Wenn die Tomate reift

Mit Ende des Sommers folgen Geburtstage über Geburtstage. Da haben viele Eltern wohl die ungemütlichen Herbsttage zu Hause gut genutzt. Auch eine von Dodos Töchter feiert und bekommt Geschenke zugesendet. Darunter ein neues Samsung Handy. Wie Dodo sich das leisten kann mit einem Teilzeitjob als Friseurin, ist mir ein Rätsel.

Selbst Bigfoots Eltern gehören zu den Herbsttagen-Kuschlern und so zerbreche ich mir über Tage den Kopf, was ich ihm schenken könnte. Ich bin Schülerin und das Geld, das ich mit meinen Nebenjobs verdiene, ist nicht wenig, aber eigentlich nur für den Auszug mit Kilian gedacht. Ich will es nicht für etwas anderes ausgeben. Bleibt mein Taschengeld, das lächerliche dreißig Euro im Monat nicht überschreitet. Das klingt erst einmal eine Menge, wenn nicht klar ist, wofür das Geld draufgeht. Die Antwort ist alles, was ich nicht essen kann. Mein Vater macht den wöchentlichen Einkauf und alles außerhalb dessen, was er kauft, muss ich selbst besorgen. Dazu zählen auch Klamotten und die sind verdammt teuer.

Es ist bereits dunkel, als ich mich in Unterwäsche auf den Balkon stelle und mittels Stativ und Kamera versuche, einigermaßen sexy Fotos von mir zu machen, wie ich sie im Internet gesehen habe. Drinnen habe ich bereits vor dem Spiegel geübt, damit ich mich nicht komplett dämlich anstelle, aber die Kamera kann mich im Dunkeln nicht richtig fokussieren. Das Ergebnis davon sind zwar viele, aber unscharfe Bilder.

Ich versuche mein Glück am Laptop mit einigen Fotoretusche-Programmen, die ich kostenlos im Internet finde. Sie sind nicht die hellsten Sterne am Photoshop-Himmel, aber wenigstens kann ich die Bilder durch sie schärfer stellen und meinen Kopf abschneiden, sodass nur noch mein Körper zu sehen ist. Im schwarz-weiß Modus fällt auch nicht auf, wie blass ich bin.

Eigentlich wollte ich nur ein Poster für Bigfoots Zimmer drucken lassen, weswegen mein Gesicht natürlich nicht zu sehen sein sollte. Schließlich kommen ja auch andere Leute in sein Zimmer. Da wäre es mir ein wenig peinlich, wenn sie mich in Unterwäsche sehen. Nur Bigfoot soll wissen, wessen Körper auf dem Poster zu sehen ist.

Ich entwerfe auch ein passendes Mousepad dazu. So kann endlich das vollbusige 3D-Modell von der Fuchsfrau verschwinden, auf deren Brüste Bigfoot seinen Handballen ablegt, wenn er zockt.

Während ich auf meine Bestellung warte, vergehen einige Tage und in dieser Zeit hinterfrage ich meine Entscheidung immer mehr. Will ich wirklich, dass ein halb-nacktes ein Meter großes Poster von mir in seinem Zimmer hängt?

Ihm diese Fantasie von mir gibt, die ich doch eigentlich gar nicht bin?

Alle meine Sorgen werden wie weggeblasen, als das Poster und das Mousepad endlich ankommen. Es sieht geil aus. Wirklich geil. Ja, die Bilder sind ein wenig verschwommen, aber sie sehen schön aus und wenn ich mich selbst so ansehe, habe ich mich noch nie so schön und sexy gefühlt, wie jetzt.

*

Ich übernachte bei Bigfoot und mein Wecker ist für einige Minuten vor Mitternacht gestellt. Gestern habe ich einen Kuchen gebacken und Marzipanmasse mit Lebensmittelfarbe rot eingefärbt, die ich drüber gelegt habe.

Vielleicht bin ich kein Picasso, geometrische Formen waren sowieso noch nie meins, aber ich weiß, wie eine durchgeschnittene Tomate aussieht. Und genau so male ich die Marzipanfläche an.

Jetzt lege ich neunzehn kleine Kirschtomaten um den Kuchen herum und in jede kommt eine bunte Kerze, die ich anzünde.

Pünktlich um Mitternacht küsse ich Bigfoot wach.

