1 - Chris
Heute war endlich dieser Tag, auf den ich schon seit Monaten hingefiebert hatte. Endlich stand ich im Warteraum, der mich zum Flugzeug nach Las Vegas bringen würde. Die Aufregung fuhr durch meinen Körper und ich konnte einfach nicht stillsitzen bleiben. Nervös tigerte ich vor meinem Bruder auf und ab, wobei nicht nur er mir einen genervten Blick zu warf. Auch die alte Dame neben uns sah mich sehr verärgert an. Doch das störte mich nicht im geringsten. Zu groß war die Vorfreude auf das bevorstehende Abenteuer! Zwei Wochen Amerika mit meinem Bruder und seiner Freundin! Das werden die beiden schönsten Wochen meines Lebens werden! „Kannst du jetzt mal bitte still stehen bleiben?", fauchte Jonas und seine braunen Augen funkelten mich an. Nur seinetwegen blieb ich stehen und blickte ihn an. Wenn man uns beide sah, erkannte man sofort, dass wir verwandt waren. Wir hatten beide das ähnliche Gesicht, mit dem Spitzen Kinn und den weichen Gesichtszügen. Unsere Haare besaßen das selbe Braun, wobei Jonas sein Haar immer ordentlich legte und meins aussah wie ein zotteliger Hund. Wir teilten uns ebenfalls die selben schmalen Lippen und die selbe gerade Nase. Nur unsere Augen unterschieden sich ziemlich. Während Jonas rehbraune Augen hatte, sahen meine aus wie eine Regenwolke. Sehr grau und verwaschen. „Ich bin so aufgeregt!", erwiderte ich, was Jonas wieder zum Lächeln brachte. „Das merkt man dir gar nicht an", sagte er sarkastisch und schob sein Handy in die Tasche. „Das bist du schon, seit wir dir das Ticket geschenkt haben." Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als ich an diesen Tag im Mai dachte. Schon immer habe ich es mir gewünscht, in die Staaten zu fliegen, konnte es mir aber nie leisten. Da haben Jonas und Emilia, seine Freundin, zusammengelegt und uns allen dreien ein Ticket zu kaufen. Im ersten Moment konnte ich es gar nicht realisieren. Auch wenn Jonas mich nie hintergangen und ähnliches hat, aber das war einfach zu unglaublich. Und jetzt war ich hier, mit den besten Menschen, die je in meinem Leben waren. Jonas und ich hatten schon immer eine gute Beziehung zu einander gehabt. Ohne zu zögern, würden wir für den anderen ins Feuer springen. Jonas war immer für mich da, wenn ich ein Problem hatte. Genauso war er auch da, wenn wir einfach nur zusammen abhängen wollten. Mit keinem sonst, konnte ich so abschalten wie bei ihm. Einseitig war es jedoch nicht. Auch Jonas kam immer zu mir, wenn er ein Problem hatte. Zum Beispiel wusste er damals nicht, wie er Emilia sagen sollte, dass er sie liebte. Ich stand ihm bei und gab ihm Ratschläge. Ich konnte aber nicht leugnen, dass ich dies ungern tat. Ich hatte so viel Angst davor, dass er wegen ihr unsere Beziehung vernachlässigen würde, da sie seine erste Freundin ist. Die Befürchtung hatte sich aber Gott sei Dank gelegt. Emilia hatte in meinen Leben auch einen festen Bestandteil und wurde wie meine kleine Schwester. An der Liebe zwischen den beiden hatte sich absolut nichts verändert. Obwohl sie inzwischen schon vier Jahre zusammen waren, konnte man denken, sie seien erst seit gestern ein Paar. Und das freute mich wahnsinnig. Emilia war so ein wundervoller Mensch.
