KAPITEL 6

Morgen. Neuanfang. Ein Start.

Das sind meine Gedanken, als ich die Stufen hoch zum Campus schreite. Neben mir Mily wie eine schützende Kraft.

Aber ich weiß auch, dass dort noch andere Gedanken sind.

Angst. Neu. Unerwartet. Unsicher.

Ich atme tief durch. Schiebe alles beiseite.

„Kopf hoch Süße!" Mily mustert mich und nimmt meine Hand in die ihre. "Wenn es jemand kann, dann bist du das!"

Meine Aufmerksamkeit wird von mir zu meiner Freundin gezogen und ich grinse, als ich Erwartungen, Hoffnungen, und Träume in ihren Augen stehen sehe. Sie glitzern bei Mily heller, als der hellste Stern auf Erden.

„Und du Süße..." Ich stupse sie an. "... schlepp ja keinen neuen Typen an. Ich kann keinen bedrängenden Austauschschüler mehr an deiner Seite ertragen!"

„He! Du hast doch gesagt, dass er ganz nett war!"

„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße", belehre ich sie.

„Ist ja gut, ich gebe zu, er hatte immer diese blöden Angewohnheiten und, er ... ja er war etwas ..." Sie seufzt. "Gönnst du mir mein Glück denn nie?", scherzt sie.

„Das war kein Glück, Mily. Der war Horror. Du hast einen echten Mann verdient", sage ich, drücke ihre Hand und lasse sie dann los, als ich mich daranmache, die große Eingangstür aufzustemmen. "Voila, wir sind da!"

Meine Freundin lacht. „Das sind wir." Sie blickt sich um. "Ganz schön groß!"

Ich schlucke. „Jap."

Dann suche ich meinen Stundenplan und überprüfe, wo ich entlang muss. "Ich denke, ich muss da lang." Ich zeige nach links, den Gang hinunter.

Mily zieht eine Schnute und zeigt nach rechts. "Und ich da." Dann stellt sie sich auf Zehenspitzen und drückt mich an sich.

Ich atme ihr Parfüm nach Waldfrucht ein. "Hast du eigentlich dein Micky- Mouse-Outfit angezogen, oder war das nur ein Scherz heute früh?"

Mily zieht ihre Jacke auf und entblößt ihren Micky-Mouse-Pulli. "Ich scherze nie, Dev! Das solltest du wissen!"

Ich nicke. Das weiß ich wirklich. "Na dann, verführ sie mit deinen super Micky-Mouse-Kräften, vergiss was ich vorhin gesagt habe." Ich lache.

„Das werde ich machen. Und bei der Gelegenheit erwähne ich dann dich und sage ihnen, dass du Single bist und nur ..." Ich drücke ihr den Mund zu.

„Reicht schon wieder mit deinen Fantasien", grinse ich.

Sie salutiert und streckt ihren Plan ein. "Ja, wir wollen ja nicht, dass du errötest und anläufst wie eine knallrote Tomate." Sie kichert und ich schenke ihr einen meiner besten Killer-Blicke. "Wir sehen uns in der Pause. Selber Ort."

Ich nicke und gehe nach links, während sie nach rechts geht. Verschiedene Wege und doch der gleiche.

"Ich werde dich immer finden", murmle ich vor mich hin, während ich abbiege und alles aus den Augen verliere. Immer ...

*

Durchgefroren schlüpfe ich durch die Ladentür des Petshops und ziehe sie hinter mir mit einem Wums wieder zu. Dann stelle ich das Schild auf „geöffnet" und puste mir warme Luft in die Hände. Langsam macht sich der Herbst bemerkbar. Und trotz der Kälte grinse ich verstohlen, ich kann es kaum erwarten, all die schönen Blätter in den typischen Farben meiner Lieblingsjahreszeit glänzen zu sehen.

