ZSM Der Kern der Tomate

Das hier ist eine Zusammenfassung/gekürzte Fassung für das vorige Kapitel für diejenigen, die es aufgrund der Triggerwarnung überspringen, aber nichts verpassen möchten :)

Alle, die das vorige Kapitel bereits gelesen haben, können diese Zusammenfassung natürlich überspringen!

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Mein Vater tigert ruhelos auf dem Schulflur auf und ab, während ich reglos auf einer Bank sitze und darauf warte, dass mein Klassenlehrer uns aufruft. Das ist das erste Eltern-Lehrer-Gespräch, das mein Vater führen muss, weil sie die Jahre zuvor freiwillig gewesen sind und meine Eltern immer gesagt haben, dass die Schule meine Verantwortung sei.

„Muss ich mich auf weitere Überraschungen einstellen?" Erschrocken sehe ich auf. Es ist das erste Mal, dass mein Vater mit mir spricht. Seit ich letzte Woche zu spät nach Hause gekommen bin, ignoriert er mich. Es war Zeugnisausgabe und er hat meins mit nur einem Wort kommentiert: „Scheiße." Und das ist alles, was ich seitdem von ihm gehört habe.

„Ich, was meinst du?"

„Warum will Herr Fransann mit mir reden?"

„Wegen dem Zeugnis", antworte ich ehrlich, aber unbeteiligt. Welche Antwort hat er denn erwartet? Die letzten Monate waren ein Auf und Ab gewesen und daran ist er nicht ganz unschuldig. Doch die versteifte Miene, mit der er mich ansieht, zeigt mir, dass er definitiv etwas anderes erwartet hat. Verdammt.

„Was noch?", seine Stimme ist leise, zischend. Nur die pulsierende Ader an seiner linken Schläfe zeigt, wie heftig es in ihm brodelt, bereit jeden Moment zu explodieren.

„Er wird dir sagen, dass ich mich in letzter Zeit nicht genügend auf den Unterricht konzentriert habe und öfter zu spät gekommen bin. Er will sicherlich nur wissen, wie es jetzt weitergeht", versuche ich ihn zu beruhigen. Seine bloße Anwesenheit sorgt für einen unangenehmen Schauer auf meinem Rücken. Er mustert mich von oben bis unten mit einem abschätzigen Blick.

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Katies Vater beleidigt Katie und sie glaubt, dass er recht hat.

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Herr Fransann ruft in dem Moment meinen Namen, in dem ich die Augen wieder öffne. Mein Vater schüttelt meinem Lehrer freundlich die Hand und in Gedanken habe ich die Superkräfte von King Kong, nehme ihn am Fuß und werfe ihn einmal quer durch den Raum. Ich seufze.

Dann lächele ich schüchtern Herr Fransann an, um mich verständnisvoll und schuldbewusst wegen meiner Schulsituation zu zeigen und setze mich an den Tisch.

„Katie, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich sagen soll. Du bist so eine gute Schülerin gewesen. Was ist denn passiert seit letztem Jahr?" Herr Fransann sieht mich mitleidig an und am liebsten würde ich einfach auf meinen Vater zeigen und sagen, ‚fragen Sie ihn doch', aber ich weiß, dass das zu keiner Lösung führen wird.

„Ich hatte einfach eine Menge Stress in letzter Zeit, aber ich bin sicher, dass ich das wieder hinbekomme." Er mustert mich einen Augenblick, dann seufzt er.

„Katie, das sind drei Fünfen, die du hier hast. Du weißt, dass du daher Anspruch auf Förderunterricht hast, wenn du möchtest?"

„Ich möchte keinen Förderunterricht, danke. Es ist überall eine Fünf Plus, ich bekomme das wieder hin."

„In dem Fall hätte ich dir am liebsten eine glatte Fünf gegeben, nur, damit du zum Förderunterricht musst, statt dich dafür freiwillig zu entscheiden."

