KAPITEL 27

Am nächsten Morgen will ich nicht aus dem Bett. Ich bewege mich kein Stück, als ich langsam aufwache. Ich tue so, als würde ich noch schlafen, als Harley neben mir sich bewegt. Ich kann nicht in den Tag starten. Noch nicht. Am liebsten würde ich einfach wieder einschlafen, ganz tief und so tun, als wäre nichts. Doch ich kann mich sehr wohl, an gestern erinnern, meinen Zusammenbruch, wie ich mit meinem Dad gestritten habe, wie ich ihn verflucht habe und wie ich den Brief in meinen Händen hatte. Der Brief ...

Mich überzieht eine Gänsehaut, als Harley sich auf mich setzt und seine Stirn an meine legt. „Ich weiß, du bist wach, Bienchen", raunt er und ich zucke fast zusammen. Verärgert kneife ich meine Augen fester zusammen. Nein, nein, nein ...

„Ich weiß, du willst nicht aufstehen", flüstert er weiter, während ich mich nicht bewege. „Aber du musst. Ob du es nun jetzt machst oder in einer Stunde ist egal, es wird sich nichts ändern."

„Ich weiß", gebe ich verkniffen von mir. Dann öffne ich ein Auge, ganz langsam und mustere ihn. Er sieht verschlafen aus, hat dicke Augenringe und ... ich bin mir sicher, dass ich genauso aussehe, nur schlimmer.

„Jetzt muss nur noch das andere Auge auf", erklärt er mir und steht auf. „Und dann machen wir eine kleine Reise." Schneller als ich es bemerkt habe, habe ich mich aufgerichtet und das andere Auge geöffnet.

„Was?", murmle ich verschlafen aber voller Aufregung.

„Das geht immer", schmunzelt er. Dann schmeißt er mir meine Klamotten aufs Bett. „Zieh dich an!"

„Warum sollten wir jetzt wo hinfahren? Es ist neun Uhr in der Früh an einem Sonntag!", verlange ich zu wissen. Er bleibt vor dem Bett stehen und mustert mich unverhohlen.

„Dieser Tag wird folgendermaßen aussehen: Du stehst auf und stellst dich ihm. Wir fahren gemeinsam wohin und dann ..." Der Ausdruck in seinen Augen wird sanfter. "... stellen wir uns deinen Problemen", endet er und mein Herz rast vor sich hin.

„Der Brief?", frage ich leise und fahre mir über die Augen.

„Genau, der Brief. Mily und Derek kümmern sich um die Blog-Angelegenheiten und planen die Silvesterparty weiter. Und wir ..." Er drückt mir meine Kleidung gegen die Brust. „... stellen uns deiner Mutter." Ich fühle mich dumpf, ausgepowert als hätte ich einen Marathon hinter mir, trotzdem zwinge ich meine Beine zum Aufstehen.

„Na schön." Ich drehe mich von Harley weg und ziehe mich aus.

„Was wird das?", will er nervös wissen. „Nach, nach was sieht es denn aus? Ich ziehe mich um. Das wolltest du doch", sage ich mit einem Schmunzeln über die Schulter. Ich spüre, wie er verharrt und überlegt. Dann dreht er sich um und geht aus dem Raum.

„Wir sehen uns in der Küche."

„Du gehst?"

„Sollte ich etwa nicht gehen? Dir geht es nicht gut." Er kaut auf seiner Lippe und starrt mir fest in die Augen. „Ich gehe."

„Du gehst", sage ich.

„Ja, ich gehe. Und, wenn du nicht wartest, bis ich draußen bin und dich weiter ausziehst ...", er war angespannt. „... werde ich nicht mehr gehen." Ich sehe ihn offen an.

„Doch das wirst du", gebe ich dann zu.

„Wieso bist du dir da so sicher?" Er spielt mit seinen Augenbrauen.

„Weil du schwul bist." Ich sehe ihn ernst an, mustere jede Kontur seines Gesichtes. Seine Augenbrauen die sinken, seine Augen. Ich weiß es.

„Wie kommst du da drauf, Devs?" Er sieht erschrocken aus. Ehrlich erschrocken. Ich weiß es besser.

„Ich hab Beweise", flüstere ich sanft.