Ich ziehe mein Handy hervor und gehe auf meinen Blog. Geistesabwesend schlendere ich hinter die Theke und öffne die Kasse, versorge die kleinen Tiere mit neuem Futter und scrolle gleichzeitig an meinem Handy herum.

Ich komme. Wohne in der Nähe, hab mich mit Ester schon ausgetauscht. Kostüme und Konfetti kannst du abhaken auf deiner Liste, Braisly! Schönen Tag noch, Linda!

Immer mehr Nachrichten sind eingegangen. Ich lächele bis über beide Ohren. Morgen ist es soweit. Nur irgendetwas fehlt noch ... ich weiß aber noch nicht was. Was wäre ein Highlight bei einer Kindergeburtstags– Party?

Die ersten Kunden kommen in den Laden und ich grüße sie freundlich. Ich wende mich dann aber entschuldigend ab, als mein Handy bimmelt. Der übliche Ton ist zu vernehmen: Like that, you pushing me harder ... Bea Miller, ich grinste in mich hinein.

„Ja?" rufe ich in den Hörer und kichere als ich Milys empörte Stimme höre.

„Wo bist du? Ich hab jetzt erst Pause und du, du bist nirgends zu finden!" Ich höre Stimmen, Gemurmel, eine tosende Menge. Sie ist in der Cafeteria.

„Ich durfte früher gehen." Ich strecke ihr die Zunge raus, auch wenn sie es nicht sehen kann und mache mich daran eine Kundin abzukassieren.

„Was? Warum passiert mir so etwas nicht?" Sie scheint sich zu beruhigen. "Aber gut, dafür hab ich jeden Donnerstag so gut wie frei." Das scheint sie versöhnlich zu stimmen.

„Na also. Wie siehts aus, ist das Essen gut?" Ich winke einer Stammkundin zu, die den Laden gerade wieder verlässt.

„Es ist ... Kotz! Reicht das aus. Wir müssen uns entweder immer irgendwo anders etwas kaufen oder etwas mitnehmen. Meine Nase wird nie wieder etwas von diesen Speisen einatmen. Iiiiii!"

Ich lache. „So schlimm, kann es doch gar nicht sein!" Ich räume weiter Regale ein.

„Doch!" Ich schüttle den Kopf.

„Hast du schon jemanden verführt mit deinem tollen Outfit?" Ich kann mir ihr Gesicht mit ihrer gerunzelten Nase und den Sommersprossen so gut vorstellen, als stünde sie direkt vor mir.

„Jaaaa! Das hab ich noch gar nicht gesagt!", schreit sie aufgeregt. "Ich habe jemanden kennen gelernt, er heißt ..."

„Warte sag's nicht, ... mhhh, einen Jason, oder doch eher einen ... Jerom??" Ich rolle mit den Augen als sie kichert.

„Nein, ich habe Bekanntschaft mit Mister Mülltonne machen dürfen. Er steht neben meinem Tisch und ist immer randvoll gefüllt mit den leckersten Sachen ..."

Ich grunze. "Mily, hör auf mich zu verarschen! Dann sag halt, dass du niemanden an Land ziehen konntest!"

„Aber das wäre unter meiner Würde!", schreit sie empört und kichert. "Die verstehen alle noch nicht, wie toll Micky Mouse ist."

„Jaaa" sage ich gedehnt und kassiere einem alten Mann ab. Hundefutter. Mhhh, das möchte ich ungern genießen. Als er geht, tritt er zur Seite und ich habe genau den Blick durch ein Schaufenster nach draußen frei. Mein Atem stockt. Dann reiße ich meine Augen auf. "Ich muss auflegen!" Ohne eine Wiederrede abzuwarten, stecke ich mein Handy weg und flitze nach draußen.

Ich weiß nicht was mich überkommt, aber ich brüllte. Und das laut. "Hey!", schreie ich. "Was machst du hier?" Ich stehe vor Janick, der sich verwundert umdreht.