„Ich schaffe das", wiederhole ich, ohne eine Miene zu verziehen. Herr Fransann hat recht, ich war eine gute Schülerin gewesen. Aber im Laufe des letzten Schuljahres haben sich die negativen Gedanken gesammelt und irgendwann habe ich keinen Sinn mehr darin gesehen. Nicht das Gefühl gehabt, es wert zu sein. Stattdessen habe ich mich in Arbeit vergraben, um Geld zu sparen, damit ich endlich aus diesem negativen Umfeld herauskomme. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, zu meiner Mutter zu gehen. Aber das Gespräch nach meinem Schüleraustausch war das erste und letzte seit der Trennung unserer Eltern.

„Gut", seufzt Herr Fransann. „Der Stress kann natürlich auch daher rühren, dass du neben der Schule Nachhilfe gibst. So ein Nebenjob übt vielleicht eine Menge Druck aus. Da muss man zu Hause vielleicht auch einfach mal abschalten, hm?" Er sieht mich fragend an und beinahe hätte ich aufgelacht. Ich habe drei Nebenjobs und jeder einzelne davon fühlt sich mehr wie ein zu Hause an als das Haus, in dem sich mein Zimmer befindet.

„Nein, nein. In keinem Fall", sage ich bestimmt und Herr Fransann nickt. Er hat keine weiteren Fragen und lässt uns nach wenigen Minuten gehen.

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Katie verletzt sich selbst.

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Dann lasse ich mich vor Erschöpfung ins Bett fallen und hoffe, dass ich nicht mehr aufwache.

Mein Wunsch wird nicht erfüllt und am nächsten Morgen mache ich Mousse au Chocolat für Tomate.

Valentinstag steht vor der Tür und obwohl wir kein Paar sind, haben wir niemanden, mit dem wir den Tag lieber verbringen wollen würden.

Zusätzlich lege ich drei kleine Cherry-Tomaten obendrauf. Natürlich passt das geschmacklich nicht zusammen, aber darum geht es mir schließlich nicht. Dann nehme ich noch eine normal große Tomate und male auf alle mit einem Edding Augen, Nase und Mund.

Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass Tomate mindestens eine halbe Stunde zu spät kommt, ganz egal, um wie viel Uhr man sich treffen möchte. Deshalb gebe ich mittlerweile immer die Uhrzeit eine halbe Stunde früher an und komme dann selbst eine halbe Stunde später, um nicht so lange warten zu müssen. Auch heute habe ich mich an diesen Plan gehalten und konnte ihn damit die letzten Wochen sehr gut austricksen, aber jetzt warte ich bereits eine Viertelstunde und von Bigfoot ist noch keine Spur in Sicht.

Gleich da" bekomme ich auch prompt die Nachricht von ihm und im selben Moment greift jemand von hinten um meine Taille und zieht mich zu sich heran. Vor Schreck hätte ich beinahe die Papiertüte mit dem Mousse au Chocolat fallen lassen. Aber diese starken Arme erkenne ich wahrscheinlich überall wieder und so drehe ich mich zu Tomate um, um ihm eine richtige Umarmung zur Begrüßung zu geben.

„Für dich", sage ich und halte ihm grinsend die Tüte hin.

„Was? Wieso das denn?" Überrascht nimmt er die Tüte entgegen und wirft einen Blick hinein. „Das hast du nicht gemacht." Ich kichere und hole die große Tomate aus meiner Jackentasche hervor.

„Ich habe dir deinen Doppelgänger mitgebracht." Stolz präsentiere ich ihm mein Kunstwerk und zeige auf die Tüte „Aber heute ist ein besonderer Tag, also habe ich dir auch ein paar kleine Geschwister besorgt." Bigfoot schnaubt, nimmt die Tomate aber entgegen.

„Du Nase." Ich rolle mit den Augen. Das sagt er immer, wenn er nicht fassen kann, was ich getan habe, sich aber gleichzeitig auch ein bisschen freut, sodass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann.

„Bitte schön." Tomate lacht, zieht mich dann aber in eine zweite Umarmung.

„Danke, Katie."

„Es ist sogar ein Löffel dabei." Mit diesen Worten stößt er mich regelrecht von sich weg und wühlt aufgeregt in der Tüte, bis er den Teelöffel findet, den ich hinzugelegt habe.