„Das ist doch Quatsch." Er will auf mich zu, bleibt dann aber doch stehen.

„Nein es ist kein Quatsch, es ist normal. Ich finde es nicht schlimm, hörst du ..." Ich nicke ihm zu. „Das ändert nichts zwischen uns." Er sieht verletzt aus. Ganz klein, obwohl er so groß ist. Ein Riese.

„Woher hast du ...?", bricht es dann aus ihm heraus.

„Es ist nicht wichtig, wie ich es herausgefunden habe, es stimmt. Und es ist ok. Wir sind trotzdem noch eine Familie und halten zusammen. Das ändert nichts an unserer Beziehung."

„Ich bin mit dir auf ein Date gegangen, Devs. Das kannst du doch nicht gutheißen. Du solltest dich verarscht fühlen, wütend sein", schreit er plötzlich. Ich sehe, wie die Angst aus ihm herausbricht. Ich komme auf ihn zu.

„Ich weiß, du hast mich geküsst, wir sind auf das Konzert, alles war schön ... ich weiß es. Wir lieben uns, aber eben nicht auf die normale Art", flüstere ich und lehne meine Stirn an seine. Seine Augen werden nass.

„Wie hast du ... war es Derek?", fragt er leise. Ich habe gerade sein geheimstes Geheimnis gelüftet.

„Es war nach dem Konzert im Hotel, nach der Geschichte mit der Badewanne, als wir eingeschlafen sind. Ich bin in der Nacht aufgewacht und hab dich und Derek telefonieren gehört. Ihr wart euch bei etwas uneinig und da sind so ein paar Wörter gefallen", schlucke ich, drücke meine Stirn noch enger an seine und fange eine Träne auf. „Da hab ich es gewusst. Es war zwischen uns schon immer irgendwie anders. Ich hab es gespürt. Und du auch. Ich wusste nicht was es war, aber ... du stehst nun mal nicht auf mich. Zumindest körperlich."

„... und das ist ok für dich?", raunt er leise, zerbrechlich.

„Man kann einen Menschen auch lieben, wenn man ihn nicht körperlich begehrt, Harley. Das habe ich gemerkt. Bei uns ist es etwas anderes", rede ich weiter, vorsichtig, leise, sanft. „Ich kann es nicht zuordnen, aber ich weiß, ... wir gehören zusammen. Wir sind eine Familie, die wir nie hatten." Meine Stimme bricht. „Weißt du noch? Zwei Clubs?" Er nickt und drückt mir einen Kuss auf die Haare.

„Wie könnte ich die vergessen?" Seine Stimme bebt. Ich sehe auf zu ihm und berühre seine Wange.

„Du brauchst dich nicht vor mir zu schämen", flüstere ich weiter. Alles andere wäre zu laut gewesen. „Nicht vor mir. Wir sind ein Team." Ich halte ihm meinen kleinen Finger hin. „Was auch immer zwischen uns ist, es fühlt sich gut an." Meine Stimme zittert. „Und ich möchte dich gerne als meine Familie haben. Meine ausgesuchte." Eine Träne kullert meine Wange hinab. Harley fängt die Träne auf und verkeilt seine Finger mit meinen. Ich sehe sie einen Moment an. Dann blicke ich auf.

„Gemeinsam, was auch immer kommen wird", flüstere ich. „Ich liebe dich."

„Und ich liebe dich." Er sieht mich ernst an. „... aber nicht körperlich."

„Ich weiß", hauche ich leise. „Und das ist auch gut so." Ich drücke meine Stirn nochmal an seine. „Und jetzt haben die Lügen ein Ende, ok?"

Er sieht mich an, blickt bis in meine Seele hinab. Seine Lippe zittert. Dann schlägt er ein. „Gemeinsam."

*

Ich sehe alles mit anderen Augen. Sehe Harleys Blicke, wenn sie Männern hinterher starren und keinen Frauen. Und das macht nichts. Ich weiß es und habe mich damit abgefunden. Am Anfang war ich geschockt und habe es für mich behalten, habe Zeit gebraucht, alles zu verdauen. Die Autofahrt zurück hat deswegen so lange gedauert, weil Harley dauernd stoppen musste, wenn mir alles zu viel geworden war. Danach zuhause wollte ich mich auch deswegen ablenken, weil ich einfach eine Verschnaufpause brauchte. Aber als ich und Harley alleine in der Küche waren, habe ich gemerkt, dass sich zwischen uns nichts verändert hat. Und als ich am Abend neben ihm eingeschlafen bin, wusste ich, dass es nicht schlimm ist. Ich damit leben kann.

