Willkommen zurück

Es wundert mich nicht, aber enttäuscht bin ich doch ein wenig, als ich nur meinen Vater am Flughafenausgang entdecke. Tomate hat sich seit einer Woche nicht mehr bei mir gemeldet ohne, dass ich weiß, warum das so sein könnte. In meinen naiven Gedanken wäre er jetzt hier gewesen, hätte sich für meinen Brief bedankt und mit mir zusammen abgehauen. Aber natürlich ist das kein Hollywood-Film, also steht da mein Vater und einige Meter entfernt entdecke ich sogar meine Mutter. Sie lächelt mir schüchtern zu und ich winke zurück.

„Dodo ist zu Hause, also egal, was ist, du musst deine Mutter davon abhalten, ins Haus zu kommen", sind die ersten Worte, die mein Vater an mich richtet und meine Laune somit noch tiefer drückt als sie sowieso schon ist. Amerika war wie eine Auszeit von einem stressigen Job, und jetzt erwartet einen all die Arbeit, die sich in den letzten Wochen aufgestaut hat. Ich umarme meine Mutter unbeholfen und sehe sie eine Weile an. Ganz egal, was in der Vergangenheit war, ich will nicht, dass sie so von der neuen Freundin meines Vaters erfährt. Ich will nicht, dass sie noch mehr leidet als jetzt schon. Ich weiß, dass ich nicht immer fair zu ihr war in den letzten Monaten und dass ich bei meinem Vater wohne, hat sie sichtlich mitgenommen, auch wenn sie es niemals zugeben würde. Also lächelt sie tapfer, nimmt mir eine Tasche ab und fragt: „Wie war der Flug?"

Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht sofort damit herauszuplatzen, dass Dodo ab sofort bei uns wohnt und mein Vater zu feige ist, mit meiner Mutter Klartext zu sprechen. Also schlucke ich meinen Ärger runter und zwinge mich zu einem Lächeln.

„Gut, ich habe die Nordlichter gesehen."

„Wow!" Ich lasse meinen Koffer stehen und gehe mit meiner Mutter einige Schritte voraus. Mein Vater kann sich ruhig auch mal die Hände schmutzig machen, wenn ich schon seine Drecksarbeit erledigen muss.

„Ich war mit meiner Gastfamilie in der Kirche und ich habe absolut nicht verstanden, was abgeht. Ich habe immer das Falsche gemacht oder gesagt und total viele böse Blicke kassiert", erzähle ich meiner Mutter von dem Moment, als ich statt das ‚Vater Unser' auf Englisch aufzusagen die amerikanische Nationalhymne angeträllert habe.

„Oh je, was hat deine Gastfamilie gesagt?"

„Die fanden es, glaube ich, nicht ganz so schlimm. Nur der Rest der Kirche war nicht wirklich begeistert." Meine Mutter nickt lachend.

Im Auto versuche ich innerhalb von zwanzig Minuten alle Ereignisse der letzten drei Wochen zu verpacken, damit meine Mutter alles weiß, ohne, dass sie mit ins Haus muss. Mit jeder Sekunde, die vergeht, fühle ich mich schlechter deswegen. Als mein Vater das Auto vor unserem Haus parkt, habe ich erst die Hälfte der Geschehnisse heruntergerattert wie ein Papierschredder auf Speed.

„Wir sollten reingehen. Katie, du bist doch sicher müde, oder?" Ich beiße die Zähne aufeinander und werfe meinem Vater den todbringendsten aller Todesblicke zu, den ich draufhabe, was ihn sofort zum Schweigen bringt.

„Ich bin tatsächlich etwas müde." Ich verlangsame meine Schritte, damit sich meine Mutter anpasst.

