KAPITEL 5

Ich nehme einen weiteren Schluck Tee, den mir Milys Mutter vor die Nase gestellt hat, und lächle. „Wie läuft es so Zuhause?", erkundige ich mich.

„Ach du weißt ja, immer viel zu tun", sagt sie und reicht mir ein weiteres Stück Kuchen. Ich werde hier noch platzen. Schnaufend blicke ich umher, um alles tun zu können, außer diesen Kuchen zu essen. Mein Blick bleibt bei Bert hängen, der bis über beide Ohren grinst. Seine Frau Pegy setzt sich gerade auf seinen Schoß.

"Wir sehen uns dann später wieder", verabschieden sie sich und rollen lächelnd aus dem Esszimmer.

„Übertreibt ja nicht, ihr beiden!", rufe ich ihnen lachend hinterher.

„Ach Devy, du kennst mich doch. Ich doch nicht!" Ich schüttle den Kopf und verkneife mir ein Lachen.

„Wir wissen alle, dass ihr sehr wohl übertreiben könnt!", war die beunruhigte Stimme von Mily zu hören, die ihnen hinterherblickt. Die beiden werden sich erst mal nicht mehr blicken lassen. Ich kichere. Geburtstagsüberraschung!

„Sagt Beschied, wenn ihr Hilfe braucht!", rufe ich.

„Schnauze!", schimpft Bert und rollt weiter. „Wir haben bis jetzt noch nie Hilfe gebraucht." Pegy errötet, und ich zwinkere ihr zu. Dann sind sie um die Ecke.

Von der Hüfte an abwärts gelähmt. Das hat Pegy hart getroffen als sie damals ihren Mann, im Krankenhaus besucht hat. Es hat Jahre gebraucht, bis Bert sich wieder aufraffen konnte. Nach dem Unfall schien alle Lebensenergie aus ihm geflossen zu sein. Ich schlucke und nehme einen weiteren Bissen meines Schokokuchens, den ich jetzt zermürbt kaue. Die gute Stimmung weicht, wie auf einen Schlag. Zumindest bin ich gerade dabei, mich damit abzufinden, als ich jemanden schreien höre. Mein Herz zieht sich zusammen.

„Sieh mal!", kreischt meine Freundin so plötzlich, dass ich zusammenschrecke, als sie mir ihr Handy vor die Nase hält. Mein Herz beruhigt sich wieder.

„Was ist das?" Ich blicke auf den Bildschirm. Instagram ... Blog ... mein Blog. Braisly ... 1989 Follower! "Was?" Ich huste und reiße meine Augen auf.

Mily schüttelt meine Schultern. „Du hast fast 2000 Abonnenten!"

„Ja, aber ... das ist doch nur eine Zahl!", belehre ich sie. "Warte mal ..." Ich greife nochmal nach dem Handy. „Du hast den Trailer hochgeladen?"

Sie wird rot. „Jaaa! Ich musste", rechtfertigt sie sich. "Immerhin war er genial. Und jetzt können alle ..."

Ich springe auf. „Was? Wie bist du überhaupt an mein Passwort gekommen?"

Sie zwinkert mir zu. "Dein Passwort ist so leicht zu erraten. Braisly? Nichts neues, und ... dein Wunsch? Alles bekannt!" Sie reckt stolz das Kinn. Ich hätte sie am liebsten ...

Dann seufze ich aber nur und lasse mich zurück in den Stuhl sinken. "Hörst du Pegy und Bert schon? Wenn es so weit ist, müssen wir flüchten!" Das ist mein voller Ernst.

Mily stößt mir ihren Ellenbogen in die Seite und stöhnte laut. Ihre Mutter, die kurz weg war, stößt einen empörten Laut aus. „Jetzt hört aber auf!" Trotzdem schmunzelt sie.

