39.

Eine gute Stunde später finde ich mich etwas auswärts an dem größten Eislauf-Trainingszentrum der Region wieder. Ich habe sowohl meine Schlittschuhe als auch ein paar Trainigssachen mitgenommen um mal mit Maxim Eislaufen zu gehen, wie ich es ihm versprochen habe, aber auch, um mir die Option offen zu halten, wieder mit dem Training zu beginnen. Dass der Wunsch danach jedoch so schnell aufkommen würde, hätte ich nicht gedacht.

In der geräumigen, modernen Eishalle herrscht reges Treiben und es befinden sich an diesem Samstagmorgen gerade die Bambinis auf dem Eis. Eine Gruppe von schätzungsweise vier- bis sechsjährigen Mädchen wirbelt in weißen Strumpfhosen mit Röckchen, dicken Strickpullovern oder wattierten Westen und warmen Wollhandschuhen übers Eis. Ich war selbst vor einigen Jahren eine von ihnen und weiß noch, wie sehr mich das Eislaufen von Anfang an in den Bann gezogen hat. Ich habe es geliebt zum Training zu gehen und auch wenn es im Laufe der Pubertät zeitweise eine Art Hassliebe zwischen dem Sport und mir war, bin ich froh, dass ich die Chance bekam, mein Hobby zum Beruf zu machen.

Eislaufen ist mit viel Schmerz und vielen Entbehrungen verbunden, so sehr ich diesen Sport liebe, so sehr habe ich ihn auch schon verflucht, und trotzdem habe ich es nie lange ohne ausgehalten. Ich brauche es, meine Gefühle durch meine Choreographien ausdrücken zu können und für diese Stunden voller Konzentration meine Gedanken in den Hintergrund schieben zu können. Wenn die Musik erklingt und ich anfange mich zu bewegen, zählt nichts anderes mehr. Außerdem ist es das, was ich am besten kann und manchmal habe ich das Gefühl, es ist auch das einzige, was ich richtig gut kann.

"Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?", erklingt die Stimme einer freundlichen Frau Mitte dreißig neben mir. Ihre blonden Haare sind zu einem Dutt zusammengebunden, sie trägt auch Schlittschuhe, eine schwarze Leggings und einen schwarzen Rollkragenpullover. Sie ist sehr schlank und ihre grazile Körperhaltung verrät mir auf den ersten Blick, dass sie bereits seit vielen Jahren auf dem Eis steht oder stand.

"Ja, gerne", antworte ich lächelnd. "Ich wollte mir gerne die Halle ansehen. Wenn sie noch freie Slots haben, würde ich gerne ab und an für die nächsten Wochen hier trainieren", erkläre ich ihr mein Anliegen.

Sie streckt die Hand aus. "Katharina Berger." "Liyanah El-Habib", antworte ich und schüttele ihre Hand kurz.

Für einen Moment wirkt sie nachdenklich und mustert mich kurz. "Der Name sagt mir was. Helfen sie mir bitte auf die Sprünge. Woher kenne ich Sie?"

Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen. "Weiß ich nicht. Vielleicht haben wir uns mal auf einem Wettbewerb gesehen oder so?", schwindele ich. Ich mag es nicht, mich direkt mit meinen Titeln zu profilieren. Ich suche sowieso weder einen neuen Verein noch einen neuen Trainerstab, ich will einfach nur ein bisschen für mich selbst laufen um nicht einzurosten.

"Hm, vermutlich. Dann müssen Sie aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, wenn ihr Name mir was sagt, so viele Mädchen wie ich schon auf dem Eis gesehen habe. Vielleicht komme ich ja noch drauf. Wie auch immer. Wir haben schon noch freie Slots, wollen sie denn einfach nur Hallenzeit oder brauchen Sie auch einen Trainer?"

"Erstmal brauche ich nur Hallenzeit. Falls ich fest nach Stuttgart ziehe, könnte sich das allerdings ändern", informiere ich sie vorsichtig.

"Wo wohnen Sie denn jetzt?"