Genau in diesem Moment erschien ihr blonder Kopf am Eingang zum Wartebereich. Auch Jonas erblickte sie und sofort erschien ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht, welches immer da war, wenn er mit Emilia zusammen war. Auch wenn sie stritten, war da dieses Lächeln auf seinen Lippen und bei Emilia lag der liebevolle Ausdruck in ihren schönen, graugrünen Augen. Sie trat zu uns. „Es tut mir leid, dass ihr so lange wartet musstet. Auf der Damentoilette ist immer so viel los", entschuldigte sie sich und folgte der stummen Anweisungen von Jonas, sich auf seinen Schoß zu setzen. Dieser lachte und schlang seine kräftigen Arme um ihre Taille. „Ja, das Problem ist leider sehr vertreten", scherzte er. Emilia lächelte noch breiter und nickte. „Das stimmte in der Tat und ist sehr nervig!" „Vielleicht gehst du beim nächsten Mal auf die Männertoilette", schlug ich ironisch vor. Emilia strahlte mich an und sagte zu meiner Überraschung: „Ob du es glaubst oder nicht, aber genau das habe ich getan!" Entsetzt sah ich sie an. „Nicht dein Ernst!" Jonas brach in schallendes Gelächter aus. Das brachte die alte Dame neben uns endgültig in Weißglut. Sie warf uns einen vernichtenden Blick zu, stand auf und entfernte sich von uns. Sofort nutzte ich die Chance und ließ mich auf ihren Platz nieder. Auch wenn ich im Flugzeug noch lange sitzen werden würde, so hatte ich langsam keine Lust mehr zu stehen. Emilia nickte energisch. „Da war absolut nichts los, keine Menschenseele! Da bin ich dann einfach da auf Toilette gegangen, ansonsten würde ich jetzt immer noch da stehen und warten." „Du bist echt genial", lachte Jonas und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Emilia zuckte dabei nur mit den Schultern. „Ich glaub nicht, dass ihr beide so scharf darauf seid, stunden zu warten, ehe man seine Blase entleeren kann", konterte sie und nahm seine Hand in ihre. „Ich persönlich möchte auf gar nichts mehr warten und schon dabei sein, mich in Las Vegas umzusehen", mischte ich mich ins Gespräch ein. „Da wirst du dich noch bisschen gedulden müssen, Bruderherz", Jonas zwinkerte mir zu. „Das ist die perfekte Gelegenheit für dich, etwas Geduld zu üben." Empört sah ich ihn an. „Ich kann länger warten als du!", konterte ich. „Glaubst du das wirklich? Als wir dir das Ticket geschenkt haben, wolltest du am besten jetzt gleich los." „Dafür kannst du nicht mal auf deine Essensbestellung warten, ohne zu verhungern", gab ich zurück. „Jungs, beruhigt euch. Ihr seid beide sehr ungeduldig", mischte ich Emilia ein, worauf Jonas ihr einen stählernen Blick zuwarf. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?!" Doch eine Antwort bekam er nicht, da in diesem Moment die Durchsage kam, dass unser Flugzeug bereit zum Abflug sei und wir uns bitte beim Terminal melden sollen.
Wie ein aufgeschrecktes Kaninchen sprang ich auf, schnappte mir meine Tasche und drängte meine Begleiter endlich zu kommen. Doch Emilia rutschte ganz entspannt vom Oberschenkel meines kleinen Bruders. „Ruhig Blut, Kleiner. Wir fliegen sowieso nicht eher ab, ehe nicht alle sitzen." Dennoch fiel es mir wahnsinnig schwer, langsam hinzugehen. Am liebsten wäre ich sofort zu meinem Sitz gerannt oder hätte die Maschine gar selber gestartet. Aber ich besann mich eines besseren und schritt ganz gemächlich zur Flugbegleiterin, die erneut unsere Tickets und Reisepasse checkte, ehe wir endlich den langen Gang entlanggehen konnten, der uns direkt zum Flugzeug brachte. Und endlich betraten wir es. Ich riss meine Augen auf, als ich die vielen Sitze betrachtete und Emilia folgte, die uns zu unseren Plätzen führte. Oft mussten wir stehen bleiben, da Leute, die ihr Handgepäck verstauten, im Weg standen, doch dann kamen wir endlich an unserem Platz an. Ich war so aufgeregt, dass ich am liebsten gehüpft wäre. Doch ich ließ es bleiben, sondern nahm Emilias Tasche und verstaute sie oben im Ablagefach. Währenddessen setzte sie sich an das Fenster, was ich stillschweigend zur Kenntnis nahm. Wir hatten uns sowieso schon sehr lange darüber gestritten, wer an das Fenster darf. Letztenendes hatte Emilia gewonnen. Jonas, der von vorne rein in der Mitte sitzen wollte, hatte sich da rausgehalten und die Diskussion nur stillschweigend beobachtet. Jetzt ließ er sich auf seinen Sitz nieder und ich ließ mich auf den äußeren Sitz nieder. Wirklich befriedigend war es nicht, aber zum Meckern war ich viel zu aufgeregt. Na gut, das hatte ich ja bereits sehr oft gezeigt. Wir schnallten uns an und jetzt hieß es warten. Immer mehr Menschen trudelten ein und langsam waren alle Sitze belegt. Neben uns saßen zwei Frauen mit einem Kind, welches fasziniert aus dem Fenster blickte. Ich grinste, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Es konnte nicht besser sein. Neben mir hörte ich Emilia und Jonas tuscheln und sah es bildlich vor mir, wie sie ihre Hände hielten und Emilias Kopf auf Jonas Schulter ruhte. Wenig später wurden wir in die Sicherheitshinweise eingewiesen, doch ich hörte nicht zu. Wirklich spannend war es nicht und wie unwahrscheinlich war es, dass man es gebrauchen wird. Leider ahnte ich nicht, dass ich es hätte tun sollen. Ich ahnte nicht, dass mit dem Rollen des Fliegers mein letztes normales Stündlein geschlagen hatte. Wir starrten fasziniert aus dem Fenster und sahen zu, wie Frankfurt immer kleiner wurde. In diesem Moment war für mich alles so, wie es sein sollte. Und auf die harte Tour lernte ich, dass man Glück nicht für selbstverständlich halten durfte.