„Alles Gute zum Geburtstag, mein Seelenverwandter." Bigfoot streicht sich über das Gesicht, lächelt leicht und reckt sich zu mir, um einen weiteren Kuss einzusammeln. Seine Hände streichen über meinen Rücken und ehe ich mich versehe, hat er mich auch schon zu sich ins Bett gezogen und über mich gerollt.

„Tomate", ich grinse ihn wissend an, „ich habe in der Küche was vorbereitet und ich würde ungern eure Küche abfackeln." Seine Mundwinkel zucken einen Moment, doch dann steht er auf und hält mir die Hand hin. Wir tragen beide Boxershorts und Shirts aus seinem Schrank, als wir Hand in Hand in die Küche gehen, wo uns seine Eltern empfangen. Tomates Hand verkrampft sich für einen Moment und er bleibt stehen.

„Habe ich euch geweckt? Ich habe die Kerzen wirklich nur eine Sekunde aus den Augen gelassen, um Tomate zu holen", versichere ich unsicher in den Raum, weil eine unangenehme Stille herrscht, die ich sonst nicht von dieser Familie gewohnt bin.

Erst gestern habe ich mit Jil über meinen Kuchenplan geredet, den sie begeistert unterstützt hat. Doch jetzt sehen alle irgendwie aneinander vorbei und die Stille wirkt noch unangenehmer.

„Nein, ich habe mir einen Wecker gestellt", Jil, Bigfoots Mutter lächelt mich freundlich an, „der Kuchen sieht übrigens wunderbar aus."

Tomate drückt meine Hand, als würde er zustimmen, obwohl er den Kuchen noch gar nicht gesehen hat, weil seine Eltern den Eingang zur Küche blockieren.

Als würde Jil diese Stille nicht mehr aushalten, macht sie einen Schritt auf ihren Sohn zu und umarmt ihn fest.

„Alles Gute, Tom", sie streicht über seinen Rücken, wiegt ihn ein wenig hin und her. Ich lasse Bigfoot los, damit er es seiner Mutter gleichtun kann. Dann quetsche ich mich an seinem Vater vorbei in die Küche.

„Wollte nur sichergehen, dass hier noch nichts in Flammen aufgegangen ist", ich lächle nervös, aber sein Vater winkt ab: „Nö nö, keine Sorge. Hab' da ein Auge drauf."

Nachdem sich Bigfoot und seine Mutter voneinander lösen, greift sein Vater nach ihm und zieht ihn in eine Umarmung, in der Bigfoot reglos dasteht. Ich schaue ihn fragend an und bekomme als Antwort ein lautloses: „später".

„Bereit für deinen Kuchen? Katie hat echt ganze Arbeit geleistet!"

Sein Vater schlägt mir so doll auf den Rücken, dass ich einen Schritt nach vorne falle. Augenblicklich steht Bigfoot vor mir, hält mich an den Schultern und sieht mich besorgt an. Ich lache, um allen zu zeigen, dass es mir gut geht.

„Erik, du musst deine Kraft ein wenig besser einschätzen", murmelt Jil, die mich auch besorgt mustert.

„Alles gut."

„Das war keine Absicht."

„Alles gut", wiederhole ich und als Beweis dafür nehme ich nun den Kuchen und halte ihn Bigfoot vor die Nase.

„Wow, Katie!", Er sieht mich mit großen Augen an, „das, das ist genial. Du bist unglaublich!" Grinsend pustet er die Kerzen aus und küsst mich.

„Sind das wirklich neunzehn?", er deutet auf die kleinen Cherrytomaten, in denen die Kerzen stecken.

„Zweimal abgezählt, bin mir ziemlich sicher", antworte ich stolz, während Bigfoot selbst noch einmal nachzählt.

„Du bist doch verrückt."

„Als wusstest du das nicht schon vorher." Er lacht bei meinen Worten.

„Was ist los?", verschlafen reibt sich Leon den Schlaf aus dem Gesicht, während er in die Küche tapst. Seine Augen werden um das Doppelte größer, als er den Kuchen sieht. Er versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber ich habe es schon gesehen und grinse ihn an.