„Das ist doch nicht dein Ernst", grinst er mit funkelnden Augen.

„Doch klar, ich habe das nie zuvor gemacht. Ich muss doch wissen, ob es dir schmeckt", fordere ich ihn auf. Bigfoot nimmt eine große Portion Schokoladenmus und steckt sie sich genüsslich in den Mund. Seine Augen weiten sich.

„Das ist richtig gut, Prinzessin! Das beste Mousse au Chocolat, das ich je gegessen habe!" Innerlich klopfe ich mir auf die Schulter. Gestern war mir die Masse ein wenig zerronnen und ich hatte Angst gehabt, es nicht mehr richten zu können, aber Tomate scheint davon nichts zu bemerken.

„Was isst du denn da?" Mira hat sich uns geräuschlos genähert.

„Katie hat mir Mousse au Chocolat gemacht!" Tomate ist gerade dabei, sich einen weiteren Löffel zu genehmigen. Mira bedacht mich mit zusammengekniffenen Augen.

„Hat sie das, ja? Warum hast du mir nichts mitgebracht?"

„Ich wusste nicht, dass du welches wolltest", verteidige ich mich achselzuckend und ernte ein gespielt genervtes Augenrollen von Mira.

„Natürlich will ich auch was."

„Sorry, vielleicht gibt dir Tomate ja was ab", schlage ich vor, doch Bigfoot geht direkt einige Schritte von uns weg, um sein Glas vor Miras gierigen Blicken zu schützen.

„Oder auch nicht", schlussfolgere ich lachend.

„Was ist denn hier los?", fragt Ivan, der nun auch dazustößt.

„Tomate ist mal wieder egoistisch", erklärt Mira, während Ivan uns nacheinander umarmt.

Bigfoot kommt zurück zu uns, das leere Glas triumphierend in der Hand.

„Das war klasse, danke Katie."

„Neuer Look?", fragt Ivan und deutet auf das goldene Schloss um Tomates Hals, das er mittlerweile seit über einem Monat trägt. Seine schwarz gefärbten Haare hängen ihm ins Gesicht und er lächelt bei Ivans Frage.

„Sozusagen."

„Okay", Ivan dehnt das Wort, als wisse er nicht genau, was er davon halten soll. Dann sieht er zu Mira und mir, wie wir gleichzeitig mit den Schultern zucken.

Mira hakt sich bei mir unter, während wir den beiden Jungs zum Park folgen. Es ist zwar Valentinstag, aber die meisten von uns sind eher nicht darauf aus, diesen Abend in einem Restaurant zu verbringen. Stattdessen sind wir mit Flo und einigen anderen im Schlosspark zum Grillen verabredet. Obwohl ‚Grillen' wahrscheinlich nicht das richtige Wort dafür ist. Denn im Schlosspark gibt es einige Stellen, an denen es erlaubt ist, ein kleines Lagerfeuer zu machen. Natürlich hat Ivan deshalb Kohle mitgebracht, aber Mira und ich sammeln trotzdem ein paar Stöcke auf dem Weg.

Es ist noch ein wenig kühl, aber vereinzelt blicken Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und geben damit ein kleines Lichtkonzert aus Wärme auf dem Steinboden rund um die Feuerstelle.

Einige spielen Flunkyball, was Ivan direkt als Einladung nimmt, mitzumachen. Er sieht mich fragend an, aber ich schüttele lachend den Kopf.

„Wer verlieren will, hat mich im Team", grinse ich.

„Katie hasst Bier", erklärt Bigfoot, woraufhin ich ein erschrockenes Gesicht aller Beteiligten ernte, das aber schnell wieder verfliegt.

„Bleibt mehr für uns", antwortet Ivan achselzuckend und stößt mit den anderen aus der Gruppe an. Ich lege die gesammelten Stöcke neben die Feuerstelle, als ich meinen Namen höre. Flo's Lockenkopf sehe ich schon von Weitem, also laufe ich ihm entgegen. Seit der Geburtstagsparty im Bungalow habe ich ihn nicht mehr gesehen, aber ich weiß, dass seitdem viel bei ihm passiert ist. Bigfoot hat da einiges angedeutet. Deshalb setze ich mich mit ihm an die Feuerstelle und lasse ihn breitgrinsend erzählen.