„De-Devery?" Erkenntnis macht sich in seinen Augen breit. "Wow, du hast dich ganz schön veränder ..."

„Ja! Ja genau das habe ich. Mily auch. Und du, wie es aussieht, auch!", knalle ich ihm hin. "Was soll das!"

„Was soll was? Ich kann nichts dafür, dass ich wachse", lacht er auf und fährt sich durch seine braunen Haare.

Ich schnaufe. "Was machst du hier? Du, Ihr ..." Ich balle meine Hände zu Fäusten. "Verschwinde! Verschwinde!", brülle ich und stürme auf ihn zu. "Wenn du Mily auch nur einmal zu Nahe kommst dann ..."

Er baut sich vor mir auf. "Dann was? Sie hat sich damals so aufgeführt, sie ist das Miststück das ..."

Ich knalle ihm eine. Fest, hart und so schnell, dass mein Gehirn erst merkt, dass ich ihm eine verpasst habe, als meine Hand anfängt zu schmerzen. "Wenn du auch nur noch einmal so von ihr redest ...!"

Er knurrt gefährlich auf, ich weiche aber nicht zurück. "Wir waren damals Freunde, wir habe zu euch aufgesehen. Ich-ich glaube es nicht. Ihr hättet nicht so leicht davonkommen sollen ..." Meine Lippen beben. Dann ändert sich die Stimmung. Ich spüre es. Spüre es, weiß es, noch bevor er die Stimme erhebt. Er ist hier. Genau hinter mir. Mein Dönner-bringender Untergang. Meine Stimme stockt, als er neben mich tritt und Janick mustert.

„Gibt es hier ein Problem?" Ich höre seinen Kiffer malen.

„Obs hier ein Problem gibt? Ich denke das einzige Problem bist du!", pfeffert Janick hinaus und ballt die Hände. Sein Atem geht stoßweise, er ist aufgebracht.

Harleys Schultern spannen sich an. In meinen Kopf tut sich ein Schalter um und ich atme klar durch. Flehend blicke ich zu Dereks Freund auf und schüttle leicht den Kopf. Nicht.

Seine Augen verharren bei meinen, fahren über meine Augenbrauen nach oben, nehmen meine Gesichtszüge auf, meine verkniffenen Lippen und blitzen. Dann stellt er sich auf einen Fuß und wippt hin

und her. Chillig. Gelassen. Das zumindest soll es darstellen. Ich sehe seine unruhigen Hände und höre seinen Atem, der keuchend geht. "Ich denken du solltest gehen."

Janick starrt ihn an. Lange. Harley starrt zurück. Ich schlinge meine Arme um mich. Zu atmen traue ich mich nicht. Es ist alles außer Kontrolle geraten. Wir sollten an dieser Stelle aussteigen. Bei Janick sind noch nicht alle Gehirnkapazitäten hinüber, wie ich merke, als er wiederwillig sein Handy hervorholt und auf den Absatz umdreht. „Ihr seid es nicht wert. Mily war es auch nie wert gewesen!", murmelte er desinteressiert, so als wäre nichts gewesen.

Ich merkte erst, dass ich zittere, als Harley eine Hand auf meine Schulter legt und ich aufatme. Als er etwas sagen will, schüttele ich nur stumm den Kopf und gehe zurück in den Laden. Immer weiter, bis hinter die Theke und verstecke mich dahinter. Sie ist ein Schutz. Zwischen mir und jedem der diesen Laden betritt.

Die Klingel bimmelt und Harley tritt ein. Ich sehe ihn böse an. "Verfolgst du mich etwa?"

Er beißt die Zähne zusammen. "Nein Süße, ich will nur in einen Tierladen, um Tierzeugs zu kaufen."

„Ach ja? Du warst hier noch nie, warum solltest du jetzt ..." Ich stocke als er sich zu mir umdreht und mich unterbricht.

„Ich verstehe, wenn du wegen dem was gerade passiert ist nicht reden willst, aber dann gestatte mir wenigstens, mich hier ein bisschen umschauen."

