KAPITEL 30

Die nächsten drei Wochen habe ich damit verbracht, alles zu verdauen, Revue passieren zu lassen, mir meinen Kopf darüber zu zerbrechen, so gut es geht, alles anzunehmen und alles wieder, auf die Reihe zu kriegen. Ich habe bei meinen Kursen alles nachgeholt, was ich verpasst habe. Mily, Derek und Harley haben sogar gemeinsam einen weiteren Wunsch erfüllt. Wir schmieden Pläne für die Silvesterparty, organisieren alles Weitere für den Blog. Und immer, wenn ich kann, immer, wenn eine gute Stunde dabei ist, ein guter Tag, helfe ich so viel mit, wie ich kann.

Heute stehe ich in meinem Zimmer und krame alle Briefe heraus, die mir meine tote Mutter geschrieben hat. Dieses Wort fühlt sich so unnatürlich an. Tot ... Aber irgendwie kann ich es glauben. Sie ist so lange weg gewesen. Jetzt durch ihren Tod hat sich nicht wirklich etwas verändert.
Nur dir Hoffnung war nicht mehr da. Und würde auch nie wieder zurück kommen. So wie sie.

Ich schiele auf die Briefe hinunter und suche den letzten heraus. Mit eiskalten Händen klappe ich ihn auf, suche die Adresse von Joanna heraus und schreibe sie auf ein anderes Stück Papier. Dann stopfe ich die Briefe allesamt in den Mülleimer. Ich will sie nicht mehr sehen. Sonst würden sie mich mein ganzes Leben daran erinnern, was passiert ist. Und ich muss erst mal etwas Abstand gewinnen, will sie nicht bei mir wissen. Noch weiß ich nicht, ob es die richtige Entscheidung ist, aber im Moment erscheint es mir, als das Beste.

Die Adresse der Frau meiner Mutter hefte ich über meinen Schreibtisch an meine Pinnwand. Irgendwann werde ich soweit sein und zu ihr fahren. Mein Herz will es. Das spüre ich. Aber heute ist der Tag noch nicht gekommen. Heute würde ich erst mal etwas anderes hinter mich bringen, das mich schon die ganze Zeit über belastet. Ich muss wahrscheinlich eine Nachricht überbringen, wenn sie es noch nicht wissen...Ich rufe Harley in der Früh an, dass er mich abholen soll und steige nun in seinen Wagen.

„Wo soll es hingehen?", erkundigt er sich und schiebt sich seine Sonnenbrille hoch. Ich bin erst das zweite Mal, seit ich es erfahren habe, draußen und so mustere ich die Landschaft um uns herum, ziehe den Duft ein, dann lasse ich die Autotür zufallen.

„Es ist Zeit, Marga zu verzeihen. Nur so kann ich die Vergangenheit ruhen lassen." Ich sehe ihn ernst an und schlucke.

„Sollen wir Mily nicht mitnehmen?", fragt er vorsichtig. Ich schüttle den Kopf.

„Sie weiß, dass wir fahren, sie plant weiter mit Derek an einem neuen Auftrag und hat gesagt, dass wir alleine fahren können." Er nickt und nimmt meine Hand.

„Kann es los gehen?" Ich sehe ihm in die Augen, erblicke Augenringe, die auch unter meinen Augen zu finden sind. Dann streiche ich ihm sanft über seine Wange.

„Mit dir bin ich immer bereit."

*

Mein Atem geht schneller, als ich aus dem Auto aussteige und auf das Haus zugehe. Es fühlt sich so an, als hätte ich einen Kloß im Hals, den ich nicht hinunterschlucken kann. Mein Herz schlägt voller Panik und Angst. Ich greife nach Harleys Hand, der neben mir steht als ich klingele. Ich werde das heute nicht alleine schaffen.

„Ich bin froh, dass du dabei bist", flüstere ich ihm zu, weil ich das Bedürfnis habe, ihm zu danken. Er hat schon so viel für mich getan. Er nickt mir mit Freude in den Augen zu, als die Tür aufgeht und ich wie erstarrt stehenbleibe. Pegy blickt mich an und zieht mich in eine schnelle Umarmung.

„Sag, dass du da bist, um ihr zu verzeihen. Es geht ihr so schlecht." Sie hält sich ihre Hand vor den Mund. „Ist alles gut?", will sie dann wissen, als sie mich genauer mustert.

„Nein, nichts ist gut", sage ich ernst und komme rein. „Ihr wisst es noch nicht, oder?" Eigentlich ist es gar keine Frage mehr.