„Ach was, ich will alles hören", sagt sie und geht voraus. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie sie vor der geöffneten Eingangstür zurückschreckt und nach Luft schnappt. Dann schließt sie kurz die Augen und zwingt sich das gleiche Lächeln auf wie ich vorhin am Flughafen. Daher kann ich das also so gut. Ich sehe, wie mein Vater etwas sagt, höre es aber nicht wirklich. Alles, was ich hören kann, ist, wie das Herz meiner Mutter in tausend Teile zerspringt, als sie mir einen kurzen fragenden Blick zuwirft und ich betreten zu Boden schaue, weil ich ihr gekränktes Gesicht nicht ertrage.

„Ich bin Kristina", höre ich ihre Stimme und sehe noch rechtzeitig auf, um zu beobachten, wie sie der Freundin meines Vaters die Hand entgegenstreckt.

„Dorothea." Es ist einer der schlimmsten Momente in meinem Leben und es dauert nicht lange, bis sich meine Mutter mit einer schnellen, aber festen Umarmung von mir verabschiedet.

„Es tut mir leid", flüstere ich ihr ins Ohr und meine es auch so. Sie erwidert nichts, drückt mich nur noch fester zu sich heran.

„Also, wollen wir Kuchen essen?", fragt mein Vater mit einem Lächeln, als hätte er eben nicht auch gesehen, wie meiner Mutter das Herz rausgerissen wurde.

„Danke, nein", verabschiede ich mich auf mein Zimmer und wähle Tomates Nummer, aber es nimmt niemand ab.

Aus dem Wohnzimmer höre ich meinen Vater seine neue Freundin anbrüllen, was sie mindestens genauso laut zurückgibt, nur ist ihre Stimmlage um einiges höher. Erschöpft halte ich mir die Ohren zu, die Trennung meiner Eltern sollte genau das verhindern. Ich klopfe zweimal lang, zweimal kurz und einmal lang gegen meine Zimmerwand, auf dessen anderer Seite sich das Zimmer meines Bruders befindet, bekomme aber auch von ihm keine Antwort. Wahrscheinlich ist er noch in der Schule. Ist auch besser so. Die ganzen Streitereien setzen ihm noch mehr zu als mir und ich bin froh über jede Minute, die er nicht zu Hause verbringt. Meistens verschwindet er nach der Schule in der Bibliothek, macht seine Hausaufgaben dort und lernt oder geht zum Sport. Seit der Trennung versucht er sich im Boxen. Nicht die Sportart, die ich gewählt hätte, aber ich bin schließlich auch nicht er und wenn er seine Frustration so unter Kontrolle bekommt, ist das sicherlich gesünder als meine Methode.

Aus meinem Augenwinkel erkenne ich, wie sich etwas vor meinem Fenster bewegt. Wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich direkt zu Malte hinübersehen, der jetzt auf seinem Balkon steht und ein großes buntes Schild hochhält, auf dem ‚Willkommen zurück, Katie' steht. Ich grinse und er erwidert es doppelt so breit wie ich. Ich zeige zu mir, dann zu ihm und er nickt.

Obwohl Malte mein Nachbar ist, sehen wir uns nicht oft. Wir haben komplett unterschiedliche Leben, Prioritäten und Zeitpläne, sodass, wenn wir uns mal treffen wollen, wir es mindestens eine Woche vorher abstimmen müssen. Meistens kleben wir dann einfach Zettel an unsere Fensterscheiben, um einen passenden Termin zu finden, und wenn etwas Wichtiges ansteht, reicht ein großes Ausrufezeichen oder eben, wie in Maltes Fall, ein großes Willkommens-Schild.

„Hallo Weltenbummlerin", begrüßt er mich an seiner Tür. Er will alles von Chicago wissen, also fange ich von vorne an und erzähle ihm von den drei Filmen, die ich auf dem Hinflug gesehen habe, aber da unterbricht er mich schon: „Die neue Staffel von Game of Thrones ist da", grinsend hält er die Blu Ray hoch. Malte ist ein riesen Fan dieser Serie und hat bereits alle Bücher davon im Regal. Jetzt möchte er natürlich auch die passenden Blu Rays danebenstehen haben. Das war's dann wohl mit meinen Ereignissen von Chicago.

