Nachbeben

Es vergehen zwei Wochen, in denen meine Erkältungssymptome der Magenverstimmung weichen. Jeden Morgen verbringe ich vornübergebeugt über der Toilette, in der Hoffnung, meine letzten gegessenen Mahlzeiten in mir zu behalten.

Jeder Schritt ist anstrengender als der zuvor und überall, wohin ich sehe, ist er.

An der Fotowand in meinem Zimmer, hinter mir im Spiegelbild, draußen auf der anderen Straßenseite, vorne an der Tafel im Unterricht.

Ich kann nicht klar denken, mich nicht konzentrieren. Ich möchte einfach nur im Bett liegen bleiben und mich in meinen Erinnerungen wiegen.

So verweile ich einige Tage, versteckt vor der Welt, ohne den Willen, überhaupt die Gardinen vor dem Fenster zu öffnen.

Nach einer weiteren Woche Übelkeit und Erbrechen schleppe ich mich zu meinem Hausarzt. Es ist ein grauhaariger Mann, dessen Gesicht jünger aussieht als ihn seine grauen Haare wirken lassen. Zudem lächelt er selten und besitzt einen sehr trockenen Humor. Aber Doktor Maluk ist schon immer der Hausarzt meiner Familie gewesen und somit meine erste Anlaufstelle bei allem.

„Seit einigen Tagen ist mir morgens schlecht und ich muss mich übergeben", erkläre ich, weil ich die Sache nicht unnötig übertreiben möchte.

„Was Falsches gegessen?", fragt der Arzt knapp, ohne von seiner Tastatur aufzuschauen.

„Keine Ahnung, vielleicht?"

„Stress zu Hause?"

„Ich bin Oberstufenschülerin, wer hat da nicht Stress?", stelle ich die Gegenfrage und bringe den grauhaarigen Mann damit zum Schmunzeln.

„Schwanger?" Bei seinem Wort sackt mir das Herz in die Hose, als hätte es einen Bungeejump hingelegt ohne Sicherungsseil. Doktor Maluk sieht mich über seine runden Brillengläser hinweg abwartend an.

„Ich, ich weiß nicht", stammele ich. Panik steigt in mir auf, als ich mich daran versuche zu erinnern, wann ich das letzte Mal einen Tampon in der Hand gehabt habe und keine Antwort in meinem Gedächtnis finde.

Scheiße.

„Ich nehme eigentlich die Pille", versuche ich einen letzten Abwehrversuch.

„Bei Erbrechen und Magen-Darm-Verstimmungen oder der Einnahme von Antibiotika kann die Wirkung eingeschränkt werden", antwortet er und schiebt mit dem Ringfinger seine Brille nach oben, um mich nun durch die Brillengläser zu betrachten.

Antibiotika, hallt es in meinem Kopf. Ich habe Tom am Hochzeitswochenende gesagt, dass wir keinen Sex haben können, weil ich Antibiotika wegen meiner chronischen Blasenentzündung nehmen muss. Antibiotika.

Und er ... Er hat ... Ich schüttele den Gedanken ab, weil ich wieder seine Hände auf meinem Körper spüre. Die blauen Flecken schmerzen plötzlich, obwohl sie längst nicht mehr zu sehen sind.

Mit einem tiefen Seufzen öffnet er die Schreibtischschublade und nimmt einen kleinen Plastikbecher heraus, den er mir betont bestimmt hinstellt.

„Das WC ist den Gang raus auf der linken Seite." Mit zitternder Hand nehme ich den Becher an mich.

„Darf ich, darf ich meine Tasche hier liegen lassen?" Mit einer Handbewegung gibt er mir zu verstehen, dass ich das tun könne, während er sich wieder seinem Rechner zuwendet und wild auf die Tasten einschlägt.

Unsicher wende ich mich zur Tür und suche das kleine Bad auf. Orange Fliesen starren mir entgegen, als ich den Becher fülle und mit jeder Sekunde hoffe, dass dies nur ein böser Traum ist, aus dem ich gleich aufwache.

Vor der Tür wartet bereits eine Assistentin auf mich, die mir erwartungsvoll und mit einem breiten Lächeln die Hände entgegenstreckt. Noch nie habe ich jemanden sich so freuen sehen über einen Becher mit fremdem Urin darin. Widerwillig gebe ich ihn ihr.

„Dauert nicht lange, geh ruhig zurück ins Behandlungszimmer", sagt sie freundlich und verschwindet mit kleinen schnellen Schritten hinter einer weiteren Tür, die den Titel „Labor" trägt.