Ich nicke, als wäre jetzt alles klar und streiche mir besonnen durch die Haare. Immer weiteratmen, Dev. Nur atmen. Dann blicke ich auf. Ein leichtes Schmunzeln überzieht meine Lippen. "Ist Derek eigentlich Single?" Trotz dem Schock habe ich meinen Humor nicht verloren.

Sein Blick schweift so ruckartig hoch, dass ich fürchte, er muss sich einen Muskel im Nacken gezerrt haben. "Warum willst du das wissen?"

Er mustert mich wieder aufmerksam. Ich blitze ihn nur an.

„Ich will es wegen Mily wissen", erkläre ich, damit ich so schnell wie möglich die Antwort bekomme.

„Wer ist Mily?", will der nervendste Typ auf Erden wissen und ich stemme meine Hände in die Hüften.

„Meine beste Freundin!" Bei ihm bin ich anders, schleich mir durch den Kopf. Irritiert von diesem Gedanken lasse ich meine bockige Haltung sinken.

„Und woher kennst du Derek so gut, dass du glaubst sie würden zusammenpassen?" Er ist hartnäckig.

Ich schnaufe verärgert. „Ach halt doch den Mund. Ist er nun Single oder nicht?"

Harley nickt. Dann wendet er sich wieder ab.

Ich grinse. „Danke." Er brummt und sieht sich weiter um. "Dass Derek der Boss von Mixed Paradise ist, war doch ein Scherz, oder?" Ich habe mir in den letzten Tagen immer wieder Gedanken darüber gemacht ...

„Hätten wir einen Grund dich anzulügen?" Er wendet sich wieder mir zu.

„Nein, aber, wie alt ist er jetzt ... vielleicht einundzwanzig und nun ja ... er kann doch nicht jetzt schon einen Club besitzen!"

„Und warum nicht?" Harley schmunzelt.

„Ja ... woher kann er denn jetzt schon so viel Geld haben. Da müsste er doch Millionär sein!"

Harley lacht. "Fast."

„Jetzt sag schon, ich brauche Infos ..."

Er dreht sich zu mir. „Wegen Mily ..."

„Jaaaa natürlich ... Sag schon, bitte!"

„Du wirst sie nicht verkuppeln können. Derek sucht sich seine Freundinnen selbst aus, und ist sehr wählerisch. Aber, wenn du es wissen willst ..." Er sieht mir in die Augen. Atmet aus. "Er hat ein Erbe von seinem Vater bekommen, als er 18 war und wollte es so schnell wie möglich alles loswerden. Die beste Möglichkeit: Alles in einem Club verprassen."

„Warum einen Club?" Ich verabschiede einen Kunden, der sich zu mir dreht.

„Derek wollte schon immer einen, auch alle er klein war und jetzt hör auf, mich über meinen Freund auszufragen. Wenn er das rausbekommt, muss ich mehr Miete bezahlen."

Ich mustere ihn. "Du bist heute nicht so ... grüblerisch wie letztes Mal„, merke ich an.

Er schmunzelt. "Wie du meinst. Ich hab dir ja gesagt, dass ich kein Miesepeter bin."

Ich nicke gedankenverloren, während er sich wieder zu einem der Regale umdreht und weitersucht.

„Was suchst du eigentlich?", will ich wissen, damit ich meinem Job nachgehen kann und gehe um den Tresen herum in seine Richtung.

„Papageienfutter", brummt er und sucht weiter.

Ich grinse und schlendere in die andere Richtung. "Hier drüben, Kumpel!" Er folgt mir und lässt sich von mir eine Packung in die Hand drücken. "Du hast einen Papagei?"

„Jap. Ich bevorzuge pflegeleichte Tiere", erklärt er und schüttelt das Futter. „Danke."

Anstand hat er. „Wie heißt er denn?"

