l6.
Panisch schlage ich die Augen auf. Es ist noch dunkel und mein Magen verkrampft sich schmerzhaft.
Eine schwere Übelkeit erfüllt mich und als ich mich vorsichtig aufrichte, wird es schlagartig schlimmer.
Ich springe auf und renne mit wackeligen Beinen ins Badezimmer, wo ich mich unter lautem Würgen und stechenden Magenschmerzen in die Toilette erbreche.
Tränen schießen mir in die Augen und ich übergebe mich ein zweites Mal. Kraftlos greife ich nach dem Toilettenpapier um mir den Mund abzuwischen als Abbas verschlafen in einem Jogginganzug den Flur entlang schlurft.
Er wirft einen vernichtenden Blick ins Badezimmer und fragt spitz: "Was los, bist du schon wieder besoffen oder hast du dich jetzt auch noch schwängern lassen?"
Ich fahre erschrocken herum und ich könnte schwören, dass mir in dem Moment alles aus dem Gesicht fällt. Mir wird heiß und kalt und ich habe das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Scheiße, wann hatte ich das letzte Mal meine Tage?
Das muss definitiv vor dem Urlaub gewesen sein, aber lange vor dem Urlaub. Ich bin auf jeden Fall überfällig und das letzte Mal Sex hatte ich mit Walid im Urlaub vor ungefähr drei Wochen, das würde also genau passen.
"Fuck", entfährt es mir leise. Mein Herz beginnt zu rasen und Panik steigt in mir auf.
Sollte ich jetzt wirklich schwanger von Walid sein, wird er ganz sicher nicht zulassen, dass ich mich von ihm trenne. Ich werde mein Leben lang an ihn gebunden sein, ob ich will oder nicht, ein Kind wird uns für immer miteinander verbinden.
Tränen laufen mir über die Wangen. Eine Abtreibung wäre für mich keine Option. Ich könnte es nicht übers Herz bringen mich auf eine Stufe mit Gott zu stellen und über Leben und Tod zu richten.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?", fährt Abbas mich an und tritt ins Badezimmer. Er steht über mir und seine dunkelbraunen Augen funkeln mich wütend an.
"Und wahrscheinlich weißt du noch nichtmal von wem das Kind ist oder? Oh mein Gott, das wäre es noch, wenn Maxim dich geschwängert hätte", lacht er hysterisch.
"Walid ist der einzige Mann mit dem ich jemals geschlafen habe", beteuere ich schluchzend.
"Ja klar, Maxim hat dich nicht gefickt, ihr habt nur nächtelang Händchen gehalten, ne?"
Verzweifelt schüttele ich den Kopf. "Ich schwöre es dir, ich habe mit keinem anderen Mann als Walid geschlafen."
"Du musst einen Test machen", bestimmt Abbas und ignoriert damit meine vorherige Aussage. "Geh zur Apotheke und kauf dir einen, heute noch."
"Scheiße man", fluche ich weinend. "Was mache ich denn, wenn ich wirklich schwanger bin?"
"Inschallah bist du schwanger, vielleicht kommst du dann mal wieder zur Vernunft", sagt Abbas und fixiert mich mit einem düsteren Blick. "Denn dann kannst du diese Scheiße mit Verlobung lösen und heimlich abhauen vergessen, das verspreche ich dir und wenn ich dich hier zuhause an die Heizung fesseln muss."
Abbas' Worte setzen mich noch mehr unter Druck. Ich habe mir immer gewünscht irgendwann eine Familie zu gründen, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Ich habe mir Abbas schon oft als liebevollen Onkel vorgestellt. Einer, der mit den Kindern jeden Scheiß macht, mit ihnen Fußball spielt, sich Zöpfchen machen lässt oder mit ihnen nach McDonald's fährt. Abbas liebt Kinder und er würde auch meine aus ganzem Herzen lieben und immer hinter ihnen stehen, auch wenn er das gerade unter einem dicken Mantel aus Wut und Zorn verschleiert.
