Tomates Doppelgänger
TRIGGERWARNING für Gaslighting und Selbstverletzung
Eine gekürzte Fassung für das Kapitel ohne Trigger im folgenden Kapitel "ZSM"
----------------------------------------------
Mit einem dünnen Edding male ich ein Gesicht auf eine Rispentomate und versuche dabei Tomates Gesichtszüge so gut es geht, nachzuahmen. Auf die Rückseite schreibe ich ‚Tomates Doppelgänger' und verstecke sie in meiner Jackentasche.
Wir sind am Eingang vom Stadtpark verabredet und weil er mir bereits geschrieben hat, dass er sich verspätet, habe ich auf dem Weg noch schnell eine Tomate gekauft, um ihn zu überraschen – oder zu ärgern, je nach dem, wie er es aufnimmt.
Ich schaue auf die Uhr, mittlerweile ist es zwanzig nach. Kurz überlege ich, in den nahegelegenen Bahnhof zu gehen, um mich ein wenig aufzuwärmen. Es ist zwar nicht sehr kalt, aber der Dezemberwind macht mir doch ein wenig zu schaffen. Meine Jackentaschen sind gerade groß genug, um eine kleine Rispentomate darin zu halten, für meine Hände reichen sie allerdings nicht aus, weswegen die Nagelbetten schon blau anlaufen und ich meine Fingerkuppen kaum spüre.
Wenn ich Tomate anrufen will, brauche ich funktionierende Finger.
Zum Glück muss ich das nicht, denn im selben Moment höre ich seine Stimme hinter mir: „Hey, entschuldige!" Er nähert sich, scheint aber nicht von Eile angetrieben zu sein.
„Hey, ich glaube, Park war keine besonders gute Idee", sage ich und verweise auf meine blauen Finger.
„Oh." Tomate nimmt meine Finger zwischen seine Hände und haucht warme Luft hinein, reibt seine Hände gegen meine und pustet wieder warme Luft gegen sie, bis ich sie wieder spüren kann. In meinem Bauch kribbelt es wie verrückt, aber ich versuche mir nichts anzumerken.
„Geht's wieder?" Sein Lächeln breitet sich mit jeder Sekunde aus, während er weiterhin meine Hände in seinen hält. Ich nicke dankend.
„Möchtest du trotzdem durch den Park? Wir können auch ins Kino gehen." Er zeigt auf die andere Seite der Brücke, die als Fußgängerüberweg über einer stark befahrenen Straße dient.
„Läuft denn irgendwas?"
„Keine Ahnung, aber wir können ja mal schauen."
Das Filmangebot überzeugt nicht, aber die Wärme reicht aus, um mich ein wenig aufzutanken, sodass ich bereit bin, einen Spaziergang durch den Stadtpark zu wagen. Durch den leichten Schneefall der letzten Tage ist etwas weißer Pulverschnee liegengeblieben und glitzert freundlich auf den Blättern und Ästen der Büsche und Bäume der angelegten Parkanlage inmitten der Innenstadt.
„Ich hab' dir übrigens was mitgebracht." Ich hole die Rispentomate hervor, mit dem aufgemalten Gesicht von Tomate. Er fängt sofort zu lachen an, hält sich den Bauch und krümmt sich ein wenig, bevor er sich wieder einkriegt.
„Das hast du nicht gemacht", sagt er, während er die Tomate in die Hand nimmt und mein Kunstwerk begutachtet. „Die Augen sind voll gut geworden."
„Danke."
„Und, nein, Tomates Doppelgänger! Wie geil!" Er fängt wieder an zu lachen. „Danke, Katie, echt. Ich werde sie in Ehren halten."
„Das will ich doch hoffen", kontere ich grinsend.
„Dir ist aber schon klar, dass du mir jetzt jedes Mal eine mitbringen musst?"
„Ehm, nein, eigentlich nicht, aber... jetzt schon." Tomate packt die Rispentomate ein und wir schauen uns die funkelnde Winterlandschaft an, während wir immer tiefer in den Park hineingehen. Unser Weg führt in den japanischen Gartenabschnitt, wo wir uns am Rand eines Wasserfalls auf den Steinen niederlassen. Ein kleiner Trampelpfad durch das Gebüsch führt dorthin und es gehört zu meinen absoluten Lieblingsplätzen in der ganzen Stadt.
