KAPITEL 22
Als ich aus dem Auto steige und mir Harley die Tür aufhält, wäre ich am liebsten wieder umgedreht. Mir verschlägt es die Sprache. Mein Herz klopft noch schneller als vorher und ich befürchte, wenn es vorher noch nicht ernst gemeint war, dass es das jetzt aber auf alle Fälle ist.
„WA-?", stoß ich aus, als mich jemand anrempelt und weitergeht. Wir begeben uns in eine Menschenmenge, die größer ist als ich je eine gesehen habe. Menschen drängeln sich aneinander. Es müssen tausende sein. Alle auf einem Platz.
"Harely, sag nicht, dass das das ist, was ich vermute?" Ich drehe mich zu ihm und starre ihn fassungslos an.
„Was vermutest du denn?", will er schmunzelnd wissen und nimmt meine Hand, an der er mich weiterzieht.
„Ein Konzert?" Meine Schuhe klappern, obwohl sie keinen hohen Absatz haben und ich versuche vor lauter Überraschung, nicht über meine Füße zu stolpern.
„Nicht irgendein Konzert, Bienchen, eins von ... rate mal!" Er stupst mich in die Seite. „Du kannst deinen Mund wieder zu machen."
„Nein, unmöglich!" Ich kralle mich an seiner Hand fest. „Sag mir, dass du kein Vollidiot bist und so verdammt verrückt, dass du ...!" Ich erblicke ein Plakat und atme durch. „Ok, ok du bist doch so verrückt. Es ist Bea Miller?", schreie ich. „Im Ernst?"
„Ist das nicht gut?", will er wissen und wir stellen uns an einer Schlange an.
„Do-Doch Harley, das ist verdammt gut!", kreische ich. „Woher wusstest du, dass ich auf ein Konzert von ihr will?"
„Du hast mir zufällig mal von ein paar Wünschen von dir erzählt und da dieser dabei war, konnte ich nicht widerstehen." Er wackelt mit seinen Augenbrauen. „Bereit für ein Konzert?"
„Ganz ehrlich?" Er nickt. „Nein." Das ist mein vollkommener Ernst.
„Nicht?", will er wissen und ich vernehme den Unterton in seiner Stimme. "Es sind so viele Menschen", erkläre ich.
„Ja, aber bei deinem Blog, wenn wir uns alle treffen und die Wünsche erfüllen, sind doch auch immer viele da", versucht er mich milder zu stimmen.
„Ja, aber das sind doch nicht SOOOO viele!", behaupte ich außer Atem. „Wir werden zerquetscht." Er lacht.
„Keine Sorge, ich pass schon auf." Wir kommen nach einer gefühlten Ewigkeit am Sicherheitscheck an und müssen unsere Rucksäcke und Taschen vorzeigen. Als wir den passieren, nehme ich wieder Harleys Hand. Wenn ich ihn verliere bin ich erledigt.
„Will ich überhaupt wissen, wie teuer die Karten waren?", brülle ich ihm ins Ohr, da eine Vorband angefangen hat, zu spielen und alles lauter wird.
„Oh, nein." Das beruhigt mich nicht, sondern bestätigt meinen Verdacht.
„Ich zahl es dir zurück. Zumindest meinen Teil." Harley dreht sich zu mir um.
„Das ist ein Date Devs, natürlich bezahle ich alles", sagt er und zieht mich weiter.
„Aber-!"
„Komm!" Wir holen uns etwas zu trinken und kämpften uns zu unserem Platz ziemlich in der Mitte der Menschenmenge vor. Alles ist draußen unter freiem Nachthimmel, die Beleuchtung ist an, und es ist ... traumhaft, fällt mir ein, als ich die Bühne ganz vorne betrachte. Einfach traumhaft. Atemberaubend, unvorstellbar. Bin ich wirklich hier? Wirklich? Hier unter all diesen bebenden Menschen, den Stimmen, den Liedern, dieser ... Wucht? Ich kann es nicht fassen. Es ist alles so groß.
„Und freust du dich?" Harley beobachtet mich grinsend und ich boxe ihm spielerisch gegen die Schulter.
„Harley halt einfach deinen Mund. Natürlich freue ich mich. Es-es ist ..." Ich zeige um mich. "Der Wahnsinn!" Er lehnt sich zu mir herunter und streicht eine Haarsträhne weg.
„Das wollte ich erreichen."
„Was?"
„Dass du so strahlst und die Traurigkeit aus deinen Augen verschwindet", flüstert er mir ins Ohr und ich schlucke. Ich weiß, was er meint. Aber heute bin ich da, um Spaß zu haben. Also trinke ich einen Schluck, verstaue die Flasche und greife wieder nach Harleys Hand.
„Bereit los zu kreischen?" Es spielen immer noch eine Vorband und Bea Miller ist noch nicht da, aber ... oh je, ich spüre die Musik in meinen Venen so laut, dass ich einfach nicht anders kann als mich zu bewegen, meine Stimme zu erheben, all das mitzumachen, was auch all die anderen Menschen um mich herum machen.