„Und sie ist echt der Hammer in LoL. Hätte ich nicht von ihr erwartet."

„Wieso nicht?"

„Keine Ahnung, hab' bisher immer nur mit Typen gespielt", er zuckt mit den Schultern, was mich zu einem lächelnden Kopfschütteln verleitet.

„Apropos", sagt er dann, während Bigfoot sich uns nähert. „Wie lange wirst du das Schloss denn noch tragen, Tomate? Sollte deine Olle mit dem Schlüssel nicht längst das Schloss mal öffnen?" Mir bleibt der Atem weg, während ich auf seine Antwort warte. Tief im Innern hat mein naives Herz die Hoffnung gehabt, dass vielleicht doch ich es sein könnte, die den Schlüssel bekommt.

„Ja, dachte ich auch. Keine Ahnung." Überrascht sehen Flo und ich uns an, bevor wir wieder zu Tomate starren, der gelangweilt das Feuer anzündet, ohne den Blick davon abzuwenden.

Ich verfluche mein naives Herz dafür, mir solche Hoffnungen zu machen.

„Ich geh mal zu Mira rüber." Aber noch bevor ich annähernd bei Mira bin, die sich zu der Flunkyball-Gruppe gesellt hat, hält Tomate mich am Arm.

„Katie, alles okay?" Ich will mich nicht zu ihm umdrehen, weil ich weiß, dass er mein Gesicht wie ein offenes Buch lesen kann. Aber Tomate lässt mir gar keine andere Wahl, denn sein Griff wird ein wenig fester, damit er mich im nächsten Moment zu sich drehen kann.

Er sagt nichts, wartet, bis ich bereit bin zu reden. Aber was soll ich ihm denn sagen? Dass ich gehofft habe, er würde mir den Schlüssel geben? Den Schlüssel, der vielleicht symbolisch für sein Herz gedacht ist?

Wir sind in keinem Hollywood-Film, so sehr ich es mir auch wünschen würde, denn es würde wenigstens bedeuten, dass ich ein Happy End bekäme. Im Moment fühlt es sich aber eher so an, als würden mir die Augen ausgestochen werden, wie den bösen Stiefschwestern von Cinderella.

„Es ist...mein Vater", sage ich stattdessen, was nicht komplett gelogen ist, schließlich wäre mein Leben um einiges angenehmer ohne ihn. Blut ist dicker als Wasser am Arsch. Familie ist ein Wort für Menschen, mit denen man notgedrungen auf engem Raum leben muss, ganz egal, ob man mit ihnen klarkommt oder nicht.

Alle Menschen hier im Schlosspark fühlen sich mehr nach ‚Familie' an, als mein Vater in den letzten Monaten es je getan hat.

„Ist was Bestimmtes passiert?" Ich spanne den Kiefer an, um nicht sofort alles auf uns niederprasseln zu lassen. Der goldene Schimmer in Bigfoots Augen leuchten hell auf, als er mich zu sich in die Arme zieht.

„Er hat dich wieder beleidigt, oder?" Ich nicke in seinen Pullover hinein, während er mir sanft über den Rücken streicht. „Katie, du weißt, dass du ein wundervoller Mensch bist, oder?"

Seine Worte verursachen einen Kloß in meinem Hals, den ich beim besten Willen nicht herunterschlucken kann. Statt einer Antwort kann ich nur mit den Schultern zucken.

„Du bist der wundervollste Mensch, dem ich je begegnet bin. Manchmal ist es so surreal, dass ich denke, ich träume." Ich lache geknickt über seine Worte.

„Lachst du mich etwa gerade aus?" Er sieht zu mir herunter, sodass ich die Wärme, die von ihm ausgeht, auf meinem Gesicht spüren kann.

„Entschuldige", flüstere ich und streiche mir die Nässe von meinen Wangen. Tomate sieht durch mich hindurch, als würde er über etwas nachdenken, dann werden seine Augen wieder klar und fokussieren mich.

„Wenn es so schlimm mit deinem Vater ist, warum zieht ihr nicht zu eurer Mutter?"