„Klar, mach sie rein."

Nach der ersten Folge backen wir gemeinsam Pizza, wobei wir eine Hälfte mit Salami und die andere mit Thunfisch belegen, um sie schlussendlich doch zu teilen.

„Wie läuft's?", frage ich mit vollem Mund und deute auf das Klavier in seinem Zimmer. Er ist ein begnadeter Klavierspieler und hat schon einige Wettbewerbe gewonnen, jedenfalls sagen das die Urkunden, die darüber hängen. Mir persönlich hat er noch nie vorgespielt. Aber manchmal höre ich ihn spielen, wenn ich an seinem Haus vorbeigehe und dann setze ich mich für einige Minuten auf die Stufen der Eingangstür, um den Klängen zu lauschen, wie seine langen Finger über die Tastatur gleiten. Er hebt kurz die Schultern.

„Wie immer, neuer Wettbewerb steht an, nichts Großes."

„Und wann spielst du mir mal vor?", necke ich ihn, weil ich die Antwort bereits kenne. Malte lacht.

„Niemals." Er schiebt sich ein weiteres Pizzastück in den Mund. „Wie läuft es zu Hause?", wechselt er das Thema, was ich mit einem Augenrollen und Stöhnen beantworte.

„So schlimm also?"

„Du hast ja keine Ahnung. Die bekriegen sich wie Nord- und Südkorea, streiten, schweigen, ignorieren, koexistieren und von vorn. Es ist kaum auszuhalten. Ich dachte immer, meine Mutter wäre diejenige, die die ganze Zeit Stress macht, weißt du? Und jetzt ist sie weg und es ist genauso wie vorher."

„Scheint wohl an deinem Vater zu liegen." Ich seufze.

„Offensichtlich."

„Warum streiten sie?"

„Pff, das ist ja das Lächerlichste an allem! Wegen Kleinkram! Welche CD gehört werden soll oder was eingekauft werden soll. Banalitäten!" Malte lacht ein hämisches Lachen, das ich ihm nicht verübeln kann.

„Und warum checkst du dein Handy alle zwei Minuten?" Ertappt von ihm halte ich in der Bewegung inne, bei der ich nach meinem Handy greifen wollte.

„Ich habe wen kennengelernt."

„Oho", er sagt das wie der Weihnachtsmann, dem ein Kind versichert, dass es ein gutes Kind in diesem Jahr gewesen ist und deshalb ein Geschenk verdient. Ich boxe ihm spielerisch in die Seite.

„Es ist nicht so. Es ist anders, in seiner Nähe fühle ich... mich zu Hause."

Es vergeht eine weitere Woche bis Tomate sich bei mir meldet. Er entschuldigt sich für seine Abwesenheit, obwohl ich es ihm nicht übelnehme, ich bin einfach nur froh, seine samtige Stimme wieder hören zu können.

„Solltest du nicht sowieso schon im Bett sein? Du hast morgen früh Schule, Sonnenschein."

„Ich kann nicht schlafen", gestehe ich.

„Prinzessin auf der Erbse?"

„Nein, ich bin einfach nur... aufgewühlt."

„Warum?"

„Es ist einfach im Moment alles ein wenig viel... mit meinem Vater."

„Hat er was gesagt?" Mehr als genug, aber ich will Tomate da nicht mitreinziehen, ihm ein schlechtes Gewissen machen wegen meiner falschen Entscheidungen.

„Das Übliche."

„Hm." Ich blinzele die aufkommenden Tränen weg und atme einmal tief durch, um weiterhin normal klingen zu können.

„Er führt sich in letzter Zeit ein wenig hysterisch auf, schreit rum ohne Grund, geht bei Kleinigkeiten an die Decke."

Mir graut es schon davor, wenn er herausfindet, wie meine Noten abgesackt sind in diesem Schuljahr. Nicht, dass es ihn tatsächlich interessieren würde, er will nur gegenüber seinen Kollegen auf der Arbeit mit einer Einser-Schülerin prahlen können und die bin ich längst nicht mehr.