„Das ist einer meiner Lieblingsplätze", flüstert Tomate mit geschlossenen Augen, seine Lippen umspielt ein sanftes Lächeln. Ich will ihn nicht unterbrechen, weswegen ich mich nur innerlich darüber freue, eine neue Gemeinsamkeit gefunden zu haben und mein Herz deswegen einen kurzen Moment schneller als üblich schlägt. Zufrieden schließe auch ich die Augen, um die Geräusche des Wasserfalls genießen zu können.
Wir treffen uns nahezu jeden Tag, versuchen so viel gemeinsame Zeit herauszuschlagen, wie nur irgend möglich und doch haben wir nie besprochen, wie der andere darüber denkt. Mir gefällt unsere gemeinsame Zeit, ist es doch die, die mich am glücklichsten macht.
Manchmal habe ich das Gefühl, er denkt wie ich und anderen Tagen meldet er sich kaum bis gar nicht, verspätet sich ohne Begründung und priorisiert sein Computerspiel.
Vielleicht gehört das dazu. Man kann nicht immer die erste Priorität beim anderen sein. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist er das für mich schon längst.
Ich schwänze die letzten Unterrichtsstunden schon seit Wochen, um ihn von der Schule abzuholen oder zu überraschen, nur, um der Grund für sein leuchtendes Lachen zu sein. Die Fältchen, die sich dabei um seine Augenpartie bilden, senden mir jedes Mal ein angenehmes Kribbeln durch den gesamten Körper.
Ich lüge meinem Vater vor, dass ich mich mit Freundinnen oder Schulgruppen treffe, um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können, um seine Stimme hören zu können. Bald stehen die Zwischenzeugnisse an und ich bekomme schon Panik, wenn ich nur daran denke, wie mein Vater reagieren wird. Nervös zupfe ich an meinem Handgelenk. Ich muss mich ablenken, bevor ich wieder in alte Muster verfalle.
„Ich habe letztens ein Buch zu Ende gelesen", beginne ich und habe damit Tomates vollste Aufmerksamkeit. „Es erinnert mich ein wenig an... uns."
„Wirklich? Warum?" Er sieht mich interessiert an, blickt mir direkt in die Augen und gibt mir damit das Gefühl, in mich hineinsehen zu können. Ich bin ein offenes Buch, indem er gern jederzeit liest, obwohl ich ihm nicht einmal meinen Klappentext verraten habe.
„Weil die beiden Hauptfiguren sich ständig über den Weg laufen und Déjà vu Momente erleben, dass sie das alles nicht mehr nur als Zufall abstempeln können."
„Klingt spannend, liest du es mir mal vor?" Kleine Grübchen bilden sich in seinen Wangen, als er das fragt, und ich will gar nicht anders als zustimmen. Aber vorher will ich ihn noch ein wenig ärgern, einfach, weil ich denke, dass er das verdient hat, nachdem er mich so lange in der Kälte stehen gelassen hat.
„Du und das Vorlesen, was hast du bloß damit?" Ich sehe ihn abwartend an, aber Tomate weicht meinem Blick nicht aus.
„Ich höre deiner Stimme eben gern zu." Mit so einer Antwort habe ich nicht gerechnet und als wäre das nicht genug, setzt er noch einen drauf, indem er fortfährt: „Wenn deine Stimme das letzte ist, was ich höre vor dem Einschlafen, würde es mich auch nicht stören, nicht mehr aufzuwachen."
„Sag sowas nicht." Der Gedanke daran, dass er so etwas leichtfertig über die Lippen bringt, lässt mich zusammenzucken. Das Leben ist kein Spiel, es gibt kein Gewinnen oder Verlieren. Erst als Tomate seine Hand auf meine legt, bemerke ich, dass ich wieder die Haut an meinem Handgelenk zupfe. Irritiert sehe ich zu ihm auf.
„Du bist die Stimme in meinen Träumen, Katie. Mehr will ich doch gar nicht." Er sieht mich eindringlich an, aber ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Sein Wunsch ist so deutlich, seine Stimme so klar und doch halte ich mich an der Bewegung seiner vollen Lippen auf.
„Wenn du nicht willst, dann nicht."
„Doch, nein, also ja, schon", sage ich schnell, woraufhin Tomate mich grinsend, aber herausfordernd ansieht.
„Was denn nun?"
„Ja. Ja, ich lese dir vor."
„Gut, dann ist das ein Date. Ich hätte das Buch sonst wahrscheinlich eh nicht gelesen." Er grinst immer noch, aber ich rolle mit den Augen.
„Idiot."
„Nase."
„Was?"
