlt sich an, als würde er gleich platzen", beklagte sie sich.
"Es- tut mir leid", stammelte er, sah sie nach wie vor an, als hätte er einen Geist vor sich.
"Sie haben getrunken!", stellte Hermine fest, verzog das Gesicht, als sein Atem ihr Gesicht streifte.
"Wer im Glashaus sitzt..", gab er zurück.
Sie machte einen undefinierbaren Laut und kniff die Augen zusammen. "Mir ist schlecht", stellte sie fest, "Mir ist so verdammt-" Aber weiter kam sie nicht, sie hatte sich bereits zur Seite gelehnt und sich übergeben, direkt auf seine Schuhe.
Fabelhaft, dachte er, Als hätte dieser Abend nicht furchtbarer werden können.
Er seufzte, verstärkte den Griff um ihre Taille, da sie nun wieder anfing zu wanken. Er wollte doch nur etwas trinken und für einen Moment vergessen, wie beschissen sein Leben war, dass das Ende des Krieges vor so vielen Jahren nichts geändert hatte, dass er sich nach wie vor fühlte, als wäre sein Leben fremdbestimmt, eine endlos lange To-Do-Liste, über die er selbst keine Entscheidungsgewalt hatte. Und dann lief sie ihm in die Arme, die kleine Miss Know-it-all Granger, seine ehemalige Schülerin, Kopf des goldenen Trios, Harry Potters beste Freundin.
"Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause", entschied er, er konnte sie in dem Zustand nicht allein herumwandern lassen. Zudem war er sich nicht sicher, wie stark er sie mit der Tür erwischt hatte, sie brauchte wenigstens einen Trank dafür. "Wo wohnen Sie?", fragte er, sah sie eindringlich an.
Sie blickte ihn kritisch an, kniff immer noch die Augen zusammen, als könnte sie nicht klar sehen. War dem so? Hatte sie keine Ahnung, wem sie die Beule von morgen zu verdanken hatte?
"Meine Eltern haben mir beigebracht, keinen fremden Männern zu sagen, wo ich wohne", lallte sie. Bei Merlin, sie ist wirklich sturzbetrunken, stellte er fest.
"Ich bin kein Fremder, sondern Ihr Taxi nach Hause, Miss Granger", meinte er nun etwas genervter. Wieder traf ihn ein forschender Blick. "Na gut", gab sie klein bei, nannte ihm die Adresse. Er zog sie wieder näher zu sich, immerhin hielt er sie noch immer fest und konzentrierte sich, verschwand mit einem leisen Plopp.
Auf der anderen Straßenseite, unbemerkt von den beiden eben verschwundenen, stand ein Mann und grinste in sich hinein. Jetzt müssen sie es nur noch erkennen, dachte er vergnügt, ihre Träume werden ihnen helfen. Er schloss lächelnd die Augen und ein seliger Ausdruck trat auf sein Gesicht und er verschwand in einer Wolke, die einen Moment funkelte wie der Sternenhimmel über ihm. Sie schickte ihn für die nächsten zwölf Stunden Heim zu seiner großen Liebe, bevor er wieder zurückkehren würde, um für die restlichen dreiundzwanzig Tage die Aufgabe zu erfüllen, die er sich seit seinem Tod vor 95 Jahren auferlegt hatte, jedes Jahr aufs Neue für vierundzwanzig Tage.
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