„Sie wohnt in einer kleinen Zwei-Zimmerwohnung", weiche ich aus, aber Bigfoot lässt nicht locker.

„Na, wenn sie euch hat, würde sie sich sicher was Größeres suchen." Es ist verlockend, sich so eine Zukunft auszumalen, aber die Realität sieht anders aus. Ich habe meine Mutter verraten, ihr nichts von der Affäre meines Vaters erzählt. Sie wird mich bestimmt nicht bei sich haben wollen.

Ich löse mich aus seiner Umarmung und wir gehen ein Stück weiter weg von der Feuerstelle, drehen kleine Runden durch den Schlosspark, während wir weiterreden.

„Ich bin ein Papakind, schon immer gewesen. Als letztes Jahr klar war, dass sich unsere Eltern trennen, haben sie uns vor die Wahl gestellt, zu wem wir gehen."

„Das ist hart." Ich seufze. Es war wahrscheinlich die härteste Entscheidung, die wir treffen mussten.

„Ich habe Kilian gesagt, dass egal, wie er sich entscheidet, ich mit ihm gehe. Und ich auch die Entscheidung auf mich nehme, er sich absolut nicht schlecht fühlen muss, solange wir zusammenbleiben", erzähle ich und muss bei der Erinnerung daran schlucken. Die Sicht vor meinen Augen verschwindet, und wenn ich jetzt blinzele, werden die angesammelten Tränen herabfallen. „Aber er konnte es nicht."

„Welcher vierzehnjährige könnte das?"

„Dreizehn."

„Noch schlimmer. Mit dreizehn solltest du dich nicht zwischen deinen Eltern entscheiden müssen", er sieht mich eine Weile an, bevor er sagt: „und mit fünfzehn auch nicht." Ich hole tief Luft, um die Lippen zu einem schmalen Lächeln verziehen zu können.

„Ich hab's entschieden... und Kilian ist mitgegangen."

„Du hast dich für deinen Vater entschieden?" Tomate bleibt ungläubig stehen, holt dann aber wieder schnell zu mir auf, als er bemerkt, dass ich noch nicht bereit bin, stehen zu bleiben.

„Er war damals nicht so", wehre ich sofort ab, spüre, wie ich mich in eine Ecke gedrängt fühle, wie er über mich urteilt. „Mein Vater und ich waren super gut miteinander. Ich konnte mit ihm über alles reden. Und meine Mutter und ich, wir haben uns nur gestritten, einmal sogar gegenseitig geschlagen. Ich hätte es mit ihr nicht ausgehalten. Und sie auch nicht mit mir."

„Aber sie ist deine Mutter", erwidert er, wofür ich nur ein Schnauben übrig habe.

„Ja, in die Mutterrolle gedrängt, die sie nie wollte. Sie hat's versucht." Schulterzuckend lächle ich traurig, „es hat halt einfach nicht gereicht."

Ein seltsames dumpfes Pochen macht sich in meiner Magengrube breit. Ich frage mich, ob unsere Mutter keine Mutter sein wollte, nachdem wir auf der Welt waren oder bereits davor. Vielleicht sind wir indirekt schuld für ihre Distanziertheit uns gegenüber. Vielleicht hat sie sich mit der Mutterrolle nie anfreunden können, weil wir es ihr schwerer gemacht haben als nötig. Vielleicht war sie auch einfach nur überfordert mit zwei Kindern und einem Ehemann, der sich ebenfalls wie ein Kind aufführte. Ich beiße mir auf die Lippe, um den Hassgedanken gegen mich selbst zu kontrollieren. Wie habe ich nicht sehen können, was für ein Mensch mein Vater all die Zeit war?

Ich war immer nur seine perfekte kleine Tochter, der er alles erzählt hat, mit der er überall stolz geprahlt hat. Erst jetzt weiß ich, wie falsch das war. Ein Kind sollte niemals den Therapeuten für einen Elternteil spielen. Aber er hat mir alles Mögliche erzählt, einschließlich Einzelheiten des Sexlebens meiner Eltern. Ich wusste alles. Aber eben immer nur aus seiner Perspektive, die täglich gegen meine Mutter gehetzt hat. Sie hingegen kam jeden Abend spät von der Arbeit, nur um zu Hause noch den Haushalt und das Essen zu machen, während mein Vater mit uns vor dem Fernseher saß. Er hat sie in die Rolle der Bösen gedrängt und wir sind darauf hereingefallen. Oder besser gesagt, ich.