„Kann ich dir irgendwie helfen?"

„Dass du zuhörst, ist hilfreich", versichere ich ihm.

„Hey, lass mich dich auf andere Gedanken bringen. Hast du Lust mit mir und ein paar Freunden auf die Animaxx zu gehen am Wochenende?"

Ich weiß, was es ist, ein regelmäßiges Treffen für Anime- und Mangafans. Ich kenne es, habe mich bisher aber nie getraut, hinzugehen. Also stimme ich zu und sehe am Wochenende Tomate, wie er bereits am Eingang mit einer Zigarette in der Hand auf mich wartet. Er kommt mir entgegen, um mich als Erster umarmen zu können, dann stellt er mich seinen Freunden vor, wobei ich Flo als bekanntes Gesicht wiedererkenne. Jess ist im gleichen Alter wie Tomate, ihre Kurven sprechen für sich und sie greift beinahe instinktiv nach Tomates Hand, sobald er wieder neben ihr steht. Ihre Finger verschränken sich ineinander und für einen kleinen Moment spüre ich einen Stich in der Brust als würde jemand mit einem Messer darin herumwühlen.

Misa, oder mit vollem Namen Misaki, trägt ein Cosplay von Death Note und macht damit der fiktiven Misa gute Konkurrenz, ihr Freund Cole steht im typischen Akatsuki-Mantel von Naruto neben ihr.

„Dein Kleid ist unglaublich", wende ich mich an Misa, die sich einmal um sich selbst dreht.

„Danke! Wir wollten noch Fotos machen, kommst du mit?" Mit einem Blick auf die immer noch verschränkten Finger von Tomate und Jess antworte ich: „Gern."

Hinterm Haus sind viele Cosplayer versammelt, die voneinander Fotos machen, verschiedene Posen ausprobieren und auch Crossovers mit ihren Kostümen machen. Ich helfe Misa dabei, die richtige Position auf einer Bank zu finden, und fotografiere sie nach ihren Anweisungen von schräg unten, um es sexy zu machen. Ich muss kichern, als sie noch einen Lolli herausholt, um daran zu lecken.

„Zeig mal her", sagt Misa und schaut sich die Fotos an, die ich gemacht habe, „wow, du hast echt Talent, Katie." In der Zwischenzeit nimmt Cole sich den Lolli und steckt sich den in den Mund.

„Machst du noch eins von uns beiden?", fragt er freundlich.

„Klar, auch auf der Bank?"

„Nee, da vorn auf dem Hügel. Wir machen da jedes Mal ein Foto."

„Oh, okay." Ich folge den beiden den Hügel hinauf und muss kurz verschnaufen, nachdem wir oben angekommen sind. Ich hebe die Hand, um zu symbolisieren, dass ich eine kurze Pause brauche.

„Alles in Ordnung? Hast du Asthma oder sowas?" Misa beugt sich zu mir und reibt mir langsam über den Rücken, aber ich schüttele den Kopf.

„Nein", ich schlucke, „nicht, dass ich wüsste. Nur Atemnot manchmal."

„Lass das mal durchchecken, du." Cole beäugt mich beunruhigt und schaut sich schon im selben Moment hilfesuchend um.

„Geht gleich wieder", ich schlucke noch einmal und richte mich dann auf, um meinen Körper ein wenig zu strecken, dann nicke ich, „Okay."

„Hier bist du", ich erschrecke bei dem Gefühl, wie jemand seine Hand auf meinen Rücken legt, und schaue von der Kamera auf. Tomate beugt sich zu mir runter, um das Motiv aus meinem Blickwinkel betrachten zu können. Dabei ist sein Gesicht meinem so nah, dass ich ihn atmen spüren kann.

„Alles okay?" Ich gehe einen Schritt zur Seite, sodass er seine Hand von meinem Rücken nehmen muss.