„Nein, was denn?" Sie scheint angespannt zu sein. Ich sage den anderen, dass ihr hier seid." Schnell flitzt sie wieder weg. Uns allen ist die Situation unangenehm. Nur leider wird das jetzt nicht besser werden.

Mit langsamen Schritten und meiner Hand immer noch in Harleys, schreite ich in das Wohnzimmer, in dem gerade alle versammelt sind. Als Marga mich bemerkt, wird sie leichenblass und springt auf.

„Devy! Devy! Es tut mir so leid, es war falsch von mir! Ich wollte doch nur ...!" Ich lasse mich von ihr umarmen, löse mich dann aber sachte wieder.

„Ich weiß. Ich verzeih dir. Es ist Zeit loszulassen." Ich kaue auf meiner Lippe. „Ich bin hier, weil ich euch etwas Wichtiges mitteilen muss." Bert kommt zu uns gerollt und mustert mich und Harley.

„Sagt bloß, ihr wollt heiraten?" Er machte große Augen und ich muss leicht schmunzeln. „Wer ist er eigentlich nochmal?" Ich wende mich Bert zu und zeige auf Harley.

„Bert, das ist Harley, falls du es vergessen haben solltest. Mein ..." Ich sehe zu Harley und blicke in seine Augen. Kurz verharre ich dort und muss dann grinsen. „Mein Seelenverwandter." Dann sehe ich zurück zu Bert. „Und nein, wir werden nicht heiraten", lächle ich.

„Oh, ah so ist das", redet er weiter. Wird aber von Pegy unterbrochen.

„Jetzt lass sie doch sagen, wegen was sie hier ist, Herr Gott!" Sie steht unruhig hinter ihrem Mann und mustert das ganze Szenario. Ich nicke.

„Setzen wir uns lieber." Marga hält mich noch kurz am Arm fest.

„Ist zwischen uns wirklich wieder alles gut?" Sie sieht aus wie ein verschrecktes Huhn. Ich schmunzle leicht.

„Es ist wieder alles gut. Ich bin dir nicht mehr böse", schlucke ich und stelle dann meine Frage. „Du hast gesagt, du hast meiner Mom meine Adresse gegeben ... wusstest du auch warum?"

„Nein, um Himmels Willen! Ich weiß es nicht!", fleht sie. „Ich hab doch keine Ahnung! Ich hab eh keinen Kontakt mehr, sie hat aufgehört mir zu schreiben!" Marga scheint verletzt. Ich nicke und setze mich mit ihr hin.

„Ja und ich weiß, warum. Sie hat dir nicht mehr geschrieben, weil sie tot ist." Jetzt ist es draußen. Das erste Mal, dass ich es gesagt habe. Ich spüre Harley neben mir und atme tief durch. Ich kann das. Es herrscht Stille. Niemand sagt etwas.

„Wa- Wie?", fragt dann Marga leise nach. „Stimmt das?" Ich nicke und spüre wie mir Tränen hochkommen. Dann erzähle ich ihnen alles. Von den Briefen, von ihren Worten, von Joanna. Alles. Als ich ende, herrscht wieder Stille. Niemand fühlt sich wohl in seiner Haut. Ich spürte unendliche Traurigkeit. Trotzdem ist es gut, das alles, laut ausgesprochen zu haben und nochmal zu realisieren. So kann ich es verdauen und annehmen.

Marga steht auf und kommt auf mich zu. Sie zieht mich in eine so feste Umarmung, wie Mily gestern, und ich muss darüber schmunzeln. „Es tut mir so leid! Oh Gott! Das ist schrecklich!" Sie fängt an zu weinen. „Ich wusste von nichts, das musst du mir glauben!"

„Ich glaub dir! Lassen wir das hinter uns, jetzt ist nicht mehr die Zeit dafür, wütend aufeinander zu sein." Ich nicke ihr zu und ignoriere die Träne, die meine Wange runterkullert. Dann spüre ich Harley hinter mir. Ich sehe Pegy und Bert ein letztes Mal an, die beide total geschockt sind.

„Verdaut es erstmal. Ich muss es auch noch." Ein Schluchzen bricht aus mir heraus. „Ich -", nuschelte ich und höre wieder auf. Meine Brust fühlt sich gerade zu klein an. Harley schlingt einen Arm um meine Taille.

„Es ist Zeit zu gehen." Er nickt allen zu, dann führt er mich nach draußen. Ich klammere mich an seinem Arm fest. „Lass uns nach Hause fahren."