"Eigentlich in München, aber ich bin jetzt für einige Zeit bei .." Ich schlucke kurz und kann kaum glauben, dass diese Worte wirklich meinen Mund verlassen. ".. meinem Freund in Stuttgart."

"Okay." Sie nickt mir kurz zu. "Ich kann Ihnen ja erstmal die Halle zeigen und wenn Sie möchten, können Sie gleich danach eine Probeeinheit absolvieren. Die Mädchen trainieren jetzt noch eine halbe Stunde und danach ist eh erst in zwei Stunden wieder Training." "Perfekt. Das klingt super."

Ich folge Katharina Berger durch die Halle. Sie zeigt mir die Umkleiden und die Duschen, den Balletsaal und die Mensa. Zwar gibt es hier im Gegensatz zu meinem alten Trainingszentrum weder eine Sauna noch ein Schwimmbad, doch auf diesen Luxus kann ich gut und gerne verzichten. Die Halle ist gepflegt, die Leute die uns bis dato begegnet waren nett und alles notwendige ist vorhanden.

"Ich trainiere hier die Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren", erzählt sie als wir unseren Rundgang beendet haben.

"Dann haben Sie ja eine große Aufgabe. Das ist eine wichtige Zeit, da entwickelt man die grundlegendsten technischen Fertigkeiten. Was man als Kind oder Jugendliche nicht lernt, wird danach schwer aufzuholen." Überrascht sieht sie mich an. "Das sage ich meinen Schülerinnen auch immer! Wie lange machen Sie denn schon Eiskunstlauf?"

"Seit ich vier Jahre alt bin", erkläre ich mit einer gehörigen Portion Stolz in der Stimme.

"Das ist wirklich eine lange Zeit. Dann bin ich gespannt, Sie gleich auf dem Eis zu sehen."

Ich hole meine Trainingstasche aus meinem Auto und ziehe mich in aller Seelenruhe in einer der Umkleidekabinen um. Ich ziehe eine schwarze Leggings und ein enganliegendes graues Wickeloberteil. Außerdem ziehe ich Stulpen über meine Waden und ein Stirnband über meine Ohren bevor ich in meine weißen Schlittschuhe schlüpfe und sie mit einigen geübten Handgriffen zuschnüre. Es fühlt sich gut an, sie endlich wieder zu tragen und ich kann es kaum abwarten gleich auf dem Eis zu stehen.

Ich stecke mir noch mein iPhone in die Tasche meiner Leggings und nehme meine Airpods und eine Flasche Wasser mit, bevor ich meine restlichen Sachen in einen freien Spind schließe und in die Halle laufe.

An der Bande der Eislaufbahn dehne ich mich zum Aufwärmen ausgiebig bis die Mädchen allesamt das Eis verlassen und die Eisfläche freigeben. Ich mache mir meine Trainingsplaylist an, stecke mir die Airpods in die Ohren und betrete das Eis.

Zuerst drehe ich einige Bahnen um ein Gefühl fürs Eis zu bekommen, bevor ich anfange die einfachen Grundfiguren wie Axel, Lutz, Rittberger und Salchow zu springen. Es dauert nicht lange, bis ich wieder voll in meinem Element bin und kompliziertere Verbindungssprünge und Sprungkombinationen, Piroutten und Schrittfolgen auf dem Eis stehe.

Als das passende Lied angeht, laufe ich eine meiner Trainingsküren und ende atemlos nach einem dreifachen Axel mit in die Luft gestreckten Armen.

Als ich aufschaue, sehe ich in sechs funkelnde Augenpaare, die mich begeistert anstarren. Es sind einige der kleinen Mädchen, die vor mir trainiert haben. Ich stoppe die Musik und ziehe mir die Kopfhörer aus den Ohren, bevor ich auf sie zu gleite.

"Hat es euch gefallen?", frage ich die Mädchen lächelnd, die daraufhin eifrig nicken und alle wild durcheinander plappern. Mittlerweile sind sie schon umgezogen und tragen ihre Straßenschuhe und Jeanshosen. Eine sieht bezaubernder aus als die nächste und ich weiß nur zu genau, wie sie sich gerade fühlen.