„Ja, musste nur kurz Luft holen." Ich sehe nochmal durch das Kameraobjektiv und schieße das Foto für Misa und Cole, die sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis sind. Sie sehen zwischen Tomate und mir einige Male hin und her und lassen uns dann tuschelnd allein.

„Gehst du mir aus dem Weg?" Die Frage lässt einen Kloß in meinem Hals entstehen. Ich verschränke die Arme, sehe zur Seite. Wenn ich ihn jetzt angucke, werde ich nur an Jess denken und dann wahrscheinlich losheulen wie ein Wasserfall und das will ich nicht.

„Das könnte ich dich fragen", antworte ich deshalb mit gepresster Stimme.

„Hör zu, Katie, es tut mir leid. Ich", er macht eine Pause, in der ich ihn aus den Augenwinkeln ansehe. Er kratzt sich am Hinterkopf, schaut eine Weile durch die Gegend, bevor er mich mit seinen grünen Augen wieder fixiert. „Jess und ich sind kein Paar."

Er wartet, ob ich etwas sagen möchte, aber was soll ich schon sagen?

„Es ist nur, sie...also als ich dich kennengelernt hatte, ich, ich fand es schön mit dir."

„Ich auch", gebe ich zu und sehe zu ihm auf.

„Ich wollte damals nichts überstürzen, weil naja, du jünger bist und außerdem hatte ich noch eine Freundin, Nora. Ich habe Schluss gemacht als du in Chicago warst."

„Was?" Ich blinzele einige Male, um das Gesagte zu verarbeiten.

„Es lief schon länger nicht mehr so gut zwischen uns und als ich dich kennengelernt habe, habe ich verstanden, warum. Wir haben so viel gemeinsam gelacht, Katie, und das hat mit Nora einfach gefehlt."

Für einen Moment schlägt mein Herz mir bis zum Hals, löst den Kloß darin ab und ich möchte einen Schritt auf ihn zu gehen, mit ihm im Hier und Jetzt sein, statt sich über die Vergangenheit zu ärgern, aber dann fällt mir etwas anderes ein.

„Und... Jess?" Tomate beißt sich auf die Unterlippe, sieht mich nicht an. Er steckt die Hände in die Hosentaschen, wippt von einer Seite zur anderen, sagt aber nichts. Muss er auch nicht, ich kenne diesen Gesichtsausdruck, dieses schuldbekennende Ausweichen. Ich habe ihn selbst gehabt, als meine Mutter von Dorothea erfahren hat.

Tom und Jess. Das Muskelpaket und die Sexbombe, sie ist in seinem Alter, sicherlich erfahrener als ich und mehr Oberweite hat sie auch. Da habe ich nicht viel zu bieten außer meiner Naivität, dass sich jemand wie er für mich interessieren würde.

„Katie, es tut mir wirklich leid, es war nicht geplant oder so, ich-"

„Hast du eine Zigarette?", unterbreche ich ihn.

„Eh, ja, klar, aber"

„Danke." Er hält mir das Feuerzeug hin, wir setzen uns ins Gras und er zündet sich auch eine an.

„Warum wolltest du mich überhaupt dabei haben, wenn du doch Jess hast?"

„Ich wusste nicht, dass sie kommt und... ich wollte dich wiedersehen, mich für deinen Brief bedanken." Ich sehe ihn einen Moment an, um zu sehen, ob er das ehrlich meint.

„Ich habe genauso gedacht wie du, ich wollte nur klare Verhältnisse mit Nora schaffen, deshalb habe ich mich nicht gemeldet. Wir waren zwei Jahre zusammen und das war ich ihr schuldig."

„Das erklärt nicht Jess", sage ich kopfschüttelnd, drücke die Zigarette aus und klaue ihm die Packung aus der Jackentasche, um noch eine zu nehmen.

„Sicher, dass du-", ich sehe ihn wütend und traurig und verletzt an und er nickt abwesend, während er den Kopf wieder abwendet und dann senkt.