*

Es ist draußen. Einfach so. Eine Last fällt von meinen Schultern, da es meine „Familie" nun weiß. Es wird schwer werden, nein, es ist schwer. Aber ich glaube fest daran, dass wir es schaffen werden. Als ich aussteige und gerade sagen will, dass ich so müde bin, kommt Harley auf mich zu und hebt mich hoch. Überrascht schmiege ich mich an ihn.

„Du kannst Gedanken lesen", schmunzle ich und lehne meinen Kopf an seine Brust.

„Nein, ich kenne dich einfach nur verdammt gut", grinst er und trägt mich hoch zur Wohnung und bis in mein Zimmer.

„Sicher?", überlege ich grinsend. „So lange kennen wir uns noch gar nicht ..."

Er lässt sich mit mir in seinen Armen auf mein Bett fallen und zieht mich an sich. „Na dann, frag mich halt was? Ich bin mir sicher, ich kann dir antworten."

Ich schmiege meinen Kopf wieder an seine Brust und lausche seinem Herzschlag.

„Na schön..." Ich überlege kurz bis mir etwas einfällt. „Warum ist Bea Miller meine Lieblingssängerin?" Ich warte mit einem Lächeln im Gesicht auf seine Antwort und spiele mit meinen Händen auf seiner Brust herum. Einmal trommle ich, dann pikse ich ihn, und dann ... entschlüpft mir ein Kichern, als er nach meiner Hand greift und sie küsst.

„Hör auf mich abzulenken."

„Ach ja, brauchst du Zeit zum Überlegen?" Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

„Nein, aber einen klaren Kopf zum Antworten. Also ..." Er sieht mich triumphierend an. „Du liebst sie, weil du dich mit ihr so gut identifizieren kannst. Deine Augen strahlen, wenn du ein Lied von ihr hörst. Es macht dich lebendig. Und dein Lieblingslied von ihr ist „like that", weil es dich anspornt, wilder und ungezähmter macht und dir Kraft verleiht. Du weißt, du musst dir nur das Lied von ihr anhören und dann geht es dir besser", endet er und ich sehe ihn fasziniert an.

„Das wären zwar nicht meine Worte gewesen, aber du hast es um Längen besser beschrieben, als ich es gekonnt hätte." Ich lege meine Hand auf seine Brust und lausche weiter seinem Herzschlag.

„Was vergeht nie, Harely?", frage ich dann leise. „Ich denke, alles."

„Nein." Er sieht mich mit schmunzelnden Augen an. Ja, sie schmunzeln. Ich kann es förmlich sehen. „Liebe vergeht nie. Sie ist überall. "

Ich starre ihn intensiv an. „Das stimmt." Dann richte ich mich auf und verweile vor seinem Gesicht. „Darf ich dich küssen?" Er lacht leise und kommt mir näher, dann drückt er seine Stirn an meine.

„Weißt du Devery Lain, du warst die Erste, die mit meinen Gefühlen für Männern gut umgegangen ist. Sogar Derek, als er es erfahren hat, brauchte erst einmal Abstand und hat sich schwergetan." Er streicht mir über meine Haare.

„Ja, aber wir beide gehören zusammen. Wir brauchen einander." Ich schmunzle. Dann überbrückt er die letzten Zentimeter und drückt seine Lippen auf meine. Es fühlte sich gut an. Mein Verstand rebelliert, aber mein Herz schlägt für mich. Nach ein paar Sekunden löste ich mich wieder von ihm und lasse mich zurück ins Bett fallen. Er legt einen Arm um mich und zieht mich näher an sich.

„Muss ich das Leben verstehen?", flüstere ich.

„Nein. Wer versteht es schon?", lächelt er mich traurig an. „Wichtig ist, dass du es fühlst. Und das tust du."

„Auch, wenn es droht mich in die Tiefe zu ziehen?", raune ich. Mein Herz klopft. Der Kloß in meinem Hals ist wieder da. Meine Augen werden nass.

„Dann bin ich da und werde dir wieder aufhelfen." Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Außerdem bin ich stolz auf dich." Ich schiele zu ihm hoch.

„Warum?" Er stupst mich mit seiner Nase an.

„Weil du heute so stark warst und aufgestanden bist." Und ich weiß, wie keine andere im Moment, dass das eine Herausforderung sein kann. Er redet weiter. „Und weil du endlich mit Marga geredet hast. Vergeben ist wichtig, Bienchen. Und das hast du." Ich schmiege mich enger an ihn, spüre seine Wärme und schließe meine Augen.