„Nase", wiederholt Tomate und zur Verdeutlichung stupst er mit dem Zeigefinger gegen meine Nasenspitze, was mich augenblicklich zu einem irritieren Lachen veranlasst.
„Was soll das denn bedeuten?" Schulterzuckend streicht er sich eine ins Gesicht gefallene Haarsträhne zurück.
„Keine Ahnung, einfach, dass du eine Nase bist." Ungläubig schüttele ich den Kopf über seine Worte, werde aber von meinem klingelnden Handy aus dem Konzept gebracht. Gebannt sehe ich auf das Display, als ich die Nummer erkenne.
„Willst du nicht rangehen?". Nein, eigentlich möchte ich es nicht, aber ich weiß, dass ich gar keine andere Wahl habe. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals, so gut es geht, herunter und nehme ab.
„Ja?"
„Du musst herkommen, er durchsucht dein Zimmer, schmeißt alle Sachen raus", höre ich meinen kleinen Bruder auf der anderen Seite der Leitung mit einer quietschenden Stimme sagen, die seinem Stimmbruch zu verschulden ist. Kilian redet seit der Trennung unserer Eltern nicht, weswegen mich die Höhen und Tiefen seiner Stimme zuerst verunsichern, nicht aber so sehr, wie die Erkenntnis, dass er sein dreimonatiges Schweigen gebrochen hat.
„Bleib in deinem Zimmer, ich komme so schnell ich kann", sage ich und lege auf.
„Tut mir leid, ich muss los", wende ich mich an Tomate und warte keine Antwort ab. Stattdessen krame ich schon all meine Sachen zusammen und sprinte zur nächsten Bushaltestelle.
Der Bus benötigt eine halbe Stunde bis zu mir nach Hause, sodass ich genügend Zeit habe, mir eine Ansprache zurechtzulegen, dass mein Vater absolut kein Recht hat, mein Zimmer in irgendeiner Weise zu durchwühlen. Nervös wippe ich mit dem Fuß, während ich überlege, wonach er suchen könnte oder ob er einfach wieder einen Wutanfall bekommen hat. Ich schüttele den Kopf. Das wichtigste ist nicht mein Zimmer, sondern dass es meinem kleinen Bruder gutgeht. Wie habe ich die letzten Wochen so unbeschwert mit Tomate sein können, ohne daran zu denken, was Kilian zu Hause abbekommen könnte? Unbewusst spanne ich den Kiefer an, balle meine Hände zu Fäusten und drücke sie gegen meine Oberschenkel, um nicht laut loszubrüllen.
Als der Bus hält, renne ich die letzten Meter bis zu unserem Haus und bin so aus der Puste, dass kleine Lichter vor meinem Blickfeld tanzen. Mit zittrigen Fingern hole ich den Schlüssel hervor, denn schon vor der Haustür kann ich das Gepolter aus dem Inneren vernehmen. Das Rumpeln hört augenblicklich auf, als ich die Tür ins Schloss fallen lasse. Mit stampfenden Schritten kommt mein Vater die Treppe runter.
„Wo bist du gewesen?", fragt er und seine Stimme klingt wie das Donnern nach einem Blitzeinschlag, wobei er mit seinem Blick sehr wohl giftige Blitze auf mich abfeuert.
„Weg", meine kurzgebundene Antwort lässt ihn noch wütender werden. Mit drohendem Zeigefinger kommt er mir so nahe, dass ich seinen nach Bier riechenden Atem auf meinem Gesicht spüren kann.
„Denkst du, ich bin bescheuert, Katie? Warst du wieder mit einem Jungen weg? Bist du die Schlampe der Stadt, oder was? Willst du auf dem Strich Geld verdienen? Dann mach das, so wie du aussiehst, sollte dir das ja nicht schwerfallen!" Er spuckt die Worte aus als wären es dreckige Regenwürmer, die sich in seinen Mund verirrt haben. Ich presse die Lippen aufeinander und wende das Gesicht ab, um dem stinkenden Biergeruch zu entfliehen.
„Jetzt fang bloß nicht an zu heulen. Ist es etwa meine Schuld, dass du für jeden Hans und Franz die Beine breit machst?" Meine Brust zieht sich bei seinen Worten zusammen und ich würde ihm am liebsten an den Kopf schmeißen, dass er absolut gar nicht weiß, wovon er redet. Dass ich sicherlich nicht mit jedem Typen ins Bett steige. Aber ich weiß, dass wenn ich jetzt etwas erwidere, er nur noch rasender wird, weswegen ich stumm den Blick abwende. Solange es nur bei seinen Worten bleibt, komme ich gut genug davon, mit einigen Narben mehr auf der Seele, aber wenigstens mit funktionierenden Gliedmaßen. Und die brauche ich, wenn ich weiterhin neben der Schule arbeiten will, um Geld zu sparen und so mit Kilian schnellstmöglich ausziehen kann.