„Jess war eine Ablenkung, nicht mein goldenster Moment." Meine Unterlippe zittert. Dennoch will ich ihm sagen, was ich fühle, ihm sagen, wie verletzend es ist nach dem, was ich dachte, das wir haben. Und gleichzeitig fühle ich mich nicht in der Position, so etwas überhaupt verlangen zu dürfen.

„Wir waren nicht zusammen, also", ich schlucke, „bist du mir gar nichts schuldig." Wir sehen uns eine Weile an, sodass ich sehen kann, dass in seinen Augen die gleiche Trauer zu sehen ist, die er wahrscheinlich in meinen erkennt.

Ich kann das nicht.

Wortlos gebe ich ihm die Zigarettenschachtel zurück und stehe auf. Ein kleiner Teil von mir hofft, dass er mich aufhält, aber das passiert nicht. Ein weiterer Grund, keine Liebesfilme mehr zu schauen, gibt einem nur falsche Hoffnungen.

Am Eingang sehe ich Cole und Misa aneinander gekuschelt sitzen und weil ich nicht weiß, wohin, setze ich mich zu ihnen.

„Wie wär's mit Mecces?"

„Ich hätte, ehrlich gesagt, richtig Bock auf so einen Mango Tea von Starbucks", antwortet Misa.

„Sowas gibt's auch bei Mecces."

„Ja, ich weiß, aber die von Starbucks schmecken besser. Katie, willst du auch was essen oder trinken?" Flo lässt sich mit einem lauten Seufzen neben uns fallen.

„So ein Chocolate Chip Dings wäre jetzt perfekt", schwärme ich.

„Ha, weitere Stimme für Starbucks! Flo?" Doch Flo schüttelt nur den Kopf.

„Hm, ja, okay, lass uns noch auf Tomate und Jess warten, was die wollen."

„Wo ist Jess überhaupt?"

„Keine Ahnung, ich habe sie das letzte Mal im Karaokeraum gesehen, aber das ist schon 'ne Weile her."

„Seht mich nicht so an, ich war die ganze Zeit im Gaming Raum", verteidigt sich Flo.

„Ich schaue nach ihr", sage ich und blicke auf das bunt bemalte Gebäude.

„Ich komm mit", sagt Flo, steht auf und hält mir die Hand hin. Gemeinsam zeigen wir unsere Eintrittskarten vor und werden ins Gebäude gelassen, welches einen großen Vorraum mit mehreren Türen besitzt. Vorbei an den Toiletten kommen wir noch zu einem Raum, in dem Karaoke gesungen wird und dort entdecke ich auch Jess. Ich tippe sie von hinten an der Schulter an, sie nickt und folgt mir und Flo hinaus.

„Misa und Cole wollen zu Mecces."

„Starbucks", korrigiere ich ihn.

„Na, also dahin, wo die meisten Stimmen sind", erklärt Flo.

„Mecces, nichts geht über deren Chili Cheese Snacks."

„Zwei zu Zwei", sage ich und Flo fügt hinzu: „Fehlt nur noch Tomate."

„Ich frag' ihn", sagt Jess und drückt sich zwischen mir und Flo vorbei, während sich mein Magen verkrampft und mir kurz den Atem nimmt.

„Gut, ich geh eine rauchen, du auch?" Flo sieht mich abwartend an. Ich wende meinen Blick von Jess wackelnden Hintern ab und lächele matt.

„Okay."

Ich rauche die Zigarette nicht wirklich, lasse sie eher langsam ausglühen zwischen meinen Fingern, weil ich weiß, dass ich so viel Nikotin wie heute nicht gut vertrage. Aber es beruhigt mich, lenkt mich ab den warmen Qualm an den Fingern zu spüren. Dann muss ich mir nicht vorstellen, wie Jess Tomate anhimmelt und sie sich vielleicht noch in die Büsche verdrücken.

Erst zwanzig Minuten später kommen sie zu uns gestoßen, wobei Jess einen erheblichen Vorsprung gegenüber Tomate hat und alles andere als glücklich aussieht. Mit geschürzten Lippen lässt sie sich neben Misa und Cole fallen und wirft ihre dunklen langen Haare mit einer gekonnten Handbewegung hinter die Schulter.