Tomate nickt abwesend.

„Und mein Vater wurde erst so aufbrausend, nachdem sie weg war...und seit Dodo eingezogen ist, lässt er absolut nicht mit sich reden, steht unter ihrer Fuchtel und gibt ihr und ihren Kindern alles, was sie will. Da sind Kilian und ich einfach im Weg."

„Sie hat Kinder?"

„Ja, drei. Aber die sind schon erwachsen. Naja, also so erwachsen wie du halt bist", ich boxe ihm leicht in die Seite, was ihn zum Lächeln bringt. Er legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich ein Stück zu sich heran.

„Gut, dass du Scherze machen kannst."

„Was bleibt mir auch übrig?" Wir seufzen beide, weil wir wissen, dass ich recht habe.

„Wie geht es Kilian damit?"

„Er ist nicht oft zu Hause und das ist gut so. Er war nie ein Papakind. Eher ein Mamakind, aber auch nicht so wirklich. Keine Ahnung, ist schwer zu sagen. Ich bin nur froh, dass er nicht so viel davon mitbekommen hat."

Ich sehe einen Moment zu Bigfoot, der stumm neben mir hergeht und bei dessen Schritt das Schloss leicht hin und her schwingt.

„Deine, also die, die das Schloss öffnen kann", beginne ich und überlege, wie ich die Frage am besten formulieren kann, ohne eifersüchtig zu klingen.

„Was ist mit ihr?"

„Also...hat sie den Schlüssel schon?" Ich nestele an meinem Shirtsaum herum und hefte den Blick darauf, um ihm nicht in die Augen zu sehen. Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird, und das ist das Letzte, was er sehen soll.

„Ja", antwortet er kurzgebunden, seine Stimme klingt gepresst, ein wenig verletzt. Aber bevor ich etwas erwidern kann, geht er in Richtung Feuerstelle zurück.

*

Am nächsten Morgen werfe ich einen Blick in meine blaue Schachtel, die hinter meinen Klamotten im Schrank versteckt ist. Tomate und ich tauschen zwar jedes Mal Briefe aus, wenn wir uns sehen. Aber die Briefe, in denen ich meine wirklichen Gedanken und Gefühle aufschreibe, die behalte ich, versteckt in meinem Zimmer. Irgendwann würde ich sie vielleicht herausholen und ihm geben, aber jetzt bin ich noch nicht so weit. Wir sind Freunde, das muss ich mir nur immer wieder sagen.

Das Gefühl, von dem ich dachte, dass es zwischen Tomate und mir existierte, ist wohl reine Einbildung gewesen. Von Misa habe ich vor einigen Tagen mitbekommen, dass Tomate sich wieder mit Jess trifft.

Ich muss meine Gedanken irgendwie zum Schweigen bringen, sonst denke ich nur daran, was die beiden wohl getrieben haben und das muss ich mir nun wirklich nicht bildlich vorstellen. Nein, danke.

Frustriert springe ich vom Bett auf und hole eine grüne Mappe heraus. Ich weiß, was ich tun muss, um auf andere Gedanken zu kommen.

Vor einigen Jahren habe ich alle Möbel in meinem Zimmer sowie das Zimmer selbst abgemessen und maßstabgetreu eine Zeichnung angefertigt. Ich brauche einen neuen Blickwinkel, ich brauche eine neue Anordnung meiner Möbel. Und es würde mich körperlich genug verausgaben, dass ich nachher müde ins Bett fallen würde.

Es ist besser als der Gedanke an die Klinge, die verschwörerisch von meinem Schreibtisch aufblitzt. Ich schüttele den Kopf.