Wenige Stunden später wurde ich durch starke Turbulenzen aufgeweckt. Noch total verschlafen schlug ich meine Augen auf. „Was ist los", fragte ich und rieb mir meine Augen. „Ach nichts", meinte Jonas, doch seine Stimme klang angespannt. „Es ist nur ein heftiges Unwetter draußen." „Ja?" Ich blickte aus dem Fenster und erschrak. Dicke Regentropfen klatschten gegen die Scheibe und wir waren umrahmt von schwarzen Regenwolken. Blitze erhellten den Himmel und der Donner erklang fast danach. Wieder geriet das Flugzeug ins Schwanken, was ein nervöses Raunen durch die Menge ertönten ließ. Auch ich musste schlucken. Emilia sah kreidebleich aus. Sie klammerte sich an Jonas Arm, während ihre Augen panisch aufgerissen waren. „Warum fliegen wir nicht aus dem Unwetter raus?", stellte sie eine berechtigte Frage, auf die ich ebenfalls keine Antwort wusste. „Wenn sie könnten, würden sie es tun", versuchte Jonas sie zu beruhigen, doch seine Freundin sah keineswegs beruhigt aus. Was ich ihr überhaupt nicht verwerfen konnte. Es sah nicht gut aus. Wieder erschütterte uns eine Turbulenz und diesmal neigte sich das Flugzeug auch zur Seite. Die Armlehne drückte sich dabei unangenehm in meine Seite und mit Mühe konnte ich mich abstützen um den Druck etwas zu minimieren. In diesem Moment gab es einen Ruck, gefolgt von einem lauten Krach. Ich zuckte zusammen und einige Menschen, Emilia eingeschlossen, schrien panisch auf. Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl und zum ersten Mal durchströmte mich auch die nackte Angst. Es sah echt nicht gut aus. Die Stimme des Piloten ertönte aus dem Lautsprechern, doch wurde je unterbrochen, als ein Blitz in den Flügel schlug. Es krachte, das ganze Flugzeug schwankte. Schreie waren zu hören und die Hälfte des Flügels brach ab und fiel runter. Damit war es vorbei. Das Flugzeug beugte sich zur Seite und mit einer rasenden Geschwindigkeit fiel es hinab. Wir wurden in unsere Sitze gedrückt. Ich krallte mich an meinen Sitz, biss die Zähne und sah mein Leben an mir vorbeiziehen. Dann explodierte alles. Das war der Moment, wo das Flugzeug auf der Erde landete. Wir wurden komplett durchgeschüttelt und am Anfang eines Tunnels - warum war da ein Tunnel? - sah ich Flammen. Und Schwärze. Etwas krachte gegen meine Taille, der Schmerz ließ mich aufschreien, doch damit wurde mein Sicherheitsgurt durchtrennt. Sofort verlor ich den sicheren Halt, der Verschluss krachte gegen meine Nase und ich wurde aus dem Sitz geschleudert. Verzweifelt versuchte ich mich an etwas festzuhalten, aber sobald ich etwas in der Hand hatte, wurde es mir wieder entrissen. Dann fiel ich irgendwo runter. Irgendwo in meinem benebelten Kopf realisierte ich, dass das Flugzeug in der Mitte auseinandergebrochen war. Reflexartig klammerte ich an den Abgrund, schaffte es mich tatsächlich fest zu halten, als es wieder einen Ruck gab. Meine Hände gaben noch, ich fiel seitlich hinab und landete auf dem Boden. Die Zeit zum Sammeln hatte ich nicht. Ohne nachzudenken, sprang ich zur Seite, was mir ein starkes Ziehen in mein Bein einbrachte und sah zu wie das Flugzeug über die Stelle rollte, an der ich gerade noch gelegen hatte. Auf meinem Hinter kroch ich zurück und starrte das brennende Flugzeug an, welches nun langsam zum stehen kam. Ich sah es an und realisierte nichts. Nicht, wie sich neben mir etwas regte. Nicht die Flammen, die sich durch das Metall fraß. Nicht den Regenschauer, der mich komplett durchnässte. Ich starrte nur in auf das Unheil. Wie hatte es dazu kommen können?
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