„Also, Mecces oder Starbucks?", bringt Cole das Gespräch wieder auf.

„Mecces", bestimmt Tomate mit seiner fehlenden Stimme, sodass Misa und Cole aufstehen und bereit sind loszugehen.

Ich lasse mich ein wenig zurückfallen, bis Tomate neben mir geht.

„Hey", sagt er, den Blick geradeaus gerichtet. Seine Stimme klingt nicht so samtig wie ich sie in Erinnerung habe.

„Hey", erwidere ich.

„Worauf hast du Lust bei Mecces?" Etwas irritiert über die Frage brauche ich einen Moment, um zu antworten.

„Eigentlich gar nichts, ich wollte zu Starbucks."

„Ahh, der Java Chocolate Chip Frappuccino." Überrascht bleibe ich stehen.

„Woher", Tomate dreht sich zu mir um und grinst schief.

„Ich vergesse doch nicht dein Lieblingsgetränk." Ich schnaube.

„Flo hat es dir gesagt."

„Eigentlich warst du es, als du bei mir übernachtet hast", Tomate kommt einen Schritt auf mich zu, sodass ich nun zu ihm hochschauen muss. Seine Nähe löst auf meiner gesamten Haut ein angenehmes Kribbeln aus, dem ich mich nur allzu gern hingeben möchte. Dennoch gehe ich einen Schritt zur Seite und an ihm vorbei. So einfach gebe ich nicht nach, denke ich grinsend und höre ein leises „hey" von Tomate, in dem auch ein Grinsen mitschwingt. Ich lächele in mich hinein, er hat es also verstanden. Spielen wir eine Runde Katz und Maus. Ich werde bestimmt nicht so leicht mein Herz verlieren an jemanden, der sich selbst nach einem Gemüse benennt. Ich bin die Katze in diesem Spiel.

Mit verklebten Augen wache ich am nächsten Tag auf. Der Abend gestern ging noch viel länger als geplant, sodass ich wenige Stunden vor Sonnenaufgang erst zu Hause war. Wenn man dieses Haus, in dem mein Zimmer ist, wirklich ein zu Hause nennen kann. Ich verbringe den Vormittag damit, Schulkram aufzuholen von der Zeit, als ich in Chicago war. Zwar waren zwei der drei Wochen die Herbstferien gewesen, trotzdem habe ich eine Klausur verpasst, die ich übermorgen nachholen muss.

Meine Gedanken schweifen aber immer wieder zurück zu Tomate. Wie er vor mir stand, mich schief anlächelte, sein Geruch, der mich vollkommen einnimmt. Seine starken Arme, die sich so schön warm um mich anfühlen, wenn er mich umarmt.

Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich eine Nachricht bekommen habe.

„Immer noch am Lernen?"

„Leider", antworte ich Tomate sofort und warte gespannt auf seine nächste Nachricht.

„Ein Ende in Sicht?"

„Noch nicht", meine Finger fliegen regelrecht über die Buchstaben.

„Wie gut, dass ich dir Nervennahrung dagelassen habe." Irritiert schaue ich auf mein Display. Auf meine zwei Fragezeichen antwortet er nur mit einem Zwinkersmiley.

„Gefunden?", kommt die nächste Nachricht und ich entscheide mich, die Haustür zu öffnen. Auf der Fußmatte steht eine kleine Tüte. Ich schaue mich um, aber Tomate ist nirgendwo zu sehen.

„Wo bist du?", schicke ich ihm eine Nachricht.

„Nur der Bote, auf dem Weg in den Feierabend." Ich wähle seine Nummer und es klingelt nicht einmal bis er rangeht.

„Hallo, Sonnenschein", sagt er und in seiner Stimme schwingt ein fröhliches Lächeln mit.

