24.

Nach einigen Metern halte ich noch immer völlig außer mir am Straßenrand an. Ich habe meine Sachen überstürzt gepackt und bin abgehauen ohne zu wissen, wohin.

Ratlos wähle ich Walids Nummer. "Hallo Schatz. Na, hast du schon Sehnsucht nach mir?", fragt er gut gelaunt.

Ich versuche meine Tränen zu unterdrücken und antworte mit brüchiger Stimme: "Ja Schatz, natürlich. Hast du zehn Minuten Zeit für mich? Können wir uns kurz treffen?"

"Zeit hab ich eigentlich nicht, aber die nehme ich mir für dich. Kannst du zum Mandalay kommen?", fragt er.

"Danke. Ich komme dahin", sage ich erleichtert.

Ich bin einmal mehr froh einen Menschen an meiner Seite zu haben, auf den ich mich verlassen kann. Früher war dieser Mensch immer Abbas, aber anscheinend haben sich die Zeiten geändert.

Am Mandalay angekommen steht Walid mit einem mir unbekannten Mann vor der Tür. Die beiden rauchen eine Zigarette und unterhalten sich angeregt.

Ich parke meinen Porsche auf einem Parkplatz direkt vorm Mandalay. Walid blickt zu mir und grinst mich an. Er verabschiedet sich mit einem freundschaftlichen Handschlag von dem Mann und kommt zu meinem Auto.

Da ich nicht aussteige, steigt er ein und setzt sich auf den Beifahrersitz. Er begrüßt mich mit einem Kuss, schaut mich an und stockt dann.

"Was ist los?", fragt er besorgt. "Abbas ist los", antworte ich knapp und versuche, mich zusammen zu reißen, was mir jedoch nur bedingt gelingt.

"Wie? Was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?", hakt er nach und nimmt sanft meine Hand.

"Gestritten? Kann man so sagen. Abbas kam nachhause und hat mich gefragt, ob ich ein Problem mit Shirin hab. Dann gab ein Wort das andere. Er warf mir vor, eifersüchtig zu sein, weil sich nicht mehr sein ganzes Leben um mich dreht und dass ich ein Problem damit hätte, dass sie nicht reich ist. Er hat total den Scheiß von sich gegeben und mich am Ende vor die Wahl gestellt: entweder akzeptiere ich sie oder er braucht mich nicht mehr in seinem Leben."

Walids Augen weiten sich. "Was hat er gesagt? Das kann doch nicht sein Ernst sein. Und was hast du dazu gesagt?", fragt er aufgebracht.

"Ich habe ihm natürlich gesagt, dass das nicht stimmt und dass ich nicht eifersüchtig bin. Ich habe ihm gesagt, dass sie einfach nicht gut für ihn ist und ihn nur ausnimmt, und dass er etwas besseres verdient hat. Er hat diese fremde Frau vor mich gestellt, Walid. Er hat mich nicht aufgehalten, als ich gegangen bin. Wir waren immer eins. Ich meine, wir haben ja auch nur uns. Wir sind ja im Prinzip die einzige Familie, die wir haben. Unsere Mutter ist tot, unser Vater lebt im Ausland, genau wie Momo. Stell dir mal vor Zeyd würde sowas sagen. Wir waren Mitbewohner, Geschwister, Familie, beste Freunde. Er ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und dann verstößt er mich für eine geldgeile Hure, die er seit zwei Wochen kennt", sage ich so schnell, dass sich meine Stimme immer wieder überschlägt.

Walid nimmt mich in den Arm und zieht mich an sich. "Das tut mir leid Schatz, ehrlich. Wenn du willst, rede ich noch mal mit Abbas."

"Nein, das brauchst du nicht. Er wird es nicht verstehen, Walid. Er muss erst richtig auf die Fresse fallen um zu merken was sie für ein durchtriebenes Miststück ist und dass er mir unrecht getan hat."

"Okay, ist deine Entscheidung. Da du jetzt obdachlos bist, frage ich dich förmlich: Möchtest du vorübergehend oder am besten für immer bei mir einziehen?"

Trotz Tränen in den Augen musste ich lachen. Obdachlos. Dank meines eigenen Bruders. Eigentlich ziemlich traurig.

"Danke. Sehr gerne. Ich wusste auch echt nicht, wo ich jetzt hin sollte. Das ist mir aber erst aufgefallen, als ich schon mit meiner Tasche los gefahren bin", gebe ich zu und muss über mich selbst lachen.

