46.

Am nächsten Morgen frühstücken Abbas und ich gemeinsam im Wohnzimmer, als er plötzlich sagt: "Lilli, weißt du eigentlich was wir heute für ein Datum haben?"

Ich überlege kurz und frage dann irritiert: "Den 25. September, wieso?" "Weil du in genau einer Woche Geburtstag hast und 20 wirst, deshalb", erklärt mein große Bruder.

"Oh man", erwidere ich nur. Bei all dem Trubel ist mir das total untergegangen.

"Also gehe ich mal davon aus, dass du dir noch nicht überlegt hast, was du machen willst, richtig?, hakt Abbas nach.

Ich nicke nur. "Wie praktisch, dass dein Freund da eine gute Auswahl an Locations hat", entgegnet er lachend.

"Ja, stellt sich nur die Frage, ob Mandalay oder W. Infinity ist eh zu groß", überlege ich laut.

"Wen willst du denn alles einladen?", fragt er neugierig. Ich zähle einige Namen auf.

"Also ich bin für's W", sagt er dann. "Das ist schließlich dein 20. Geburtstag und den müssen wir feiern."

"Ich rede gleich mal mit Walid. Ich fahre zum Infinity, er ist heute da", antworte ich.

Eine gute Stunde später stoße ich schwungvoll die schwere Eingangstür des verlassenen Clubs auf und rufe fröhlich: "Besuch ist da!"

Sofort kommt ein junger Mann angelaufen und erklärt eben engagiert wie höflich: "Es tut mir leid, wir haben leider geschlossen, wir öffnen erst heute Abend ab 21 Uhr wieder."

"Ich weiß, ich will zu Walid. Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?", frage ich ihn freundlich.

"Oh, Verzeihung. Er ist oben im Büro", antwortet er verlegen. Ich bedanke mich und laufe die Treppen hoch.

Ich klopfe an die geschlossene Tür und werde sofort darauf herein gebeten. Walid sitzt an seinem Schreibtisch vor seinem MacBook und sieht erfreut auf, als ich herein komme. "Baby, was machst du denn hier?", fragt er lächelnd.

Ich schmiege mich an ihn und sage: "Ich habe ein Anliegen. Ich habe ja nächste Woche Geburtstag und werde 20 und wollte dich fragen, ob ich in einem deiner Clubs eine kleine Party veranstalten kann?"

"Du hast Geburtstag?", fragt er erstaunt. "Das hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Natürlich kannst du bei mir feiern. Am besten im W, oder? Das ist nicht zu groß aber ein bisschen feierlicher als das Mandalay."

Ich nicke zustimmend. "Ja, das habe ich auch schon überlegt." "Schatz, sag mir einfach wie viele Personen du einlädst und ich organisiere alles, okay? Ich kümmere mich um die Planung, die Deko und alles, das ist ja schließlich mein Job."

Zufrieden sage ich: "Das wäre wirklich lieb von dir, aber nur, wenn du die Zeit dazu hast." "Schatz, ich habe dir das doch schon oft genug erklärt: Zeit habe ich grundsätzlich nie, aber die nehme ich mir für Dinge, die mir wichtig sind", erwidert er.

Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange: "Danke Baby. Ich freue mich schon."

Walid fragt mich lächelnd: "Ich muss jetzt eben noch was fertig machen, wollen wir gleich zusammen Mittagessen gehen? Ich lade dich ein, wohin du willst."

"Gerne." "Okay. Ein Kunde von uns will ein Event im Infinity veranstalten und hat um einen Kostenvoranschlag gebeten. Ich muss das mal eben durchrechnen und verschriftlichen, dann können wir los. Du kannst gerne hier bleiben, aber ich muss mich konzentrieren", erklärt er mit strengem Blick.

Ich nicke und setze mich schweigend auf die Couch. Ich finde seine Chef-Allüren richtig sexy. Er hat was auf dem Kasten und ist nicht nur "der Sohn von". Im Gegensatz zu mir.. Ich werde jetzt 20 Jahre alt und habe noch nicht wirklich was erreicht. Die ganzen Jungs waren in meinem Alter schon selbstständig.

Klar, ich bin im Eiskunstlauf erfolgreich und mehrfache Landes- und deutsche Meisterin.

Wenn die Leute von mir reden, bin ich trotzdem meistens nur die kleine Schwester von Abbas, die einzige Tochter von Ibrahim oder seit neuestem auch die hübsche Freundin von Walid.

Irgendwie nervt mich das und ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach etwas anderes mit meinem Leben anzufangen und je näher mein Geburtstag rückt, desto mehr manifestiert sich der Wunsch.

Auf dem Weg zum Infinity habe ich mit meinem Vater telefoniert, der sich für nächste Woche angekündigt hat. Er möchte mich anlässlich meines Geburtstags sehen. Ich habe mir vorgenommen, dann mit ihm über meine Pläne zu reden und seine Meinung einzuholen.