Bigfoot schneidet den Kuchen und gemeinsam essen wir und rauchen eine Zigarette auf dem Balkon, bevor seine Eltern sich wieder schlafen legen. Denn Geschenke gibt es erst später. Seine Mutter hat eine Überraschung geplant für den Nachmittag. Sein Bruder hingegen bleibt beim Kuchen, also rette ich noch zwei Stücke vor ihm und nehme sie mit auf Bigfoots Zimmer.

„Gott sei Dank sind wir wieder allein", er schmeißt sich bäuchlings auf sein Bett, nur um sich dann auf den Rücken zu drehen, „danke, Katie. Du bist wirklich unglaublich."

Ich lege mich neben ihn aufs Bett, kreise mit meinen Fingern über seine Brust.

„Was ist eigentlich mit dir und deinem Vater los?"

Zur Antwort stöhnt Bigfoot und schlägt sich die Hände vors Gesicht.

„Ach, der hat sich letztens mit seinem Laptop im Schlafzimmer eingesperrt."

„Und?"

„Meine Mutter wollte rein, durfte aber nicht."

„Okay?", frage ich, weil ich nicht ganz verstehe, worauf er hinauswill. Bigfoot stützt sich auf seine Ellenbogen und schaut zu mir herunter.

„Katie", er spricht meinen Namen gedehnt, „das muss ich dir doch nicht sagen?"

„Was?"

„Der Mann hat Pornos geschaut! Einfach widerlich. Sieh ihn dir an, er ist ein alter fetter Mann mit Schnauzer und meine Mutter sieht aus wie Ende zwanzig. Er weiß gar nicht, was er an ihr hat. Stattdessen guckt er sich lieber Pornos an."

Ich sage ihm nicht, dass ich bis eben dachte, dass alle Männer Pornos schauen. Dass es einfach so ist, dass es zum Mannsein eben dazugehört und man als Frau sich damit abfinden muss.

„Widerlich", Bigfoot spuckt das Wort regelrecht aus. „Aber lass uns nicht weiter über ihn reden, er wird schon merken, was er davon hat."

„Hm, vielleicht hat er auch nur eine Überraschung für deine Mutter vorbereitet."

„Bitte, wenn der ihr jemals was zum Geburtstag oder Hochzeitstag oder sonst wann geschenkt hätte, ohne dass er davor Mist gebaut hat, dann habe ich noch nie Animes geschaut. Jedes Jahr muss sie ihn daran erinnern."

„Dich doch auch", erwidere ich und schlage mir im gleichen Moment die Hand vor den Mund.

„Was?"

Jil hat mir vor einiger Zeit schon erzählt, wie traurig es sie macht, dass die drei Männer in ihrer Familie ihr so gut wie nie etwas zum Geburtstag schenken, weil sie es immer wieder vergessen. Sie schreibt extra einen Wunschzettel mit Datum ihres Geburtstages und hängt es – für alle sichtbar – an die Küchentür. Und trotzdem bekommt sie entweder nichts oder eben etwas, was sie sich nicht gewünscht hat.

Nur durch Nora, Bigfoots Exfreundin, hat Jil Geschenke bekommen, weil die das alles geplant und geleitet hat. Keine Ahnung, ob ich das auch schaffe, aber ich muss es versuchen. Denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass das jetzt mein Job ist.

„Nicht so wichtig."

„Nein, sag."

Ich will jetzt nicht mit ihm streiten. Statt einer Antwort hole ich deshalb meine Geschenke hervor, die ich mitgenommen habe.

„Noch mehr? Du kannst jetzt aber nicht ablenken" Bigfoot setzt sich auf und nimmt die eingepackten Geschenke behutsam entgegen.

„Mach auf", dränge ich stattdessen. Ich kann ihn ablenken. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.

„Okay", wir grinsen uns beide einen Moment an, bevor er sich dem Geschenkpapier zuwendet. Er reißt an dem Papier und für einen Moment überlege ich, ob es so schlau war, das Papier in Papier einzupacken. Ich hoffe einfach, dass er nicht aus Versehen auch das Poster zerreißt.

Bigfoot rollt es auseinander und stockt für einen Moment.

„Katie", seine Stimme ist kaum mehr als ein Hauchen, „das, du, das, du hast wirklich so ein Poster für mich gemacht?"

Bei seinen weit aufgerissenen Augen bin ich nicht sicher, ob es etwas Gutes oder Schlechtes ist.

„Gefällt es dir nicht?"

„Bist du verrückt? Natürlich gefällt es mir! Das ist unglaublich, du bist unglaublich!"