„Und wie!" Wir lächeln uns an. Da sind wir uns mal wieder einig, also fange ich an.
*
Als ich mich bewege, remple ich meinen Nachbar an und entschuldige mich, was aber untergeht, weil alles zu laut ist. Also mache ich einfach weiter. Meine Stimme singt schief, was mir aber so was von egal ist. Harley singt nicht besser und tut es trotzdem. Meine einzige Befürchtung ist, dass ich nicht bis zum Ende durchhalten werde. Schon jetzt spüre ich die Müdigkeit, wie sie an meinen Knochen zerrt. Doch ich ignoriere es und streiche mir aufgeregt meine Haare zur Seite, als die Musik verstummt und eine Stimme zu hören ist.
„Endlich!", lächele ich Harley an. „Bea!"
Er schlingt einen Arm um mich und nickt. Hibbelig starre ich nach vorne auf einen, an den Seiten angebrachten Bildschirme, worauf man sie besser sehen kann. Sie ist wirklich da.
„OMG."
Sie spricht ein paar Worte, begrüßt uns, dann geht die Musik an und alle fangen an zu kreischen. Harley neben mir pfeift sogar und ich gebe mein Bestes, mich so laut zu äußern, wie ich nur kann. Es wird immer lauter, die Lichter sprudeln vor meinen Augen hin und her und man hört ihre Stimme aus den Lautsprechern. Der erste Song ist „Like that", bei dem ich lauthals mitsinge. Ich kenne ihn auswendig. Immer wieder stockt Harley neben mir, lässt sich aber nicht den Spaß versauen und singt einfach weiter, auch wenn er den Text nicht kennt. Dafür mag ich ihn gerade noch mehr.
Like that, is pushing me harder, is pushing me harder ...
der Refrain kommt, ich singe lauter, tanze, wippe zur Musik, ich bewege meine Hüften, ich strecke meine Arme zum Himmel, ich kreische - ich lebe! Obwohl alles im Freien ist, ist es so warm, dass ich ins Schwitzen komme. Wobei das wahrscheinlich nicht mal der Temperatur zu verdanken ist, sondern meinem Körper, der außer Atem ist. Meine Stimme braucht eine kurze Pause und so höre ich kurz auf zu singen. Jedoch nicht mit dem Wippen im Takt, den Bea Miller so gut vorgibt. Sie ist einfach genial. Und ich sehe sie endlich live.
Meine erhitzten Wangen strahlen, mein Kopf rauscht, meine Ohren beben. Ich kann es einfach immer noch nicht fassen. Der Boden auf dem ich jetzt stehe, Harley neben mir, all die Leute, die Musik. Es ist zu krass.
Sie macht weiter mit „Firne N Gold", tanzt über die Bühne, schwebt hoch und wieder hinab, thront auf der Bühne und ich steige wieder mit ein, neben mir Harley der mich belustigt mustert. Ich sage nichts zu ihm, da ich sonst hätte brüllen müssen, mache einfach weiter. Er scheint, sich prächtig zu amüsiert, also passt alles. Am liebsten hätte ich ihm die Zunge rausgestreckt, lasse es aber.
Ich vergesse alles. Wie lange wir schon hier stehen. Wie viel Uhr es ist. Ob meine Beine noch existieren. Ich wage lieber nicht nachzusehen, da mindestens eins eingeschlafen ist und wie wild kribbelt. Dann ist eine Pause, in der ich erleichtert und schwitzend mit Harley etwas zu essen kaufe und es hungrig hinunterschlinge. Danach geht alles wieder von vorne los.
Wir amüsieren uns prächtig. Gerade singt Bea „Enemy Fire" und ich kreische lauthals mit. Ich verbringe die Zeit in einer Blase, die nur mir gehört. Die Musik wallt um uns herum und ich höre nicht auf, weiter mit zu singen und meine Hüften im Takt zu bewegen. Ich remple Harley aus Versehen an, und nuschle eine Entschuldigung, die er natürlich nicht hören kann. Dann nimmt er meine Hand und setzt mich auf seine Schultern. Ich halte mich überrumpelt an ihm fest, richte mich dann aber auf und betrachte die Aussicht.
Krass! Es ist atemberaubend. Hier oben habe ich eine noch bessere Sicht auf die Bühne und beobachte Bea, wie sie ihre Performance tanzt und uns vorführt, wie sie singt und wie sie keucht. Das muss ein anstrengender Job sein. Dann wechselt das Lied wieder, zu einem das ich selten gehört habe. Trotzdem singe ich mit.