„Hey", antworte ich etwas langsam, mich immer noch umschauend, ob er hinter der nächstbesten Ecke hervorspringt, um mich zu erschrecken. „bist du gerade wirklich zwei Stunden hergefahren, um direkt wieder zu gehen?"

„Nicht ganz, ich habe dir ja was mitgebracht", ich kann mir sichtlich vorstellen, wie sein Grinsen mit jedem Wort breiter wird.

„Du hättest doch bleiben können."

„Ich möchte dich nicht vom Lernen abhalten, Sonnenschein. Du hast übermorgen eine wichtige Klausur, da wäre ich keine große Hilfe."

„Aber eine Tüte schon?", frage ich herausfordernd.

„Du hast gar nicht reingeschaut?" Meine ausbleibende Antwort ist wohl Antwort genug, denn Tomate fährt fort: „Pff, dann hast du meinen Anruf noch gar nicht verdient. Erst musst du in die Tüte schauen."

Und mit diesen Worten legt er einfach auf. Einige Sekunden starre ich auf mein Display. Was ein Idiot.

Aber in meinem Zimmer öffne ich dann doch die Tüte, die mit einer kleinen Schleife zugehalten wird. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen als ich den Java Chocolate Chip Frappuccino sehe. Das hat er nicht wirklich getan. Darunter befindet sich noch eine Packung mit Himbeeren. Selbst daran hat er sich also erinnert, das habe ich beim Einschlafen damals höchstens genuschelt. Bis eben bin ich mir sicher gewesen, dass ich ihm das nur in einem meiner Träume erzählt habe, dass Himbeeren die einzigen Beeren sind, die ich esse, weil sie nicht glänzen und ich glänzenden Beeren nicht traue, seit Kasper in der Grundschule mir eine Erdbeere angeboten hat, die er vorher mit Kleister eingerieben hatte.

Das ist doch nicht sein Ernst. Lächelnd schüttele ich den Kopf und nehme die Himbeeren heraus, nur um darunter einen zusammengefalteten Zettel zu finden.


Katie,

diesmal bin ich es, der dir einen Brief schuldet und ich habe dir viel zu sagen.

Zuallererst: hör' auf lächelnd den Kopf zu schütteln, weil du denkst, dass ich ein Idiot bin.

Ich bin mehr als das. Ich bin dein Seelenverwandter, auch wenn du das (noch) nicht zugeben willst, du bist meine kleine Seelenverwandte.

Viel wichtiger ist aber, dass ich danke sagen wollte. Für deinen Brief. Ich weiß, das kommt etwas spät. Ich habe ihn aber nicht genug gewürdigt und das tut mir leid. Mir ist erst jetzt bewusst geworden, wie sehr ich dich mit meinem Verhalten verletzt habe.

Es ist eine Menge passiert in den Wochen als du weg warst, aber das ist keine Entschuldigung. Ich möchte mich auch nicht rechtfertigen, denn ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe mit Jess.

Ich weiß, du hast gesagt, wir sind kein Paar und ich schulde dir nichts, aber ich sehe das anders. Ich habe dich trotzdem verletzt und das tut mir leid.

Ich würde dich niemals belügen und erst recht nicht verletzen.

Ich vermisse es, jeden Abend mit dir zu schreiben.

Als du in mein Leben getreten bist, wusste ich, dass mir etwas fehlt, aber ich wusste nicht, was.

Mit dir fühle ich mich komplett und ich würde das ungern aufgeben.

Wir sind uns in so vielen Dingen ähnlich, dass es schon beinahe gruselig ist.

Deswegen glaube ich zu wissen, was du gerade tust. Aber bitte verstecke dich nicht vor mir, ich habe meine Lektion gelernt, wirklich, und ich würde so etwas nicht nochmal tun. Dafür bist du mir einfach zu wichtig geworden.

Wenn das Ganze aber nur ein Spiel sein sollte, muss ich dich warnen, denn ich spiele, um zu gewinnen.

-Tomate

PS: Ich erwarte deine Antwort in Briefform

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