Ich frage mich manchmal ob ich normal bin und ich weiß ganz genau, nein, das bin ich nicht. Und das ist auch gut so. Genauso ist unsere Beziehung nicht normal. Es würde nichts Körperliches werden, aber wir lieben uns. Anders eben. Das Leben ist verrückt, aber es fühlt sich richtig an. Mein Verstand wird es nie begreifen, aber mein Herz weiß es ganz genau.

Ich hätte weglaufen können, aber das tue ich nicht. Ich habe mich damit abgefunden. Wir sind eine Familie, die wir uns selbst ausgesucht haben. Wir würden alles schaffen, gemeinsam. Wir müssen uns nichts mehr vormachen. Ich kenne die Wahrheit. Ich weiß, wir müssen darüber noch ausgiebig reden, aber das Wichtigste ist erst mal gesagt. Das Leben hat mir einen Harley geschickt, der anders ist als alle anderen, und trotzdem gehört er zu mir. Ich brauche ihn und er braucht mich. Also steige ich, ohne zu zögern aus, als er anhält und wir mit vollen Rucksäcken einen Berg besteigen.

Ich spüre die kühle Luft, die Klarheit schafft, ziehe sie ein, dann drehe ich mich zu ihm um. „Als wir uns geküsst haben, hat es dir nie etwas ausgemacht", erkundige ich mich. „Das hätte ich doch gefühlt."

Er nickt. „Ich bin mit dir nicht auf ein Date gegangen, weil ich verzweifelt normal sein und eine Freundin wollte, die weiblich ist. Und ich hab dich nicht geküsst, weil ich jedem vorgaukeln wollte, dass ich auf Frauen stehe." Er fährt sich durch seine Haare. „Ich hab einfach das getan, was mein Herz für richtig gehalten hat. Ich stehe auf Männer und das kann zwischen uns nie so werden aber, ... es hat sich richtig angefühlt, als wir auf diesem Konzert waren. Und als wir im Hotel waren. Und alle anderen Augenblicke, die ich mit dir verbracht habe. Ich will nicht, dass du denkst, dass das alles gespielt war, das war es nicht." Er nimmt meine Hand in seine und sieht mich ernst an. „Ich will dich nicht verlieren."

„Das wirst du nicht. Siehst du, ich stehe noch hier genau vor dir", schmunzle ich. „Ich hab etwas gebraucht, um das alles zu verarbeiten. Und auch, wenn mein Verstand kreischt, dass es so etwas nicht gibt, weiß ich, dass das zwischen uns eine andere Art der Liebe ist."

Er nickt. „Nicht wie bei Rachel, nicht wie bei einer normalen Freundin, nicht wie ..." Er blinzelt. „... Es ist nicht oberflächlich", endet er dann. Ich weiß, wir beide kennen uns zum Teil selbst nicht aus. Aber ich fühle mich mit Harley verbunden, auf einer anderen tieferen Ebene.

„Wir können kein Paar sein", stelle ich klar. „Aber wir sind die ausgesuchte Familie. Wie gehören zusammen." Ich nehme seine Hand. „Und das ist mehr als ok. Mehr als ich gewagt habe, mir zu wünschen."

„Sicher?"

„Ich hab es mir lange durch den Kopf gehen lassen, aber der Verstand hat nun mal eine Grenze, und das zwischen uns ... kann er nicht einordnen", schlucke ich. „Das heißt aber nicht, dass es schlecht ist." Harley und ich schlendern Hand in Hand weiter den Berg hinauf.

„Weißt du, als du in mein Leben gekommen bist, war plötzlich diese Lücke, die ich schon immer gefühlt habe, geschlossen. Vielleicht bin ich die ganze Sache falsch angegangen, habe dir Hoffnungen gemacht aber ... ich hab mich zu keiner Zeit schlecht gefühlt, dich zu keiner Zeit belogen." Er sieht mir in die Augen. „Ich liebe dich, Bienchen."