„Kein er, eine sie." Er blickt auf. "Alice im Wunderland."

Ich blinzle, dann kichere ich. "Alice im Wunderland?" Er nickt zustimmend. "Wow..." Ich forme ein O mit meinem Mund. "Das, das ist ja mal ausgefallen."

Er grinst und schlendert zur Kasse, worauf ich ihm folge. "Ich liebe den Namen. Es wird nie einen anderen geben."

„Na dann ..." Ich greife nach dem Futter und scanne es ein. Im Augenwinkel sehe ich eine Nachricht auf meinem Handy aufblitzen wende meinen Blick ab.

Wir brauchen etwas Besonderes ... Hat jemand eine Idee? LG Marlies, blinkt eine neue Nachricht vom Blog auf. Ich sehe auf und will mich gerade entschuldigen, wegen der Ablenkung, da stocke ich.

„Papagei, sagtest du?"

Harley sieht mich komisch an. "Jaaa ... das hab ich. Leidest du unter Gedächtnisschwund?"

Ich lache auf. "Nein, nein. Es ist nur ... hast du morgen Zeit?"

Er mustert mich. "Wenn du meine Nummer willst hättest du es auch gleich sagen können ..." Er holt sein Handy heraus.

„Ja, die ist auch gut, aber was ich meine ..." Ich atme durch. "Ich brauche dich morgen." Ich nehme sein Handy und suche seine Nummer, die ich in mein Handy eingebe und speichere, dann schicke ich ihm eine Nachricht mit Standort und Uhrzeit.

„Morgen dort.„ Ich drücke ihm sein Handy zurück in die Hand. "Mit dem Papagei."

Er sieht mich komisch an. "Willst du mich verarschen?"

„Harley! Wehe du kommst nicht!" Damit packe ich sein Futter ein und drück es ihm in die Hand. Dann scheuche ich ihn raus. "Du bist die perfekte Überraschung."

Er schüttelt nur den Kopf. „Für was? Sollte ich verstehen warum?"

Ich grinse nur. "Jap. Morgen an dem Ort, zu der Zeit, wenn du erscheinst, wirst du es wissen. Keine Sorge ich werde auch da sein." Dann schicke ich ihn raus und mache die Tür zu.

Ich habe heute genug vom anderen Geschlecht. Puh ...

Lachend, greife ich nach meinem Handy, rufe den Blog auf und antworte. Papagei gefällig? Schon organisiert! LG, Braisly.

Das zumindest hoffe ich.

*

„Sag, mal hast du sie noch alle? Warum hast du vorher einfach so aufgelegt! Ich hab mir Sorgen gemacht!", brüllt mir Mily ins Ohr, nachdem ich ihr Telefonat, kurz nachdem Harley gegangen ist, annehme. "Warum hast du mich nicht zurückgerufen!"

Ich atme durch. „Mily! Hey, Mily ich brauche meine Ohren noch, ja? Ok?" Sie verstummt. „Danke!"

„Sorry..." Nuschelt sie. „Aber was war denn los?"

Ich setze mich hinter dem Tresen auf einen Stuhl. "Ich, es ... es wird dir nicht gefallen", erkläre ich.

„Sag es!", befiehlt sie. Ich kann die Anspannung in ihrer Stimme hören.

Also sage ich es. „Ich habe Janick gesehen."

Stille. „Janick?", flüstert sie.

„Ja. Er, er ist vor dem Laden vorbeigegangen und ich ... nun ja, ich bin eventuell zu ihm raus." Ich will nicht, dass sie es hört und doch weiß ich, dass es vielleicht besser so ist.

„Nein, Dev.", bettelt sie. "Nein, was, was ist passiert?"

Ich räuspere mich. „Nichts Schlimmes. Er ist wieder gegangen als Harley aufgetaucht ist."

„Harely?" Ihre Stimme ist dünn.

„Ja, Harley." Ich nicke zerknirscht.

„Du überforderst mich gerade", gibt sie zu.