Gedankenverloren kneife ich mir in den Unterarm bis ein stechender Schmerz mich durchfährt. Das ist kein böser Traum, es ist die Wahrheit.
"Yallah", fordert Abbas mich auf. Ich spüle mir meinen Mund im Waschbecken aus und binde meine Haare zusammen. Mein Gesicht ist fahl und müde, die Augen klein und leblos.
"Guten Morgen, gut geschlafen?", blinkt auf meinem Handy auf. Ich ignoriere Maxims Nachricht vorerst und schlüpfe im Hausflur in ein beliebiges Paar Sneakers.
"Ich begleite dich", ertönt Abbas dunkle Stimme neben mir. Er ist bereits angezogen, trägt Jacke und Sneakers über seinem Jogginganzug und klimpert ungeduldig mit seinem Schlüsselbund.
"Willst du mich kontrollieren?", frage ich genervt.
"Ich will einfach nicht, dass du deinen Wagen in diesem Zustand in den nächsten Straßengraben setzt", kommentiert er bissig.
"Wäre ja schade um das Auto", gebe ich zurück und verdrehe die Augen.
"Wäre schade um dich", erwidert er ernst und sieht mir so tief in die Augen, dass mir ein warmer Schauer über den Rücken läuft.
Ich nehme schweigend mein Portemonnaie aus meiner Handtasche. Auch wenn in diesem Satz eine Prise meines fürsorglichen großen Bruders mitschwang, bin ich einfach zu verletzt von allem was passiert ist, als dass ich das als Anlass zur Versöhnung nehmen könnte.
Ich folge Abbas zu seinem chromblauen BMW M3 und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen.
Wir fahren zu der nächsten, knapp fünf Minuten Fahrweg entfernten Apotheke und Abbas hält mit blinkenden Warnblickanlage einfach in zweiter Reihe. Er hat meistens keinen Bock einen Parkplatz zu suchen und stellt sich auch gerne mal quer auf den Bordstein.
"Hauptsponsor der Stadt München, hm?", kommentiere ich seine Parkplatzwahl. So viele Strafzettel wie Abbas bekommen hat, könnte er glatt sein Schlafzimmer damit tapezieren.
"Komm Lilli, hau rein. Wenn ich jetzt ein Knöllchen bekomme, zahlst du", antwortet er nüchtern.
Ich steige aus dem Auto und teile der freundlichen Apothekerin mittleren Alters mit, was ich brauche. Sie verkauft mir einen Schwangerschaftstest, auf dem entweder "Schwanger" oder "Nicht Schwanger" steht. Keine uneindeutigen Linien, kein Rätselraten.
Ich bezahle und stecke die kleine Papierschachtel beschämt in die Bauchtasche meines grauen Hoodies.
"Hast du?", fragt Abbas und mustert mich kritisch. Ich ziehe den Test hervor und halte ihm den kleinen Karton unter die Nase. "Okay gut. Dann wollen wir mal", sagt er und startet mit lautem Röhren den Motor.
"Hast du sowas schon mal gemacht?", fragt er mich. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass wir einigermaßen normal miteinander sprechen. "Abbas ich hatte vor ein paar Wochen mein erstes Mal. Wann soll ich das denn schon mal gemacht haben?", frage ich ihn und muss grinsen. "Ja keine Ahnung, ich bin durcheinander", gibt er zu und seufzt leise.
"Du?", stelle ich eine Gegenfrage. "Ne ich war mir bis jetzt immer ziemlich sicher, dass ich nicht schwanger bin", kommentiert er trocken.
"Boah.. Ob eine Freundin von dir schon mal einen machen musste", korrigiere ich die Frage.
"Ja, es gab da tatsächlich mal eine Situation, aber das ist schon ziemlich lange her", antwortet er vage und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen.
"Echt, mit wem?", frage ich überrascht. Mit der Antwort habe ich nicht gerechnet.
"Mit Kiki, erinnerst du dich noch an sie?" fragt er überflüssigerweise. "Hä? Na klar erinnere ich mich noch an sie", antworte ich empört.