„Und ich liebe dich, Harley ... " Und irgendwie ist all das in dieser komischen Welt möglich.

*

Wir brauchen lange, bis wir oben am Berg sind. Ich habe mir mindestens eine Blase gelaufen und meckere ständig. Der Schweiß läuft mir von der Stirn, mein Oberteil ist durchtränkt. Aber wir haben es geschafft.

„Wo sind wir hier?", frage ich aufgeregt.

„Das hier, Bienchen." Er lasst sich zu Boden sinken. „Ist der schönste Ausblick, den ich kenne. Hier bin ich immer hergekommen, wenn es mir nicht gut ging. In der Zeit, als Rachel und ich vor die Tür gesetzt worden sind, hab ich mich oft hierher verirrt", lächelt er. Seine Augen glitzern voller Erinnerungen.

„Und du nimmst mich hierher mit?" Ich lasse mich neben ihn sinken.

„Ich würde dich überallhin mitnehmen. Auch an die Orte, wo ich bis jetzt noch niemanden mitgenommen habe." Er zieht die frische Luft ein und ich lehne mich an seine Schulter.

„Seit wann ist das Leben verrückt?"

„Immer schon", ein Lachen. „Du hast nur nie genau hingesehen", raunt er. Dann sucht er in seiner Tasche nach etwas. Mein Herz schlägt schneller als ich erkenne was es ist.

„Ist die Zeit gekommen, dem Leben entgegenzutreten?", erkundigt er sich und mustert mich. „Ich weiß, es ist gerade viel auf einmal, aber das Leben stoppt nicht einfach mal. Leider." Er zieht eine Schnute und ich nicke außer Atem. Meine Hand greift nach dem Brief. Ich spüre das Material, starre die Handschrift meiner Mutter an. Ich weiß, ich würde es immer tun. Immer wieder. Diese Briefe lesen. Weil ich sie eben auch liebe. Meine Mom. Auch, wenn sie mich verlassen hat.

„Du hast recht, das Leben wartet nicht." Deswegen muss ich jetzt einen Schritt nach vorne wagen. Ich strecke meine Hand aus, öffnet den Briefumschlag und will gerade den Brief daraus befreien, als ich zusammenzucke, weil mein Handy bimmelt. Aus der Fassung gebracht und fluchend gehe ich ran.

"Was ist?", entgegne ich gereizt meiner besten Freundin.

„Was auch immer jetzt bei euch los ist. Was ihr tut oder wo ihr seid, wenn du den Brief lesen willst, lies ihn nicht", warnt sie mich.

„Und warum nicht?", frage ich kleinlaut.

„Er wird dir nicht gefallen." Ihre Stimme zittert. Als ich das registriere, weiteten sich meine Augen.

„Woher weißt du das?" Meine Stimme ist kratzig, unsicher. Ich fühle mich unwohl in meiner Haut.

„Derek hat ihn gelesen als du und Harley euch gestern verzogen habt", beichtet sie. „Und er hat mir erzählt, was drinnen steht."

„Was?", stoße ich aus. Mein Herz schlägt viel zu schnell. Ich brauche Luft. Muss atmen. Harley greift nach meiner Hand und drückt sie. Ich ziehe endlich Luft in meine Lungen. Atmen ...

„Und ich will, dass du ihn erst liest, wenn ich dabei bin", beendet sie den Grund, warum sie angerufen hat. Ich lege auf. Meine Finger sind schneller als mein Verstand. Mein Herz klopft wie wild. Mir wird übel. Meine Sicht verschwimmt. Harley nimmt meine zweite Hand und zieht mich hoch. „Ich denke wir sollten zurückfahren."

„Ich kann das nicht, es ist zu viel." Meine Lippe zittert. „Ich kann das nicht. Ich hab mich überschätzt. Ich-ich ..." Er lehnt seine Stirn an meine und hält mich aufrecht.

„Atmen, Bienchen. Atme", befiehlt er dann und ich gehorche. Ich kralle meine Hände in seine. „Wir schaffen das", behauptet er und ich glaube ihm. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube ihm. „Gemeinsam."

Ich nicke und wende mich um. „Lass uns gehen."

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