Dann schiebe ich meinen Schreibtisch auf die andere Seite des Zimmers, um das Bett an die richtige Stelle zu bekommen. Bereits nach den ersten Minuten bilden sich Schweißperlen auf meiner Stirn, die mir mehr als alles andere vor Augen führen, wie schwach ich eigentlich bin.

Erschöpft lasse ich mich an meinem Bett niedersinken und atme einige Male durch, bevor ich den Kleiderschrank in Angriff nehme. Schreibtisch und Schrank müssen die Plätze wechseln, um genügend Licht auf den Tisch zuzulassen. Und als ich den Schrank von der Wand wegschiebe, fallen mir Karten, Spangen und Papierschnipsel entgegen, die in den letzten Monaten dahinter gefallen sind.

Ich halte den Atem an, als mein Blick auf etwas Glänzendes fällt.

Auf dem Boden liegt eine filigrane silberne Kette, an ihr ein kleiner silberner Schlüssel.

Irritiert nehme ich den Schlüssel in die Hand. Es ist nicht meiner, ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Aber die naive Stimme meines Herzens beginnt vor Hoffnung überzusprühen und auf und ab zu springen. Kann das sein?

Ich mache ein Foto und schicke es Bigfoot ohne eine weitere Nachricht. Innerhalb weniger Minuten klingelt mein Telefon.

„Du hast ihn gefunden!", erklingt seine fröhliche Stimme, in der ich ein Lächeln erkenne.

„Ja", ich lache nervös, weil ich nicht weiß, was genau ich antworten soll. Mein Herz pocht so laut, dass ich kaum etwas anderes hören kann, und gleichzeitig macht sich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend breit.

„Katie?"

„Du hättest ihn ruhig einfacher verstecken können", antworte ich tadelnd und führe fort: „Ich dachte, du schickst ihn per Post oder so. Wann hast du ihn bitte hinter meinem Schrank deponiert?"

„Hinter deinem Schrank?" Tomate lacht, fügt dann aber hinzu: „Ich habe ihn nur auf deinen Schrank gelegt. Vor zwei Wochen."

„Vor zwei Wochen?", meine Stimme klettert automatisch einige Noten höher und bringt Bigfoot zum wiederholten Lachen.

„Du räumst wohl selten dein Zimmer auf, was?"

„Wie denn auch, wenn ich die meiste Zeit bei dir bin?", kontere ich mit einem Grinsen.

„Nimm das nicht als Ausrede."

„Wann kann ich dich wiedersehen?", frage ich unverblümt, was Bigfoots Lachen sofort ersticken lässt. Er antwortet nicht sofort, scheint wohl die richtige Antwort abzuwägen, bevor er sagt: „Ich wäre ja sofort unterwegs, aber ich weiß, dass du morgen Schule hast. Also, danach?"

„Gern."

Bigfoot,

wir haben uns versprochen, uns niemals anzulügen, deshalb muss ich dir etwas sagen...und es fällt mir nicht wirklich leicht... Ich habe Angst...

Davor, was das Schloss bedeuten könnte. Ich habe dich unglaublich gern, du bist mein Seelenverwandter, verdammt! Aber ich bin erst sechzehn Jahre alt, was weiß ich schon von...

Lieber Bigfoot,

wann geben wir zu, dass wir mehr als nur Freunde sind? Wann sind wir bereit, diese drei Worte zu sagen?

Bigfoot,

ich habe mittlerweile das Gefühl, dich schon eine Ewigkeit zu kennen. Wenn ich daran denke, dass es nicht einmal ein halbes Jahr her ist, fühle ich mich jedes Mal, als seien wir verrückt, so gut, wie wir uns verstehen.

Aber deine Mutter hat Recht; für jeden Topf gibt es den passenden Deckel.

Übrigens hat mich meine Klasse gefragt, wer du bist, als du mich letztens von der Schule abgeholt hast. Ich habe dir das noch nicht gesagt, aber der Gedanke, dass du mich vom Unterricht abholst, ist momentan der einzige Grund, warum ich zur Schule gehe. Verrückt, oder?

Ich habe dich jedenfalls unglaublich lieb und ich hoffe, es bleibt für immer so!

Deine kleine Seelenverwandte, Katie

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