Vom Sein

Die Idee zu einem neuen Text kam mir gestern Abend im Bett (oder soll ich eher sagen, heute ganz früh morgens), als ich mir zum Abschalten meine Playlist angemacht habe und auf einmal ein Album lief, das ich sehr oft in Neuseeland gehört habe. Gerade auf langen Busfahrten oder abends zum Einschlafen im Hostel, um das Schnarchen der Zimmerkollegen ausblenden zu können, war es drei Monate lang mein treuer Begleiter und so habe ich mich bereits nach den ersten zwei Takten wieder vollkommen in die Zeit zurückgesetzt gefühlt, sodass es mir beinahe vorkam, als läge ich wahrhaftig in einem Hostelbett, befände mich in einer mir noch unbekannten Stadt in einem weit entfernten Land. In dem Moment wurde mir einmal mehr bewusst, wie besonders Musik ist und was sie alles bewirken kann.

Allerdings wollte ich euch nicht schon wieder mit Erzählungen über meine super tolle Zeit langweilen, da ihr das vermutlich schon zu Genüge gehört habt. Ich hatte meine Gedanken also wieder verworfen, habe dann jedoch soeben beim Aufräumen mein Notizbuch von 2020 durchgeblättert und dabei einen Eintrag aus dem Monat August gefunden, in dem ich darüber fantasiere, einfach alles hinzuwerfen und mit Gelegenheitsjobs um die Welt zu reisen. Würde ich natürlich nicht (gleich morgen) machen, aber träumen darf man ja noch. Der Eintrag endet mit der Aussage: „Vielleicht lasse ich eines Tages alles los und bin einfach.“

Dieser Satz ist auch der Grund, weshalb es doch noch ein Kapitel gibt, in dem meine Reise mal wieder Thema sein wird, wenn auch tatsächlich nur hintergründig. Denn in erster Linie wird es um mich gehen und warum ich mich zu Hause anscheinend nicht auf eine Art und Weise wohl fühlen kann, um einfach zu sein.

Darüber grüble ich schon, seit ich wieder hier in Deutschland bin. Ist es mein Umfeld? Sind es die Verpflichtungen? Warum kann ich nicht einfach wieder zufrieden mit meinem Leben sein? Ich finde das Problem nicht, aber mir ist gestern Abend, als die Musik so viele lebendige Erinnerungen wieder wachgerufen hat, der Gedanke gekommen, dass ich zu Hause nicht so gefordert bin, wie ich es im Ausland war. Dort kannte ich nichts und niemanden, entdeckte jeden Tag etwas Neues, musste mir selbst Wege, Routen, Essenspläne zusammensuchen, war komplett auf mich allein gestellt. Das bin ich hier nicht, hier habe ich Freunde und Familie, die mich jederzeit bei Fragen und Problemen unterstützen können, und ich habe die Vermutung, dass das bequem macht. Mich zumindest. 

Vieles hängt nicht von mir alleine ab, es spielen so viele andere Menschen und Faktoren eine Rolle und ich kann mich darauf verlassen, dass ich nichts alleine machen muss, wenn ich das nicht will. Und genau deswegen, mit diesem Wissen im Hinterkopf, probiere ich auch nicht mehr viel alleine aus. Löse Probleme nicht selbstständig, sondern frage immer erst andere nach ihrer Meinung. Ich war so viel eigenständiger, als ich allein unterwegs war, und gerade dadurch habe ich mich auch mehr so gefühlt, als würde ich richtig leben. Mein eigenes Leben leben. Zu Hause lebe ich nicht nur mein eigenes Leben, sondern bin auch ein Teil vom Leben anderer und habe dabei gewisse Rollen zu erfüllen. Sei es als Freundin, als Tochter, als Arbeitnehmerin. Ich kann mich nicht mehr nur nach meinen eigenen Bedürfnissen richten, aber seit ich einmal auf den Geschmack gekommen bin, wie es ist, nur für sich selbst zu leben, ist es so schwierig, diesen Geschmack wieder zu vergessen. Fühlt sich so Egoismus an? Und sollte es nicht eigentlich in unserem Leben um Gemeinschaft, Gesellschaft, das gemeinsame Teilen gehen? 

Bin ich durch meine Reise egoistisch geworden? Das kann ich nicht wirklich beantworten, wäre aber durchaus möglich. Kann aber auch sein, dass ich durch meine Reise erst gemerkt habe, dass ich selbst auch zähle, dass ich selbst auch ein Recht darauf habe, meine eigenen Bedürfnisse mal an erste Stelle zu stellen und nicht immer nur die der anderen. Denn vor meiner Reise war ich eine ziemliche Anti-Egoistin (gibt es das Wort überhaupt?), habe immer alles für andere getan und selten etwas für mich selbst. Vielleicht nehme ich mir auch deshalb jetzt das Recht raus, zu sagen: Mir reicht es. Jetzt komme ich. Dadurch bin ich für meine Freunde etwas ungemütlicher geworden, als ich es früher war. Die müssen sich jetzt erstmal an die neue, fordernde Rika gewöhnen, die armen. Vermutlich lassen sie mich nie wieder weg; wer weiß, mit welchen Ansichten ich sonst wieder zurückkomme.

Meine Hoffnung ist, dass sich mit meinem kommenden Auszug meine Prioritäten noch einmal verschieben und ich dann sowohl wieder besser auf andere, als auch auf mich selbst eingehen kann, damit ich nicht wirklich eines Tages alles hinschmeiße und nur noch in der Weltgeschichte unterwegs bin, weil ich einfach die Schnauze voll habe. Wie kann einen ein einziges Erlebnis nur so sehr prägen? Manchmal frage ich mich echt, ob ich nicht bloß übergeschnappt bin oder dort drüben möglicherweise vom Blitz getroffen wurde und eine Erleuchtung hatte, aber so etwas würde man doch wissen. Oder?

Jedenfalls würde es mich nach dieser kleinen Selbstanalyse sehr interessieren, wie es denn bei euch aussieht. In euch aussieht. Fühlt ihr euch frei zu sein, wie ihr sein wollt? 

Fühlt ihr euch, als seid ihr? 



Das nächste Kapitel wird übrigens sehr politisch, also falls sich jetzt jemand gedacht hat, kann die nicht auch mal über etwas anderes reden als ihre olle Reise, der kann sich schon darauf freuen. Allerdings steht am Wochenende mein Umzug an und dann muss ich dort erst mal meine tausend Tassen, Socken und Unterhosen einräumen, aber wenn das erledigt ist und ich genug recherchiert habe, um euch keinen Unfug zu erzählen, hört ihr wieder von mir. Bisher habe ich meinen Tag übrigens ausschließlich im Schlafanzug verbracht; wie sieht's bei euch aus? Geht bei euch mehr ab? Irgendwelche spannenden News, die ihr mit mir teilen wollt?

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