„Sieh' mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!" Er nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, drückt dabei stärker als er müsste, und zieht mein Gesicht nahe zu seinem heran.
„Dummes Kind, ab sofort sagst du mir, wo du mit wem wann bist. Ich will die Telefonnummer und die Adresse der Leute, mit denen du dich triffst, verstanden?" Ich knirsche mit den Zähnen, woraufhin mein Vater den Druck seiner Finger nur noch weiter erhöht.
„Verstanden?", brüllt er, obwohl sein Mund nur wenige Zentimeter von meinen Ohren entfernt ist.
„Verstanden", presse ich mit zittriger Stimme hervor und spüre, wie mir die Tränen heiß aus den Augenwinkeln rinnen.
„Gut und jetzt verschwinde auf dein Zimmer, Heulsuse. Ich will dich heute nicht mehr sehen." Mit einem Ruck lässt er mein Gesicht los, sodass ich einen Schritt nach hinten taumle. Unbeteiligt wendet er sich von mir ab, bahnt sich seinen Weg zum Sofa im Wohnzimmer, auf dem er sich, alle Viere von sich gestreckt, vor den Fernseher lümmelt.
Ich nehme meine Tasche und schleiche die Stufen so leise wie möglich nach oben, um keinen Laut von mir zu geben und beim Anblick meines verwüsteten Zimmers bleibt mir der Atem in der Kehle stecken. Alle meine Schränke sind ausgeräumt, die Sachen quer im Raum verteilt, einige meiner Schulunterlagen zerrissen. Als ich sehe, dass meine Balkontür geöffnet ist und draußen weitere Sachen von mir liegen, selbst nach unten in den Garten hat er einige meiner Klamotten und Bücher geworfen, versuche ich nicht laut aufzuschreien vor Wut und Frustration.
„Soll ich sie holen?" Neben mir auf dem Balkon steht Kilian. Unsere Zimmer sind direkt nebeneinander, sodass wir uns einen Balkon teilen, den wir nicht wirklich nutzen. Manchmal rauche ich heimlich hier, was ich am liebsten jetzt tun würde, um meine Gedanken von dem Nikotin ein wenig benebeln zu lassen. Aber weder meine Eltern, noch Kilian wissen davon, also werde ich das auch jetzt nicht ändern.
„Nein, lass sie liegen. Wenn er morgen zur Arbeit geht, hole ich sie", antworte ich mit einem Blick auf meine Klamotten und Bücher, die verstreut im Gras liegen. Ich müsste durch das Wohnzimmer, um sie zu holen, vorbei an meinem Vater auf dem Sofa, und das kann ich weder Kilian noch mir im Moment zumuten.
„Was hat er gesucht?"
„Mich", seufze ich, immer noch den Blick auf meine Sachen richtend. „Alles gut bei dir?" Ich sehe zu meinem Bruder, der zwar zwei Jahre jünger, aber einen halben Kopf größer als ich ist. Schulterzuckend sieht er in unseren Garten.
„Verstehe." Es ist ein Wunder, dass er überhaupt so viel spricht nach seinem langen Schweigen und mit einem Mal merke ich, wie dankbar ich für jedes Wort bin, dass er mit mir redet. Seine Stimme zu hören, sei sie noch so durchzogen von Höhen und Tiefen, gibt mir den Rückhalt, den ich brauche.