Ich und Mily lächeln uns an, reißen uns dann aber zusammen. „Hast du die Nachricht eigentlich schon gesehen?" Mily streckt mir wieder ihr Handy hin. Eine Nachricht an mich adressiert. „Da braucht jemand Braisly!"

„Nein, da braucht jemand die Gemeinschaft, die um den Blog entstanden ist. Da braucht jemand UNS." Ich nehme ihr das Handy aus der Hand und blicke genauer hin.

Ich habe einen kleinen Sohn. Er hat Übermorgen Geburtstag. Und er wünscht sich eine Geburtstagsparty. Aber wir haben kein Geld, für so was. .... Also hab ich mir gedacht ... Ich weiß auch nicht. Ich wollte euch einfach meinen Traum mitteilen. Meinen Jungen glücklich zu sehen ist alles was ich will.

Liebe Grüße, Ester.

Schnell öffne ich mein eigenes Handy und fange an zu tippen. Ich kenne Ester schon von anderen Aktionen. Sie war bei einer mit-den-Delphinen- Schwimmen-Aktion ganz vorne mit dabei gewesen und hat großzügig mitgeholfen.

Danke, dass du uns geschrieben hast, Ester! Ich werde sehen was möglich ist. Schick mir bitte deine Adresse. Ich teile sie dann jedem der helfen will mit. Wenn jemand Deko, andere Kinderspielzeug, Kostüme, oder anderes hat, gerne übermorgen mitbringen. Ich denke wir werden dem Kleinen einen Besuch abstatten. Wer kann einen Geburtstagskuchen mitbringen?

LG, Braisly!

Damit schickte ich die Nachricht ab. Mein Herz klopft, in weniger als ein paar Minuten gehen die ersten Nachrichten ein. Würde ich nicht schnell wieder Luft holen, würde ich...

Mily berührt mich an der Schulter. „Tief atmen, Braisly. Ich denke ich hab jemanden für den Kuchen."

...Ich schnappe endlich nach Luft, ziehe sie tief ein und stoße sie wieder aus. Dann nicke ich stumm und schenke ihr mein ehrlichstes Lächeln. Wir würden das schaffen. Wie immer. Zusammen!

„Ähm, ... hallo? Was war das hier gerade?", fragte Marga. Ihr Blick schweift zwischen mir und ihrer Tochter hin und her.

„Das war Devery, Mom! Alles andere musst du nicht wissen." Mir entgleiten meine Gesichtszüge, nicke dann aber.

Ihre Mom sieht skeptisch drein und blickt noch einmal zum Handy. "Ihr habt doch keinen Typen am Haken, oder?"

Wir prusten los. "Nein, nein, ganz sicher nicht!" Damit haken wir das Thema ab.

„Hat sich dein Vater eigentlich wieder einmal gemeldet?" Meine Sinne versteifen sich, als ich das Gefragte realisiere. Langsam blicke ich zu Marga auf und schlucke.

„Nein, hat er nicht. Er ist wie immer mit seinen Geschäftsreisen beschäftigt." Er hat sich schon drei Jahre nicht mehr sehen und hören lassen, die bittere Erkenntnis liegt mir schwer im Magen. Der eigene Vater...

Mily drückt meine Schulter. "Du brauchst ihn nicht. Du hast ja uns!", behauptet sie und ich schmunzle leicht, weil ich weiß, dass das stimmt. Ihre Familie, war zu meiner geworden.

„Schätzchen, wenn er sich mal wieder meldet, ruf mich an, ich werde ihm liebend gerne eine Standpauke halten!", erklärt Marga ernst, aber so trocken heraus, dass ich lachen muss, wenn auch mit einem bitteren Beigeschmack.

"Er wird nicht anrufen. Nie mehr. Er ...", ich ringe um Worte. "... hat mich bestimmt schon längst vergessen!"

„Ein Vater kann sein Kind nicht vergessen...", behauptet Milys Mutter.

„Dann ist es ihm eben egal..." Ich esse weiter Kuchen. Matt, zu trocken, zu süß und ... Ich reiße mich zusammen, der Kuchen ist mehr als gut.