Walid lacht mit und sagt: "Ach komm. Wie kannst du nicht wissen, wohin. Du kannst immer zu mir kommen. Du bist immer willkommen."

"Willst du nicht erstmal Zeyd fragen, ob das okay für ihn ist? Ich kann auch immer noch zu Kitty oder in Leos Wohnung, der ist eh nie da", frage ich. 

Walid nimmt mein Gesicht in seine Hände und schiebt es sanft hoch, sodass ich ihm in die Augen sehen muss. Dann sagt er liebevoll, aber bestimmt: "Hör mir jetzt genau zu. Das kommt nicht in Frage. Du bist meine zukünftige Frau und wirst bei niemand anderem wohnen. Und Zeyd brauche ich nicht fragen, das ist selbstverständlich. Er hat dir letztens selbst gesagt, dass er dich behandeln wird, wie seine eigene Schwester."

Ich schaue tief in seine honigbraunen Augen und anstatt ihm zu antworten, küsse ich ihn. Ich hole tief Luft und sage ganz leise: "Ich liebe dich, Walid."

Es ist das erste Mal, dass ich diese Worte ausspreche. Sein kantiges männliches Gesicht wird ganz weich und seine schönen Augen funkeln.

"Ich liebe dich auch, Lilli", antwortet er dann und küsst mich innig.

Als wir uns wieder voneinander lösen sagt Walid: "Aber Lilli, einen Haken hat die Sache. Meine Eltern kommen doch morgen und wohnen für zwei Wochen bei uns. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich."

Ich schlucke. "Also für mich ist das kein Problem, aber ist das kein Problem für deine Eltern? Die kennen mich gar nicht und dann wohne ich plötzlich bei euch und das auch noch ohne Hochzeit", gebe ich zu bedenken.

"Nein, du Doof. Das ist Zeyds und mein Haus. Und Shayans. Nicht ihres. Sie sind es gewohnt, dass wir hier unser eigenes Leben führen mit unseren Clubs und allem", beruhigt er mich.

"Und was ist, wenn sie mich nicht mögen?", frage ich nun. "Darüber denke ich gar nicht nach. Ich kenne niemanden, der dich nicht mag, mein Engel."

Als ich hierher gefahren bin, war ich wütend und verletzt, aber Walids liebevolle Art und seine warmen Worte machen alles erträglicher.

Ich fühle mich nicht mehr so verzweifelt und freue mich sogar ein bisschen darauf mit den Jungs zusammen zu wohnen.

"Lass uns bitte reingehen, ich muss noch was erledigen. Du trinkst was und kommst zur Ruhe und ich rufe Zeyd an, damit er dir einen Schlüsselbund von uns bringt, okay?", bittet Walid mich.

Der Laden ist wie immer rappelvoll. Ich lasse meinen Blick durch die Menschen schweifen und stocke, als ich Younes' Gesicht zwischen den anderen Gästen erblicke.

Younes sitzt an einem Tisch mit einem etwas älteren Mann, den ich noch nie gesehen habe. Er lächelt mich an, als er mich sieht und begrüßt mich mit einem Kuss auf die Wange.

Den Mann neben sich stellt er mir als Selim vor und erklärte mir, dass er ein Geschäftspartner von ihm sei. "Meine kleine Schwester Lilli", erklärt er und erwärmt damit mein Herz.

Ich gebe Selim höflich die Hand und Younes rückt mir einen der weißen Sessel zurecht auf dem ich Platz nehme.

"So so, die Frau des Chefs sieht nach dem Rechten, oder was machst du hier?", fragt er grinsend. "So ähnlich", antworte ich und versuche ihm auszuweichen. Er sieht mich mit strengem Blick an. "Was ist los?"

Ich erzähle ihm in Kurzfassung von dem Streit mit Abbas wegen Shirin und dass er mich vor die Wahl gestellt hat Shirin zu akzeptieren oder aus seinem Leben zu verschwinden. Und ich erzähle ihm auch, dass ich daraufhin meine Sachen gepackt habe und nun erstmal bei Walid schlafen werde.

Younes sieht mich ernst an und sagt dann nüchtern: "Willkommen im Club."