„Weißt du, wie praktisch es ist, seine Heimat immer mit sich herumtragen zu können?", frage ich dann voller Freude.

„Was?" Er zieht seine linke Augenbraue hoch. „Was ist deine Heimat?"

„Du bist meine Heimat Harley, meine Familie. Und du bist immer bei mir." Ich grinse ihn an. „So hab ich nie Heimweh." Sein Lächeln ist eins seiner schönsten, als er seine Stirn an meine lehnt.

„Und ich werde immer da sein."

„Ich weiß.", sage ich plötzlich frech, weil ich mich seit langem mal wieder so gut fühle. „Und deswegen stehen wir jetzt auf und sagen Mily, was Sache ist. Die arme meint immer noch, dass die Dessous etwas gebracht hätten."

„Welche Dessous", fragt er verwirrt.

„Das willst du gar nicht wissen." Ich drehe mich zu ihm um, als ich stehe. „Komm jetzt, mein Brummbär, der eigentlich gar keiner ist", lache ich. „Wir stellen uns jetzt dem Leben."

„Schon wieder?", stöhnt er. "Ich dachte, für heute hätten wir es hinter uns." Ich komme zu ihm und ziehe an seiner Hand.

„Das Leben wartet nicht. Und außerdem ...", grinse ich ihn an. "... sind wir zu zweit. Du schaffst das." Er mustert mich lange, lacht mich dann so herrlich offen an und steht auf.

„In solchen Lagen kann man dir aber auch gar nichts abschlagen, Devs." Ich schmunzle und ziehe ihn mit nach draußen. Es kann los gehen.

*

„Ok...", zieht Mily lang, als wir ihr erzählt haben, dass Harley schwul ist. „Wollt ihr mich beide auf den Arm nehmen?" Ich ziehe eine Grimasse und greife nach ihrer Hand.

„Nein, Mily, nicht bei so einem Thema."

„Aber ich dachte ihr ..." Sie stottert kurz.

„Wir lieben uns auch, aber nicht auf die normale Art", versuche ich zu erklären.

"Und warum erzählt ihr mir das erst jetzt?" Mily sieht verwirrt aus, aber nicht abgeschreckt, worüber ich froh bin. Unterm Tisch drücke ich Harleys Hand, die schwitzig ist.

„Weil es nicht wichtig ist. Wir sind nicht wie andere. Es ist nichts Körperliches zwischen uns, es ist eher ..."

„... auf einer tieferen Ebene", stimmt Harley zu. Seine Stimme zittert leicht. Ich sehe meine Freundin ernst an.

„Ich weiß, es ist etwas kompliziert zu erklären. Wir verstehen es zum Teil selbst nicht aber ... es ist wahr. Ich spüre es. Ich weiß es ..." Ich sehe Harley an und fühle so viel Liebe für diesen Menschen, der mir schon so oft beigestanden hat.

„... Wir sind Seelenverwandte." Das muss es sein. Ich brauche ein Wort dafür.

„Seelenverwandte? Ich wiederhole mich: Warum sagt ihr mir das erst jetzt? Ich flippe aus!" Sie steht auf und fällt mir um den Hals. "Du musst mir alles bis ins kleinste Detail erzählen. Warum hab ich keinen Seelenverwandten?"

„Wir nennen es nur so ... Ich hab keine Ahnung Mily, aber ... wir können nicht ohne einander." Ich lächle sie an und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.„Danke, dass du es so gut aufnimmst"

„Ich meine, das ist krass." Sie weitet ihre Augen und fällt auch Harley um die Arme. „Harley ... du bist jetzt offizielles Mitglied unserer Familie." Er drückt sie zurück.

„Danke Mily, wirklich." Er meint es so ernst, dass ihm Tränen in die Augen treten. Die beiden nicken sich zu.

„Ihr müsst mir auch gar nichts erklären. Gefühle sind Gefühle, unerklärbar", redet sie dann weiter.

„Wie bei dir und Derek?", horche ich sie aus.

„Mhh, das ist ein anderes Thema." Sie springt auf und holt drei Gläser. „Das müssen wir feiern. Harleys Verkündung und, dass heute ein guter Tag ist." Ein Tag an dem wir es geschafft haben, die Trauer ein Stück ziehen zu lassen.

„Ja das müssen wir wirklich" Und das tun wir auch.

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