Als Marga noch was erwidern will, schreite ich ein. "Heute soll ein schöner Tag sein, halten wir uns nicht mit der Vergangenheit auf." Denn das ist Vergangenheit. Mein Vater, meine Mutter, meine Kindheit, meine alte Heimat in der Nähe der Bank, all das ist vorbei. Jetzt bin ich hier, in einer gemieteten Wohnung, in der Nähe des Campus und obendrauf mit meiner besten Freundin. Kann es überhaupt noch besser werden?

Mily versucht mir zu helfen und grinst mich an. "Schon aufgeregt wegen morgen?" Ihre Augen nehmen jede kleinste Regung meines Gesichts wahr. Sie muss Gedanken lesen können.

„Natürlich, ich platze. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir studieren werden." Morgen wird es losgehen. Das erste Semester. Ein Neustart, für den schon alle nötigen Entscheidungen getroffen wurden.

„Ich kann es glauben. Ich wusste schon immer, dass wir zwei kleine Genies sind!", lacht meine Freundin.

„Man ist kein Genie, nur weil man studiert!", sage ich meine Meinung. Sie aber wedelt nur mit der Hand.

„Wir sind zwei waschechte Genies!", schwärmt sie weiter. Ich schmunzle und esse meinen Kuchen zu Ende.

„Na dann, kannst du weiter Geniesachen machen, ich muss los!" Ich stehe auf und drücke ihr einen Kuss auf die Wange, verabschiede mich von Marga und von den anderen, wobei ich Bert und Pegy auslasse. Ich habe keine Lust, dass meine Augen geschädigt werden bei dem Anblick der beiden, in solchen ... Situationen.

„Ich komm später wieder. Wir übernachten heute hier und fahren morgen zur Uni, oder?" Mily nickt.

„Klaro." Margas Blick schweift von der Uhr zu mir. „Bleib nicht zu lange."

Ich nicke und schleiche mich aus dem Haus, schlinge mir meinen gestreiften Schal um den Hals und steige die Treppen hinab. Dann schwinge ich mich auf mein Fahrrad und los geht es.

Ein letzter Blick auf die Uhr: 17: 29 Uhr.

Auf geht's.

*

Als ich wiederkomme ist es spät. Ich hatte eigentlich vor, nur eine Stunde zu bleiben, habe dann aber die Zeit übersehen. Als ich Musik angestellt habe, habe ich mich in meinen Gedanken verloren. Nun schleiche ich auf Zehenspitzen in Milys altes Kinderzimmer.

Sie liegt schon im Bett und so kuschle ich mich unter die Decke. Eine Bewegung im Bett verrät mir, dass sie noch nicht schläft. Ich kann förmlich ihren ernsten Blick auf mir spüren, auch wenn ich ihr Gesicht im Dunkeln nur erahnen kann.

„Alles gut?", flüstert sie müde und reibt sich die Augen.

„Ja, alles gut. Ich ..." Ich seufze. "Ich bin nur etwas aufgewühlt wegen morgen, und ... und der Sache mit Esters Sohn", erkläre ich.

Mily stupst mich an. "Nichts was wir nicht schaffen könnten. Mit mir an deiner Seite ist alles möglich", schwärmt sie über ihre Fähigkeiten als Assistentin. „Vorher hast du die Sachen auch immer in die Tat umgesetzt. Du hast es bis jetzt immer hinbekommen, oder?"

„Ja schon, aber es ist immer eine ... Herausforderung. Ich ... ich frage mich manchmal echt, ob ich reich bin."

„Aber das bist du nicht."

„Ja, genau das ist es ja. Ich muss verrückt sein ..."