„Ja, ja das kann ich hören." Normal hätte ich gelacht, nur leider ist mir gerade nach allem anderen zumute, nur nicht danach.

Sie seufzt. „Ich, er, ... wenn er sich schon wieder hier herumtreibt, dann ..." Ihre Stimme. Unsicher. Verletzlich. Alles nur das nicht.

„... muss er einen Grund haben. Entweder eine Arbeit, eine Wohnung, es können verschiedene Gründe sein", beende ich bitter.

„Jaa, und das wiederum heißt ..." Sie sieht die Vergangenheit vor sich, ich höre es, kann mir vorstellen, welchen Blick sie gerade wieder aufsetzt.

„Das wiederum heißt, ... wir hätten uns den Umzug genauso gut sparen können."

„Was, was macht er nur hier? Er ... er muss wieder verschwinden. Ich will nicht..." Milys Stimme bricht. „Ich kann ihn nicht ansehen, ohne an ..."

„... an ihn zu denken."

Stille. „Ja."

"Wir versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen", beteuere ich leise und richte mich in meiner zusammengefallenen Position auf dem Stuhl wieder auf.

Wieder Stille. Dann Themenwechsel. „Weist du was?"

„Nein? Was denn?"

„Wir haben Post bekommen", gibt sie zu. Es raschelt im Hintergrund. „Und jetzt rate mal von wem?"

„Ähmm ... Derek? Wollte er dich um deine Handynummer anbetteln?" Ich schmunzle leicht.

„Nein! Dieser Depp!" Sie tut gequält. „Nein, der Brief ist anonym, das ist es ja, was mich so verwundern."

Ich schlucke. „Hast du ihn schon aufgemacht?"

„Nein. Er-Er ist für dich." Stille. Die Stille wird uns heute noch oft um die Ohren knallen, habe ich das Gefühl.

„Mach ihn bitte auf, ich will wissen was drinnen ist ...", bette ich und fische nach meiner Flasche Wasser, da sich mein Hals plötzlich so trocken anfühlt.

Ich höre Geraschel, Papier reißen, dann ist er auf. Mily räusperte sich. „Na gut ..." Das Papier wird aufgefaltet. "Es ... Dev?"

Ich will nicht sprechen, so kühl läuft es mir den Rücken hinunter. Irgendetwas ist los. Die Stimmung hat sich verändert. „Was ist?"

Mily schluckt hörbar. "Ich ... es ..."

„Sag es bitte." Ich kneife meine Augen zu. "Ist es mein Dad, der mir erklärt, dass er die Scheidung von seinem Kind will?" Seinem Kind ... von mir. Ich kann es nicht sagen.

„Falsch."

„Bitte sag es Mily." Ich knete meine Hände. „Ist-ist es schlimm?"

Ich höre ihr Unbehagen. Ein letztes Mal atme ich durch.

„Es ist deine Mom."

*

Ich schlage meine Augen auf. "Meine Mom?", flüstere ich.

„Sie, sie hat den Brief geschrieben ...", fährt Mily fort. Leise, ganz leise.

„Das kann nicht sein, es ..." Ich fahre mir durch die Haare.

„Du solltest ihn dir durchlesen", merkt meine Freundin an.

Ich verharre. Dann erinnere ich mich ans Weiteratmen. So lange habe ich nichts von ihr gehört, so lange ... „Ich komme." Damit legte ich auf und packe mein Zeug zusammen.

Meine Mom? Wie?

Meine Lippe fängt an zu zittern und ich nehme den Schlüssel fester in die Hand, um den Laden abzusperren. Dann stecke ich ihn ein und renne los.

Meine Beine fühlen sich weiterhin wackelig an, ich beiße mir auf die Lippe, dann bleibe ich stehen. Es kann nicht sein! Ich sehe auf meine Armbanduhr: 17: 45 Uhr. Meine Füße tragen mich weiter.