Erleichtert atme ich aus und Bigfoot nimmt mich in seine starken Arme.

„Jetzt müssen wir nur noch einen Platz finden, wo wir es hinhängen können." Wir sehen uns eine Weile um.

Die Wände sind jetzt schon sehr voll mit Plakaten und Postern von Animes. Aber zwischen zwei Bleach Bildern ist noch Platz.

„Da", ich zeige auf die Stelle und Bigfoot nickt.

„Alles klar."

„Aber du hast das hier ganz übersehen", ich halte ihm das kleinere Geschenk hin.

„Noch eins? Katie, das ist doch viel zu viel!"

„Es gehört dazu", ich zeige zum Poster und ernte ein wissendes Grinsen und Wackeln mit den Augenbrauen von Bigfoot.

„Das ist doch, das ist besser als jedes andere Mousepad, das ich je besessen habe!" Bigfoot springt auf und tauscht das Brüste-Mousepad gegen meins aus. Kurz hält er inne.

„Ich sollte es vielleicht nicht so offen hier rumliegen lassen, schließlich ist da dein Gesicht drauf."

„Was?" Erschrocken springe ich hoch und stehe keine Sekunde später neben ihm. Er hat recht. Ganz oben rechts in der Ecke der Collage sieht man meine rot gefärbten Haare und einen Teil meines Gesichts.

Verdammt.

„Ich habe es zweimal geprüft!"

„Ist doch nicht schlimm, ich lege es einfach in den Schreibtisch, wenn ich es nicht benutze und wenn ich es benutze, ist ja sowieso meine Hand da drüber. Das sieht schon niemand."

Er küsst mich auf die Nasenspitze und legt das Brüste-Mousepad zurück an seinen Platz.

„Siehst du? So fällt es nicht auf."

„Hm, ja."

„Jetzt sei nicht so", Bigfoot schlingt die Arme um mich. „Ich kann es auch offen liegen lassen, wenn du willst, dass Ivan und Flo und-"

„Ist ja gut", unterbreche ich ihn und stimme in sein Lachen mit ein.

„Komm", ich ziehe ihn mit zum Bett, um ihm noch ein letztes Geschenk zum Geburtstag zu geben, dass er mehr als dankend annimmt.

Danach liege ich mit dem Kopf auf seiner Brust und höre seinem Herzschlag zu, wie es regelmäßig pocht.

„Hast du eigentlich jemals darüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn Darja mich nicht zu dir mitgeschleppt hätte?", frage ich ihn, meinen Kopf an seine Brust gelehnt. Ich spüre, wie er nickt.

„Ja."

„Und was glaubst du, wäre passiert?", frage ich zögerlich.

„Wir hätten uns auf eine andere Weise kennengelernt", ich grinse bei diesen Worten.

„Meinst du wirklich?"

„Ja, ohne dich geht es nicht", er beugt sich zu mir hinunter und küsst mich zärtlich auf die Stirn.

„So, wie es für mich ohne dich auch nicht geht", antworte ich.

„Wir mussten uns begegnen", sein Blick verliert sich für eine kurze Zeit, daraufhin nimmt er meine Hand und drückt sie. „So viele Zufälle gibt es nicht, kann es nicht geben."

„Nein", flüstere ich zustimmend.

„Nennen wir es", er stoppt und sucht nach einem Wort.

„Schicksal", vollende ich seinen Satz.


Bigfoot,

glaubst du an Schicksal? Ich habe das Gefühl, dass wir uns schon eine Ewigkeit kennen, vielleicht schon mehrere Leben.

Wenn ich dir in die Augen sehe, kann ich nicht nur dich, sondern auch unsere Zukunft sehen.

Es fühlt sich an, als wäre ich endlich angekommen, als wäre ich endlich zu Hause. Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut, nicht bei dir zu sein. Ich will jeden Tag, jeden Moment mit dir verbringen, mich nicht mehr von dir lösen und alles tun, damit du glücklich bist.

Ich vermisse dich. Wie so oft zuvor. Ich liebe dich. Das wird sich auch jetzt nicht ändern. Ich lasse dich nicht mehr los, das weißt du.

Wir gehören zusammen, haben es immer, werden es immer.

Denn du bist mein Seelenverwandter und ich liebe dich.

Katie

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