Doch ich bin abgelenkt. Ich spüre Harleys Muskeln unter mir und seine Wärme, die auf meinen bereits erhitzen Körper überspringt. Mein Gehirn setzt aus. Mein Atem stockt. Ich starre nach vorne auf die Bühne und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Ich habe doch keinen Whiskey getrunken? Nop, da bin ich mir ganz sicher, sonst würde ich so selbstsicher wie Mily an die Sache rangehen und mich Harley an den Hals schmeißen. Aber ich denke trotzdem darüber nach. Seine Lippen sind nah, ich muss mich nur herunterbeugen. ...
Abrupt klopfe ich ihm auf den Kopf und bedeute, er soll mich runterlassen. Unten schenke ich ihm ein Lächeln und versuche, so weiter zu machen, wie vorher. Ich brauche nur etwas Abstand. Doch es klappt nicht. Mein Blick schweift immer wieder zu ihm hinüber.
Ich höre auf zu tanzen, zu singen, stehe still da. Mitten in der Menge, die nur so strotzt, vor Lebendigkeit, fühle ich mich alles andere als das. Ich bewege mich nicht. Bin still. Alle anderen schreien, ich nicht. Alle anderen singen, ich nicht. Alle anderen kreische, ich nicht.
Harley sieht mich irritiert an, wie ich ihn dort so anstarre und einfach stehen geblieben bin. Seine Augen leuchten hell. Meine Augen brennen in seinen. Ich werde jeden Moment hyperventilieren. Die Aufregung vom Anfang, als er mich abgeholt hat, ist verschwunden. Doch jetzt ist etwas anderes da. Ich starre zu ihm hoch. Er scheint mich fragen zu wollen, was los ist. Doch ich sage nichts.
Ich will ihn küssen, will seine Wange berühren. Mein Kopf hebt sich zu seinem. Er öffnet seinen Mund, will etwas sagen, doch ich verstehe nichts. Ich nehme seinen Geruch wahr. Dann schließe ich meine Augen. Lehne meine Stirn an seine. Ich nehme mein Handy heraus und tippe ihm eine Nachricht, weil ich befürchte, er wird nichts hören. Ich zeige auf sein Handy, er soll die Nachricht checken. Dann gehe ich.
Ich bahne mir einen Weg aus der Menge. Meine Kehle fühlt sich staubtrocken an. Ich kaufe mir noch etwas zu trinken und verschwinde aufs Klo. Ich brauche eine Pause, sonst werde ich tot umfallen. Und ich brauche Abstand zu Harley, sonst werde ich etwas ganz Unanständiges machen. Das will hier sicher niemand sehen. Also atme ich durch.
Eins, zwei drei.
Ich spüle, wasche mir die Hände und gehe zurück an die frische Luft. Da ich noch nicht bereit bin, zurück zu gehen, nehme ich mein Handy heraus und checke meine Nachrichten. Meine Augen weiten sich. Da bin ich mal ein paar Stunden unerreichbar und Mily muss mir schon wieder tausend Nachrichten schreiben. Ich rufe sie zurück und will ihr gerade meine Meinung darüber pauken, dass ich nicht mit Harley schlafen werde, weil ich es nicht kann, da fängt sie aber schon an in den Hörer zu schreien, was mich zurückweichen lässt.
„Ich hab nichts verstanden! Und jetzt bitte noch einmal leiser", sage ich leicht genervt zu ihr.
„Dev, Gott sei Dank bist du dran", fängt sie an. Ich höre ihre Aufregung.
„Was ist los?", frage ich, weil ihr Unterton mich nervös stimmt.
„Es hat sich jemand gemeldet" spuckt sie aus. Mein Rücken kribbelt. Harley ist da und schleicht sich mit einem besorgten Ausdruck in den Augen an. Ich beachte ihn aber nicht.
„Sag es!", flehe ich. "Wer hat sich gemeldet?"
„Wir haben die Telefonnummer deines Dad's! Es hat sich heute jemand am Blog gemeldet, der ihn kennt." Ich blinzele, mein Herz verkrampft sich.
„Wirklich?" 3 verdammte Jahre ...
„Ja, Dev das ist ...!" Ich lege auf.
Es ist ein einziger Klick, doch er halt durch meinen ganzen Körper. Ich kann mich nicht bewegen. Erst als Harley seine Hände von hinten auf meine Hüften legt und mich zu sich umdreht, erinnere ich mich wieder, wo ich bin. Ich lehne meine Stirn an Harleys Brust. Er streicht mir über meinen Rücken. Als er fragen will, was los ist, hebe ich meinen Kopf und sehe ihn ernst an.
„Sie haben meinen Dad", flüstere ich. Harleys Gesichtszüge entgleiten ihm, schwappen auf und ab, bleiben dann aber schlussendlich bei einem Lächeln stehen.
„Ich wusste, wir würden ihn finden." Ich sehe ihn an, meine Lippe bebt. Ich weiß nicht wie mir geschieht. Das Gefühl ist schon längst zu eindringlich.
„Was ist los?" Er umfasst mein Gesicht mit seinen Händen.
"Ich hab Angst", raune ich. Und das ist die Wahrheit.
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