Kiki war Abbas' erste Freundin, seine Jugendliebe. Die beiden waren knapp zwei Jahre zusammen und haben sich damals völlig überraschend getrennt. Abbas war verrückt nach dem Mädchen, doch von einem Tag auf den anderen durfte man plötzlich kein Wort mehr über sie verlieren.
Ob das damals der Grund für die überstürzte Trennung der beiden war?
"Kiki dachte sie sei schwanger von dir oder was?", schlussfolgere ich.
Abbas schluckt schwer. Er hält den Wagen an einer roten Ampel an und sieht mir traurig in die Augen. Auch nach all den Jahren scheint ihm das Thema noch nahe zu gehen.
"Kiki dachte es nicht nur, sie war schwanger von mir", korrigiert er meine Annahme.
"Nicht dein Ernst?", entfährt es mir. "Hat sie das Kind verloren?", frage ich bestürzt und würde meinen Bruder am liebsten in den Arm nehmen.
Abbas lacht verächtlich auf. "Nein, Lilli. Sie hat das Kind nicht verloren, sie hat es abgetrieben." Seine Stimme ist belegt und seine Augen glänzen verräterisch.
"Wie meinst du das?", frage ich ihn aufgebracht. "Wieso hast du mir das nie gesagt?"
"Lilli ich war damals, keine Ahnung, sechzehn oder so. Wie alt warst du da? Elf? Da kann ich dir doch sowas nicht erzählen", rechtfertigt er sich.
Schockiert schüttele ich den Kopf. "Habt ihr euch deshalb getrennt?"
"Ja, ich konnte danach einfach nicht mehr mit ihr zusammen sein. Ich habe sie geliebt und ich habe es auch versucht, aber ich könnte ihr das einfach nie verzeihen. Immer wenn ich sie gesehen habe, habe ich in ihren Augen gesehen, was sie mir angetan hat. Sie hat mir einfach die Chance genommen mein Kind kennenzulernen, sie hat mich nicht mal nach meiner Meinung gefragt. Klar, wir waren erst sechzehn, aber wir hätten das schon irgendwie hingekriegt. Ich hätte sie ja auch unterstützt. Ich hätte sie und mein Kind niemals alleine gelassen."
Nun steigen auch mir Tränen in die Augen. "Abbas, das tut mir mega leid für dich", stottere ich unbeholfen. Was zur Hölle soll man denn auch in so einer Situation sagen? Gibt es irgendwelche Worte, die sein Leid minimieren könnten? Vermutlich nicht.
"Wieso hast du mir das denn nie erzählt? Seit ich elf war sind ja immerhin ein paar Jahre vergangen", frage ich anklagend.
"Ich wollte irgendwann einfach nur noch damit abschließen. Ich wollte gar nicht mehr darüber nachdenken. Ehrlich gesagt weiß das auch niemand außer Younes, nicht mal Papa oder Momo. Weißt du, vielleicht macht es mich deshalb auch so wütend dass du dich von Walid trennen willst, obwohl ihr euch verlobt habt. Vielleicht projiziere ich zu viel von mir in deine Geschichte, keine Ahnung", räumt er das erste Mal ein. "Papa wollte mit Mama glücklich werden und er konnte nicht. Ich wollte mit Kiki glücklich werden und konnte nicht. Und jetzt hast du die Chance glücklich zu werden und trittst sie mit Füßen."
"Ich verstehe das, aber ich werde nicht glücklich mit Walid, Abbas, und das bringt doch keinem von uns was."
Abbas rauft sich erschöpft durch die Haare. "Lass uns jetzt einfach schauen was der Test sagt und dann überlegen wir uns gemeinsam eine Lösung, okay?"
Es ist keine Versöhnung, aber es ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.
Bleibt nur zu hoffen, dass der Test negativ ist. Vielleicht findet sich dann auch alles andere.
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Meine Lieben,
Was sagt ihr zu Abbas' Geständnis?
Und denkt ihr, Lilli ist schwanger?
A.
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