Damals hat nach mir auch immer eine Erwachsene trainiert, die ich aus ganzem Herzen angehimmelt habe. Sie sah so grazil und elegant aus, hat ehrgeizig ihre Elemente bis zur Vollkommenheit perfektioniert und ich wollte unbedingt so werden wie sie.

"Wenn ihr viel übt, werdet ihr bestimmt auch mal so gut wie Liyanah", ertönt Katharinas Stimme hinter den Mädchen. Verlegen lächele ich sie an.

"Wenn Sie Musik für mich haben, kann ich den Mädchen gerne noch was zeigen", biete ich lächelnd an.

"Na klar, irgendwelche Wünsche?", fragt sie mich.

"Wie wäre es mit《Comptine d'une autre été》?", schlage ich vor. Es ist der Song aus dem Film "Die fabelhafte Welt der Amelie", ein Klassiker im Eislauf und von mir selbst als Kind mal bei einer Meisterschaft gelaufen.

"Natürlich", gibt Katharina grinsend zurück. Das Stück ist für den Eiskunstlauf vermutlich das, was der Flohwalzer für Klavierspieler ist.

Ich habe zwar keine feste Choreographie im Kopf und muss ein bisschen improvisieren, aber ich freue mich darauf, den Mädchen etwas vorführen zu können.

Ich gleite in die Mitte der Eislaufbahn und bringe mich in Position. Als die ersten Noten des Stückes erklingen, schaltet mein Kopf sich aus. Ich denke nicht mehr darüber nach, was ich tue. Ich lasse mich von der Musik leiten, bewege meinen Körper im Takt der Klänge und gebe mich dem Stück völlig hin.

Als nach gut drei Minuten die Musik verstummt, komme ich vor den Mädchen zum Stehen und verbeuge mich vor ihnen. Sie strahlen um die Wette und applaudieren mir begeistert. "Danke", sage ich lächelnd.

"Nicht schlecht", lobt Katharina mich anerkennend.

"Danke", erwidere ich erneut.

"Na los, Mädchen, eure Mütter wundern sich bestimmt schon, wo ihr bleibt", fordert sie die Mädchen auf und klatscht in die Hände. Sie verabschieden sich noch von mir und tippeln dann aufgeregt aus der Halle.

"Was für zauberhafte Mädchen", sage ich und schaue ihnen einen Moment lang nach.

"Wieso haben Sie mich nicht aufgeklärt?", fragt Katharina plötzlich und sieht mich mit strengem Blick an.

"Was meinen Sie?", frage ich irritiert.

"Sie hätten mir ruhig sagen können, dass ich Ihren Namen daher kenne, dass Sie sämtliche Meisterschaften im Jugendbereich inklusive diverser Weltmeistertitel gewonnen haben", erklärt sie anklagend.

"Tut mir leid, ich profiliere mich nur nicht gerne damit", rechtfertige ich mich und umrunde die Bande um einen Schluck zu trinken.

Katharina setzt sich auf die Bank und sieht mich ernst an. "Wieso gehen Sie aus München weg? Sie trainieren in einem hervorragenden Trainingszentrum, da können wir hier nicht mithalten."

"Es hat private Gründe. Ich weiß auch nicht, ob ich noch Leistungssport betreiben will. Ich denke nicht, dass ich dieses Jahr an den Wettkämpfen teilnehmen werde, dafür ist mein Trainingsdefizit zu groß. Ich will nur das Eislaufen nicht ganz aufgeben, wissen Sie. Deshalb suche ich eine Halle, wo ich ab und an ein bisschen laufen kann", erkläre ich ehrlich.

"Dass das verschwendetes Talent wäre, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Aber wenn man Eiskunstlaufen nicht mit Leidenschaft macht, bringt es auch nichts. Es wäre uns eine Freude, wenn Sie hier trainieren." Sie hält mir ihre Hand hin.

Lächelnd schlage ich ein. "Vielen Dank für diese Chance, Katharina. Ich freue mich sehr." 

________________________________

Meine Lieben,

Gibt es zufällig jemanden von euch, der Eis läuft? 🥰

Ich wünschte ja, ich hätte auch so ein Talent..

A.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top