Ich schreibe meiner Chefin, dass ich weitere Schichten übernehmen kann, was sie sichtlich freut, nachdem sie mich vor einigen Wochen danach gefragt hat. Die Schule und alles andere wird warten müssen, das hier ist wichtiger. Den Abend verbringe ich damit, mein Zimmer wieder aufzuräumen, so gut es eben geht. Unter den zerrissenen Schulsachen sind auch meine Arbeitshefte. Meine Hausaufgaben sind somit auch hinüber. Da ich allerdings in den nächsten Wochen sowieso mehr Zeit auf der Arbeit als in der Schule verbringen werde, scheint das kein sonderlich großer Verlust zu sein. Als ich meine Klamotten wieder einräume, halte ich kurz inne bei den Worten, die ich in die Innenseite der Schranktür geschnitzt habe. ‚Keine Liebe, nur Hass'. Ich schlucke, kann den Gedanken aber nicht mehr unterdrücken. Wieder zupfe ich an meinem Handgelenk, aber es hilft nicht. Heiße Tränen rinnen meine Wangen runter, während ich leise schluchzend zu Boden sinke. Es ist einfach zu viel. Alles. Ich bin doch auch nur ein Teenager. Wie einen Schalter, den ich einfach umlegen kann, versuche ich mich auf die Leere in meinem Innern zu konzentrieren, nicht auf die Frustration und Wut, die mir jedes Mal begegnen, wenn ich das Haus betrete, indem ich weder willkommen noch zu Hause bin. Ich will etwas anderes spüren, als diese Verzweiflung, irgendetwas. Mit dem Ärmel wische ich mir die Tränen und den Schnodder aus dem Gesicht, ziehe kurzerhand meine Hose runter und begutachte die Narben, die meine Unterhose perfekt verdecken. Kein Platz für Neue, ohne dass es jemand sehen würde im Schwimmunterricht. Also kratze ich sie auf, um mich wenigstens so ein wenig von der Verzweiflung abzulenken, indem ich mich auf den Schmerz konzentriere, der unter meinen Fingernägeln brennt.
Wie in Trance kratze ich die Haut weiter auf, spüre das Blut, das dick hervorquillt, und atme erleichtert auf. Es ist als würde der Schmerz mit dem Blut meinen Körper verlassen, mich befreien von den negativen Gefühlen und mich erschöpft und bereit für den Schlaf zurücklassen.
Das Klingeln meines Handys lässt mich nicht der Erschöpfung nachgeben. Tomates Bild erscheint auf dem Display. Mit gerunzelter Stirn hebe ich ab.
„Das hättest du mir sagen müssen", erklingt seine fröhliche Stimme. Ich sehe zu meiner blutenden Wunde am Oberschenkel und ziehe die Hose darüber. Es ist nur oberflächlich und wird in den nächsten Tagen sicher abheilen.
„Was denn?"
„Dass du morgen Geburtstag hast, du Nase." Ich blinzele einige Male.
„Das... woher weißt du das?"
„Facebook hat es mir verraten. Warum hast du denn nichts gesagt? Jetzt muss ich noch in Eile ein passendes Geschenk für dich finden, Sonnenschein." Bei seiner Stimme entweicht mir ein schnaubendes Lächeln.
„Musst du nicht."
„Ich revidiere; ich möchte für dich in Eile ein passendes Geschenk finden. Also, sehen wir uns morgen?"
Sofort will ich ja sagen, weil ich merke, wie dringend ich eine Umarmung benötige.
„Soll ich zu dir kommen?"
„Nein", erwidere ich ein wenig zu schnell, sodass eine kurze Pause entsteht.
„Dann willst du zu mir kommen?" Ich nicke bis ich bemerke, dass er mich nicht sehen kann.
„Ja, das ist besser."
„Ich hol' dich sonst von der Schule ab, wenn du magst." Ich schüttele den Kopf, da wird er mich morgen wohl nicht finden.
„Nein, nein. Ich... ich bin gegen drei bei dir."
„Okay, dann bis morgen, Sonnenschein." Ich lege auf und murmel mich ins Bett. Nur einmal eine Nacht durchschlafen ohne Alpträume, mehr wünsche ich mir gar nicht, aber mein Gehirn hat andere Pläne mit mir, sodass ich mehrfach schweißgebadet aufwache.
Als ich morgens aufstehe, sind alle anderen schon weg. Auf dem Wohnzimmertisch befinden sich zwei Geschenke, die ich überraschend betrachte. Sie sind liebevoll eingepackt in Geschenkpapier mit mehreren Schleifen, farblich passend zum Papier. Sicher kein Werk meines Vaters, sondern seiner Freundin Dodo. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, was gestern zwischen mir und meinem Vater vorgefallen ist, weil er sicherlich so tut, als sei nichts passiert. Wie immer. Entschuldigung ist ein Begriff, der nicht in seinem Wortschatz vorhanden ist.
Ich setze mich einen Moment an den Tisch und bewundere die Geschenke. Vorsichtig öffne ich die Schleife und finde darin eine runde Metalldose, in der sich eine große Teetasse befindet, die mit bunten Schnörkelmustern verziert ist. Unwillkürlich muss ich lächeln. Dodo hat die Tasse sicher ausgesucht, da sie weiß, wie gern ich Tee trinke und ich bezweifle, dass mein Vater sich so etwas merken kann. In dem anderen Geschenk ist ein Buch, ein Liebesroman von John Green, der schon länger auf meiner Liste steht. Ich besitze eine lange Bücherliste, auf der Namen, Autoren, Preis und ISBN Nummern stehen, damit mein Vater mit der Liste zum nächstbesten Thalia laufen kann, ohne weiteres dafür tun zu müssen.