Ist sie dort? Ist sie hier? Ist ...

Der Aufprall als ich gegen eine Brust laufe ist hart aber, den Umständen entsprechend milde. Hecktisch drücke ich mich weg und will weitergehen.

„Devery?" Als ich Harleys Stimme höre zucke ich zusammen.

„Was machst du schon wieder hier?" Ich versuche nicht zu schluchzen. Meine Kehle fühlte sich so eng an. Jedes weitere Wort würde sie zerspringen lassen.

„Ich habe was vergessen", höre ich. Höre ich, höre ich ... mein Gehirn will es aber nicht wahrnehmen. Ich will alleine sein. Zuhause. Wissen was Sache ist. Ich schalte auf stur.

„Der Laden hat zu. Zu spät." Damit gehe ich weiter.

„Warte doch!" Ich denke nicht daran, packe meine Tasche fester und fange an zu rennen. Nach ein paar Metern schlingt sich eine Hand um meinen Ellenbogen und hält mich auf. "Was-was ist denn?"

Ich schüttle den Kopf. Leicht und schwer. Oft und doch nur einmal. Ich kann nicht reden, kann nicht mehr. Meine Knochen nehmen es bis in den Grund ihrer Existenz auf. Mit einem lauten Knall kommt das Schluchzen aus meiner Kehle und zerschneidet die Luft. Harley zuckt zusammen und lässt meinen Ellenbogen los.

„Hab ich dir weh getan?" Er mustert mich erschrocken. Weiß nicht weswegen, wieso, warum so viel, weiß nicht alles, nein weiß gar nichts. Ich schüttle weiter den Kopf, will weiter, nur weiter.

Meine Mom? Meine Mom ...?

„Ich-ich muss ...", murmle ich und tappe unsicher weiter. Ich weiß wohin und doch nicht wohin. Nicht wohin und doch wohin. Sehe es vor mir, aber unsicher. Wie einen Schimmer.

„Was musst du? Hey!" Er greift wieder nach meiner Hand. „Devery!" Ich zwinge mich, zu ihm aufzublicken.

„Ich muss zu ihr. Ich muss los!" Meine Stimme zittert.

„Wer?", hauchte er.

„Meine, ... meine Mom." Damit reiße ich mich los und fange an zu sprinten. Zu sprinten. Zu sprinten.

Meine Beine tragen mich weit, aber nicht weit genug. Nach einer Minute treffen sie auf dem Asphalt auf und ich schlage sie mir an. Heiße Tränen laufen über meine Wangen. Zitternd umschlinge ich meine Knie und versuche, mich zusammenzureißen, wieder aufzustehen. Ich muss los, der Brief . Meine Mom ... Mily ...

Zwei starke Hände umfangen meine und heben mich hoch. Bebend presse ich mich an ihn und schließe die Augen. Wenn sie zu sind, ist alles nicht real.

„Wohin?", flüsterte Harley in die Stille hinein. „Wohin?" Immer wieder, bis ich meine Sprache wiederfinde. Immer wieder ...

Niemand anderes ist auf den Straßen. Nur wir zwei. Weit weg, von dahin, wo ich hinmuss. Weit weg, oder doch weit da? Voller Angst fange ich an zu zittern.

„Zur Bedaill Street, zehn Minuten ..." murmle ich. Mehr kann ich nicht mehr sagen. Die Wohnung, nicht die Bank, der Brief ... sie ist nicht da, nur der Brief ... oder?

Er fängt an zu laufen. In die umgekehrte Richtung. Er sprintet zu seinem Auto. Fluchend sperrt er es umständlich auf, öffnet die Tür und packt mich auf den Beifahrersitz. Dann steigt er selbst ein und schnallt mich an.

„Alles wird gut." Mit diesen Worten fährt er in die Nacht hinein. Mein Kopf sinkt kraftlos auf meine Brust.

Nichts wird gut werden, da bin ich mir sicher.

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