Von nicht verschwindenden Gedanken

Es gibt Tage, die starten richtig gut.

Ich habe das Gefühl, die ganze Welt liegt mir zu Füßen, nichts kann mich stoppen, ich fühle das pure Glück und lache aus ganzem Herzen. Und dann, von einer Minute auf die nächste, werden Gedanken im Kopf lauter, die ich gar nicht mehr hören möchte. Anfangs ignoriere ich sie, schenke ihnen keine Beachtung, stopfe sie zurück in die Ecke, aus der sie gekommen sind. An manchen Tagen funktioniert das, an manchen nicht. Sie kommen einfach wieder, überfallen mich in einem unerwarteten Augenblick und es überrascht mich jedes Mal aufs Neue, wie anfällig ich trotz allem immer noch für sie bin.

Heute ist kein guter Tag. Aber als ich heute Morgen aufgestanden bin, war er das noch. Ich war mein altbekanntes, energiegebündeltes Ich und bin durch die Gegend gehüpft. Die letzte Stunde dagegen habe ich mit einem Heulkrampf nach dem anderen und einer Runde exzessivem Sport verbracht. Nicht dass Sport schlecht ist, aber es kommt immer darauf an, aus welchen Gründen Du Dinge tust. Und das, was mir zu der Zeit in meinem Kopf herumgeschwirrt ist, war sicherlich nicht gerade das Gelbe vom Ei.

Seitdem überlege ich, was mit mir nicht stimmt. Wie kann es sein, dass ich nach all den Jahren immer noch mit diesen beschissen, vollkommenen irrationalen Gedanken zu tun habe? Wie kann es sein, dass alle meine Freunde mich wohl als den überdrehtesten, spontansten, fröhlichsten Menschen beschreiben würden und keine Ahnung haben, wie es an manchen Tagen in mir aussieht? Wie kann es sein, dass ich selbst mich, wenn ich mich beschreiben müsste, als genau diesen Menschen beschreiben würde? Wie kann es sein, dass ich meine dunklen Seiten einfach auslasse? Und dann kam mir die Frage, ob ich womöglich so krampfhaft versuche, dieser glückliche, lachende, laute Mensch zu sein, um mich selbst von meinen Sorgen abzulenken? Denn bis zum heutigen Tag hat diese Methode die letzten drei Monate doch erstaunlich gut funktioniert.

Auch wenn es bis jetzt nicht so klang, kam dieses Tief doch nicht gänzlich unerwartet für mich. Ich hatte bereits diese ganze Woche immer mal wieder Momente, in denen die alten Gedanken und Gefühle öfter aufgeblitzt sind als zuvor. Trotzdem habe ich nicht erwartet, dass es so schlimm wird, wie es heute ist. Mit meiner Glücklichkeitsmasche täusche ich nicht nur andere, sondern auch mich selbst. Wenn ich mir selbst vorgaukle, ich sei glücklich, fühle ich mich auch irgendwann so.

Meine ganzen Selbstzweifel konnte ich im Klo hinunter spülen, meine Minderwertigkeitskomplexe in Bezug auf meine Figur und meinen Körper verdrängen, indem ich mir bis zum Erbrechen gesagt habe, dass ich hübsch und liebenswert bin. Dass meine Figur mich nicht definiert und Kurven auch sexy sein können. Und ja, man glaubt es nicht, aber diese Methode funktioniert nach einer Zeit tatsächlich. Allerdings auch nicht für immer, denn es bedarf nur einiger kleiner, scheinbar unscheinbarer Trigger, um diese Illusion eines glücklichen, zufriedenen Ichs zum Einsturz zu bringen.

Was solche Trigger für mich sind?

Momentan die Sommersaison. Kurze Hosen, nackte Beine. Für mich, die ihre Beine absolut nicht leiden kann, der blanke Horror. Ich brauche immer erst mindestens einen Monat, um mich psychisch darauf einzustellen, mit kurzer Hose irgendwo hinzugehen. Wesentlich einfacher habe ich es mit Röcken, aber auch daran muss ich mich erst wieder gewöhnen.

Weiterer Trigger: Kommentare anderer. Diese müssen nicht einmal auf mich bezogen sein, aber mein Kopf überträgt sofort alles auf mich selbst. Ich dachte ehrlich gesagt, ich wäre schon weitergekommen. Ich habe das Gefühl, ich stehe auf der Stelle und nichts tut sich, obwohl ich die letzten Monate in einem echt guten Tempo vorwärts gelaufen bin und auch gelegentliche kleine Tiefs gut umschifft habe. Aber in dieses bin ich volle Kanne hineingeknallt.

Morgen fahren wir zu meinen Großeltern und es ist eine ganze Weile her, dass ich mich nicht darauf gefreut habe – wegen des Essens. Und da ist mir heute wieder bewusst geworden, wie sehr ich doch noch diese verf*ckte Einstellung bezüglich Schönheit und Gewicht in meinem Kopf habe und davon einfach nicht loskomme. Ich war heute einige Male kurz davor, meiner ehemaligen Therapeutin eine Mail zu schreiben, um nächste Woche wieder vorbeizukommen. Ich weiß nicht, ob sich noch jemand daran erinnert, als ich stolz erzählt habe, dass ich mir vorerst meinen eigenen Weg suche. Das war dieses Jahr im Januar. Fünf Monate ist das schon her und mir kommt es vor, als wäre ich gestern das letzte Mal dagewesen.

Bis jetzt habe ich mich noch nicht an sie gewendet, weil ich erst einmal den morgigen Tag abwarten möchte. Ich bin ein sehr spontaner Mensch und wenn ich etwas fühle, will ich das direkt so schnell wie möglich ausdrücken (positive Gefühle) oder aus dem Weg räumen (negative Gefühle). Daher neige ich gerne zu Kurzschlussreaktionen, wie ich es nenne, weil manche Gefühle eher von kurzer Dauer sind und man nicht direkt etwas gegen sie unternehmen muss – beziehungsweise das teilweise echt nach hinten losgehen kann. Allerdings fallen mir jetzt, wo der Gedanke, dass ich wieder zur Beratung gehen könnte, erst einmal da ist, ganz viele Gründe ein, wieso das vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre.

Wann weiß man, dass man über den Berg ist? Wann kann man aufhören, sich selbst heilen zu wollen? Wann kann man aufhören, etwas zu verändern? Denn mal ganz ehrlich, das ist verdammt anstrengend. Ich weiß, was ich tun sollte, aber das dann auch jeden Tag zu tun, kostet mich enorme Kraft. Und manchmal habe ich einfach keine Lust, kein Bock und keine Motivation, mich anzustrengen. Wird es irgendwann weniger anstrengend? Ich habe das Gefühl, nein.

Trotzdem werde ich jetzt mal versuchen, von meinen heutigen Gedanken etwas Abstand zu gewinnen und mich in ferne Bücherwelten zu lesen oder mir die Musik solange um die Ohren schwirren zu lassen, bis ich nichts anderes mehr in meinem Kopf höre. Wie meinte ich im letzten Kapitel? Jetzt sei mal Schluss mit dem optimistischen Gelaber. Ha, Ironie des Schicksals.

Allerdings kann ich jetzt mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich lieber ekelhaft optimistisch als so deprimiert drauf bin. Womöglich bin ich daher auch ein Mensch, der so viel lacht. Man kann seine eigenen Sorgen und die ganze Welt vergessen und bemüht sich einfach nur, andere auch zum Lachen zu bringen und so auch ihre Sorgen für einen Wimpernschlag zu vergessen.

Weil Lachen doch so viel schöner ist, als zu weinen.

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