„Nein, Dev!" Sie sieht mich eindringlich an. "Ihr unterstützt euch doch gegenseitig, der eine bringt Kuchen mit, den ich übrigens schon organisiert habe ... und der andere bringt alte Kinderkostüme mit, weil er sie nicht mehr braucht. So einfach ist das.„

„Ich weiß, wenn wir alle zusammenhalten ist es leicht. Aber ... ich muss trotzdem immer hoffen, dass es genügend sind. Dass das Interesse groß genug ist, füreinander da zu sein und, um zu helfen. Und, das ... das sollte ich nicht müssen", erkläre ich. „Die Delphine, wo wir waren ..."

„Ihr wart bei Delphinen?" Sie schreckt auf. "Wie kann es sein, dass ich nichts davon mitbekommen habe?"

Ich lache überrascht auf. "Da hattest du doch gerade deinen Austauschschüler ein Monat lang bei dir. Da hattest du nicht so viel Zeit für mich." Ich werde leiser. "Das soll kein Vorwurf sein. Ich mochte ihn ja auch, aber ..."

„Aber er war dir zu aufdringlich", beendet sie meinen Satz.

„Ja, genau!" Ich sehe sie an. „Aber weißt du was?"

„Nein. Sag schon!", bettelt sie und ich kichere.

„Ich bin stolz auf dich, dass du ihn danach zum Teufel gejagt hast."

Mily lacht. Laut. Verdammt laut. So laut, dass ich ihr den Mund zuhalte, um nicht alle anderen aufzuwecken. Als sie sich wieder einkriegt, grinst sie. "Und ich bin stolz auf dich, dass du das alles versuchst. Auch, wenn ich nicht weiß, wieso, du das alles so fantastisch bisher hingekriegt hast. Ohne mich? Das ist doch unvorstellbar!"

Ich boxe sie in die Seite. "Haha, ich komme gut auch ohne dich klar. Und ... ich denke..." Ich stocke kurz, muss überlegen. "Die Menschheit hat ihren Glauben noch nicht verloren. Zusammenhalt ... Zusammenhalt, das, das will doch jeder. Dass man für einen da ist, dass man einen liebt. Und das machen wir, nur dass nicht einer alles einsammelt, sondern jeder jedem hilft und dafür auch etwas zurückbekommt."

Mily lässt sich in die Kissen fallen. "Ich könnte dir stundenlang zuhören."

„Jetzt schmeichle doch nicht so!" Ich laufe rot an und beiße mir auf die Lippe.

„Ich darf das, ich bin deine Freundin. Und ich sage dir: ..." Sie stoppt theatralisch. „... dass wir jetzt ins Bett gehen!", endet sie.

Ich blinzle, dann gähne ich. "Unerwartet, aber gut. Ich bin saumüde." Damit lachen wir und kuscheln uns aneinander.

„Gut, dass wir uns verstehen", sagt sie.

„Ja, sonst hättest du mir schon längst die Haare ausgerissen" Mily kämpft, wenn sie jemanden nicht mag, meist mit ihren Fingernägeln. Haare ziehen war ihre liebste Methode, eine Bitch zu bestrafen. Ich kichere in Erinnerungen.

„Jaaaa,", beginnt sie gedehnt. "... und gut, dass du mich magst, sonst wäre ich schon längst unter deinen bösen Blicken gestorben. Die hast du echt drauf!" Wir lachen und halten uns gegenseitig den Mund zu.

Als wir uns beruhigt beruhigt haben, kuscheln wir uns noch weiter in die Kissen und seufzten. „Gute Nacht, Mily!"

„Gute Nacht, Devy-Maus!", murmelt sie müde. Dann greift sie nach meiner Hand unter der Decke. "Wir schaffen das morgen."Wir würden studieren ...

Ich drücke sie zurück. Ja, wir werden das schaffen. "Daran besteht kein Zweifel." In der Gewissheit, dass ich bei ihr ich sein kann, schlafe ich ein.

Frei. Das war ich in diesem Moment. Frei, ungezwungen, frei und verdammt stolz auf uns beide.

Wir würden es schaffen.

Wir haben es schon geschafft.

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