Ich schaue ihn fragend an und er erzählt: "Das Gleiche hat er mir letzte Tage auch schon gesagt. Er hat mir davon erzählt was sie alles unternehmen und dass er natürlich alles zahlt. Letzte Tage haben die beiden mich zu Gucci begleitet, weil ich mir Schuhe kaufen wollte. Eigentlich war ich nur mit Abbas verabredet, aber er hat sie mitgeschleppt. Geschenkt. Shirin hat natürlich sofort Schuhe gesehen, die sie toll fand. Abbas wollte ihr eine Freude machen und ihr die Schuhe kaufen. Weißt du, was sie dazu gesagt hat? Dass sie ja dann noch die passende Tasche dazu bräuchte. Wie kann man nur so frech sein? Ich habe Abbas direkt auf Arabisch gesagt, dass sie undankbar und respektlos ist und er ihr bloß nichts kaufen soll. Was soll ich dir sagen - hat er natürlich doch.

Am nächsten Tag hat er mir gesagt, dass er auf so einen Freund wie mich verzichten kann. Wenn ich seine Freundin und die Beziehung nicht akzeptiere, soll ich mich verziehen. Wir kennen uns, seit wir Kinder sind, wir sind aufgewachsen wie Brüder. Wir haben alles zusammen erlebt und wegen so dieser Bitch kündigt er mir die Freundschaft? Keine Ahnung was sie ihm einredet, aber ich hab langsam das Gefühl, sie ist der Şeytan persönlich."

Ich bin geschockt. Younes ist Familie. Wie kann Abbas so mit ihm umgehen?

"Das tut mir leid, Younes. Ich erkenne Abbas auch nicht mehr wieder. Ich denke, er muss erst richtig auf die Schnauze fallen, damit er wieder klar sieht. Das Einzige was wir tun können ist abwarten, dass er die Wahrheit erkennt und dann wieder bei uns ankommt. Und dann müssen wir da sein und ihn auffangen. Ich werde auf jeden Fall da sein. Wirst du auch da sein? Oder kannst du ihm das nicht verzeihen?", frage ich ihn bedrückt.

"Doch, ich werde da sein. Wir haben uns damals geschworen, dass nichts und niemand zwischen uns kommt und daran halte ich mich. Ich hab auch schon Fehler gemacht, die er mir verziehen hat. Auch wenn er mich ehrlich gesagt sehr verletzt hat mit seinem Verhalten", gibt er zu. In seinem Gesicht erkenne ich deutlich wie verletzt er ist.

In dem Moment tritt eine weitere Person an unseren Tisch. Ich schaue auf und blicke direkt in Zeyds grinsendes Gesicht. "Hallo Mitbewohnerin", sagte er und zwinkerte mir zu.

Er zieht einen dicken Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und gibt ihn mir mit den Worten: "Bitte sehr, die Schlüssel zu den heiligen Hallen. Fühl' dich wie Zuhause."

Ich umarme ihn und sage: "Vielen Dank, Zeyd. Das ist wirklich sehr lieb von euch." Er schüttelt den Kopf und antwortet energisch: "Das ist selbstverständlich. Du bist Walids Freundin und damit immer willkommen."

Dann bietet Zeyd mir an: "Walid muss heute noch länger arbeiten. Willst du so lange hier auf ihn warten oder willst du mit mir nachhause kommen? Wir können einen Film schauen oder was zu Essen bestellen oder so."

"Im Kino?", frage ich begeistert. Er nickt. "Darf ich mich auch an eurem Snackautomaten bedienen?" Er nickt erneut und grinst. "Überredet!", verkünde ich überschwänglich.

Ich verabschiede mich von Younes und dann auch von Walid, der mir verspricht, so früh wie möglich nachhause zu kommen.

Zeyd und ich verbringen den Abend im Heimkino. Wir schauen einen Film, bestellen Pizza und plündern den Snackautomaten. Ich fühle mich fast wie bei Charlies Schokoladenfabrik.

Zeyd erzählt mir, wie glücklich Walid ist und wie ernst er es mit mir meint. Er sagt sogar, dass er seinen Bruder noch nie so glücklich gesehen hat. Ich finde es schön, das von seinem Bruder zu hören.

Es ist ein schöner Abend. Zeyd lenkt mich ab, bis ich mich gegen 23 Uhr von ihm verabschiede und in Walids Zimmer gehe. Ich schminke mich ab, putze meine Zähne und ziehe einen Pyjama an. Dann lege ich mich ins Bett, höre noch ein Hörbuch und schlafe schnell ein.

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