Am Nachmittag überrascht Tomate mich mit einem unförmig eingepackten Geschenk. Es ist ein flauschiger Teddybär mit einer violetten Schleife um den Hals.
„Du hast gestern ein wenig traurig gewirkt und ich war nicht da, um dich in den Arm zu nehmen, deshalb", er nickt in Richtung des Teddybärs, „kann er solange herhalten, bis ich bei dir bin."
Meine Unterlippe beginnt zu beben und mich überkommt eine Welle der Traurigkeit und Glücks zugleich. Also stolpere ich auf ihn zu, um ihn zu umarmen, und genieße den Moment, in dem er mich noch ein wenig enger zu sich herandrückt.
„Danke", flüstere ich und spüre, wie Tomate mir als Antwort das Kinn auf den Kopf legt. Wir verharren so einige Minuten bis ich mich von ihm löse und die Nässe in meinen Augenwinkeln wegwischen muss.
„Ich habe auch noch was für dich" schniefe ich und hole einen weiteren von Tomates Doppelgängern heraus, diesmal eine Fleischtomate, die meine Hand komplett ausfüllt und wahrscheinlich so groß ist wie mein klopfendes Herz. Tomate lächelt schwach, als er sie entgegennimmt.
„Das war ein Scherz, dass du mir ab sofort immer eine geben musst."
„Das ist mir egal", sage ich bestimmt.
Tomate blinzelt langsam, um mich dann abermals in eine Umarmung zu ziehen.
„Du bist verrückt, meine kleine Seelenverwandte."
„Mindestens genauso verrückt wie du."
„Wir sind schon so 'ne Chaos Kombi, was?" Und seiner Stimme kann ich ein tiefes Glucksen entnehmen. Den Kopf an seine Brust gelehnt, nicke ich. Seine Wärme ist wie das zu Hause, von dem ich nur in Büchern gelesen habe. Wie Familie, die man sich selbst aussuchen kann. Menschen, bei denen man sich wohlfühlt, ohne, dass sie etwas Bestimmtes dafür tun müssen
Hier mit ihm muss ich meine Tränen nicht verstecken oder Angst haben, verurteilt zu werden. Hier mit ihm kann ich ich selbst sein. Glücklich sein. Und ich will nicht, dass dieser Moment zu Ende geht.
Tomate,
heute ist mir klar geworden, wie viel du mir bedeutest. Du bist nicht nur ein Freund, du bist mein Seelenverwandter und all diese Momente mit dir fühlen sich an wie zu Hause.
Tomate,
ich weiß nicht, was ich fühle, wenn ich bei dir bin, aber ich glaube, dass
Tomate,
das ist jetzt mein dritter Versuch und hoffentlich auch der Brief, den ich dir tatsächlich geben kann. Ich weiß nicht genau, was ich schreiben soll.
Du bist mir genauso wichtig geworden und ich könnte mir ein Leben ohne dich als Freund wohl nicht mehr vorstellen.
Ich weiß, dass du dir gestern enorme Sorgen gemacht hast, aber das brauchst du nicht. Mein Vater hat sich wieder beruhigt und das wird sich schon alles wieder geradebiegen.
Ich bin klein, aber nicht schwach, das kriege ich schon alles gewuppt. Was mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitet ist Kilian. Er hat zwar sein Schweigen gebrochen, aber nur mir gegenüber. Ich bin doch die große Schwester und müsste für ihn da sein, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht ausreicht. Dabei ist er genauso selbstständig wie ich, hängt sich in die Schule rein und schreibt nur Einsen. Der wird es sicherlich ganz weit bringen, auch ohne meine Hilfe. So traurig die Trennung meiner Eltern ist, so finde ich es trotzdem schön, dass Kilian und ich und nähergekommen sind, weißt du?
Es hat also vielleicht doch alles auch irgendwo sein Gutes. Vielleicht muss ich nur das Positive daran sehen und mich daran festhalten.
Aber was mir in den letzten Wochen besonders viel Halt gegeben hat, bist du. Und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Ich hab dich lieb, Tomate.
Deine kleine Seelenverwandte, Katie
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top