Das monotone Klackern der Tastatur verstummt und Walid sieht hinter seinem MacBook hervor. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit regungslos da saß und Löcher in die Luft starrte. "Träumst du?", fragt er mich neckisch. "So ähnlich", antworte ich lachend.

Walid klappt das MacBook zu. "Ich bin jetzt fertig. Komm, lass uns essen gehen und auf dem Weg erzählst du mir, wo du gerade mit deinen Gedanken warst."

Ich setze mich auf den Beifahrersitz und er startet den Motor. Er streicht mir liebevoll durchs Gesicht, bevor er los fährt, legt dann seine Hand auf meinen Oberschenkel und fragt: "Lilli, was ist los? Du bist heute total in dich gekehrt. Was beschäftigt dich?"

"Ach weißt du.. Ihr alle habt schon in jungen Jahre so viel erreicht und eure eigenen Läden hochgezogen. Du und Zeyd, ihr habt eure Clubs, Momo ist Steuerberater, Younes und sein Bruder haben die Werkstätten, Abbas hat seine tausend Handy-Läden, Malik das Restaurant und bald ein zweites.. Und ich? Ich sehe hübsch aus. Ich habe nichts erreicht. Ich werde jetzt zwanzig und ihr alle wart in dem Alter viel weiter als ich."

"Das stimmt nicht, Lilli. Dein Fokus lag in den letzten Jahren auf anderen Bereichen und dort hast du was erreicht. Mach dich nicht kleiner als du bist", ermahnt er mich liebevoll.

"Ja schon, aber ich würde gerne mehr erreichen. Ich würde gerne was sinnvolles machen, was mit Zukunft", spreche ich meine Gedanken laut aus.

Er streichelt liebevoll über mein Bein und fragt interessiert: "Okay, und was schwebt dir da vor?"

"Ich würde gerne studieren. Im Januar beginnt das Wintersemester, da könnte ich vielleicht einsteigen."

"Dann mach das doch, Schatz. Ich stehe hinter dir. Was willst du denn studieren?", fragt er mit Blick auf die Straße.

"Jura", murmele ich verlegen. "Ehrlich?", fragt Walid überrascht.

"Ja. Ich fand den Job meines Vaters schon immer faszinierend. Es beeindruckt mich, dass er Leuten hilft, sie verteidigt und zumindest ein Stück weit dazu beiträgt, dass Gerechtigkeit in der Welt herrscht", erkläre ich ihm.

"Was hält dich auf? Wieso zweifelst du noch?", hakt er nach.

"Vier Semester Grundstudium, dann das Hauptstudium, dann drei praktische Studienteile und schließlich noch die zwei Staatsexamen. Das ist nicht nur schwierig, es dauert auch ziemlich lange."

"Ja und? Du bist nicht mal zwanzig. Wenn nicht jetzt, wann dann? Besser du versuchst es, als wenn du dich dein ganzes Leben lang fragst, was gewesen wäre, wenn. Du hast das Glück, finanziell unabhängig zu sein. Nutz das. Und wenn du fertig bist, wirst du von den Kontakten und dem guten Ruf deines Vaters profitieren und schneller als andere einen Fuß auf den Boden kriegen", motivierte Walid mich.

Ich lege meine linke Hand auf seine. Er hat den Wagen mittlerweile auf dem Parkplatz eines chinesischen Restaurants geparkt. Ich sehe ihm tief in seine hübschen honigbraunen Augen und streichele ihm liebevoll über seine Wange. "Danke, Walid. Ich schätze, ich sollte das wirklich versuchen. Danke, dass du mich immer unterstützt. Das ist nicht selbstverständlich."

Walid hat mich aufgebaut und motiviert und ich fahre guter Laune nachhause, doch das ändert sich schlagartig, als ich nachhause komme und Momos schwarze Merdeces E63 Limousine in der Einfahrt stehen sehe. Dass Momo unangekündigt zuhause auftaucht kann nichts Gutes bedeuten.

In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß. Mein Magen dreht sich und mir wird schlagartig übel.

Hastig schmeiße ich die Autotür zu und laufe mit schnellen Schritten zur Tür. Ich krame meinen Schlüssel aus meiner Tasche, schließe mit zittrigen Händen die Tür auf und stürme ins Wohnzimmer.

Als ich Abbas und Momo sehe, verschlimmert sich mein Gefühl. Momo sitzt auf der Couch und hat sein Gesicht in seinen Händen vergraben. Sein teurer schwarzer Anzug ist zerknittert, sein Hemd halb geöffnet und seine Krawatte hängt lose um seinen Hals.

Als ich die Tür zustoße, schreckt er hoch. Seine Haare sind zerzaust und seine Augen zieren tiefe Schatten.

Abbas tigert durch das Wohnzimmer. Er läuft auf und ab und als er mich sieht, erstarrt er zur Salzsäure. Seine Augen sind gerötet und er sieht verheult aus. Der Kloß in meinem Hals wächst immer weiter und schnürt mir die Luft ab.

Ich lasse meine Tasche achtlos auf den Boden fallen und frage mit zitternder Stimme: "Was ist passiert?"

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