Ich starre noch eine Weile auf die geschlossene Tür, bettele, dass ich gleich aufwachen würde, kneife mich selbst, doch nichts passiert.

Übelkeit breitet sich in meinem Bauch aus, sodass ich zurück ins Bad stolpere und nichts als Galle in der Toilettenschüssel hinterlasse. Es ist nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich kein Essen mehr in mir haben würde.

Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich noch schlimmer aussehe als ich mich fühle. Ich bin kreidebleich, meine Lippen bläulich.

Eine Magenverstimmung, nichts weiter, spreche ich mir in Gedanken gut zu und atme tief durch, bevor ich zurück ins Behandlungszimmer gehe. Doktor Maluk hebt hinter seinen dicken Brillengläsern überrascht die Augenbrauen.

„Frau Sailer, Sie sehen blass aus, setzen Sie sich. Hier, nehmen Sie ein Schluck Wasser." Er hilft mir, das Glas anzuheben, wofür ich ihm dankbar bin. Jedes meiner Körperglieder fühlt sich schwach an, ein unangenehm dumpfes Gefühl macht sich in meinem Bauchraum breit, dass ich nicht wirklich einordnen kann. Nachdem ich das Glas leergetrunken habe, sieht Doktor Maluk noch einmal durch die Blätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen.

„Sie sind schwanger." Die Worte hallen nach wie ein Echo in einer dunklen Höhle, aus der ich mich ängstlich befreien will, aber nicht kann.

„Sie sollten ab sofort mit Ihrem Frauenarzt über jegliche Beschwerden reden, der kann Ihnen eine bessere Beratung bieten als ich. Ich mache Ihnen eine Überweisung fertig, wer ist Ihr Frauenarzt?" Ich habe den ersten Satz noch nicht einmal verarbeitet, sodass ich mich nicht auf seine weiteren Fragen konzentrieren kann. Alles, was in meinem Kopf schallt, ist das Wort „schwanger" und ich wünschte, ich könnte es abstellen.

„Frau Sailer?" Mein Kopf zuckt unkontrolliert in seine Richtung. „Der Name Ihres Frauenarztes", erinnert er mich, legt dann aber die Hände in den Schoß und betrachtet mich einen Augenblick. Ich muss aussehen wie ein Goldfisch, wie ich ihn einfach nur mit offenem Mund anstarre.

„Hören Sie, eine Schwangerschaft ist nicht leicht, erst recht nicht in Ihrem, wie alt sind Sie?" Er beugt sich zu seinem Bildschirm und in seinem nächsten Wort klingt Erstaunen mit: „Siebzehn."

„Frau Vulff", nenne ich meine Frauenärztin als Antwort auf seine letzte Frage, und sehe, wie er etwas auf der Tastatur eintippt, das kurz darauf vom Drucker ausgespuckt wird, wie ich zuvor meine Galle losgeworden bin.

„Besprechen Sie am besten alles bald mit Ihrer Frauenärztin." Ich nicke abwesend, verabschiede mich mit dem Zettel in der Hand und starre draußen noch einige Löcher in die Luft, bevor ich weinend zu Boden sinke.

Dann atme ich tief durch und rufe die Nummer meiner Frauenärztin an. Ich umklammere das Handy so sehr, dass meine Fingerknochen weiß hindurch scheinen, und meine Atmung gleicht der eines kleinen Kindes, nachdem es etwas getrunken hat: viel zu schwer und viel zu laut.

Aber ich darf sofort vorbeikommen, damit sie meinen Urin, und nach dem positiven Ergebnis und meinen Bitten, es nochmal zu überprüfen, auch mein Blut untersuchen.

Es ist dasselbe Resultat.

Ich falle auf dem Plastikstuhl in mich zusammen und ihrem Gesicht nach zu urteilen weiß sie, dass sie mir nicht dafür gratulieren soll. Erst als sie mir ein Taschentuch reicht, bemerke ich, dass ich zu weinen begonnen habe.

„Und nun?", frage ich sie.

„Eine Schwangerschaft ist etwas Wunderbares", antwortet sie, fügt aber nach einer kurzen Pause hinzu: „In Ihrem Alter schwierig, aber nicht unmöglich, wenn Sie es denn wollen."

Ich schüttele langsam mit dem Kopf. Nein, das ist nicht, was ich will. Ich will mein Leben, so wie es war. Vor der Beziehung mit Tom. Ich will meine Schule beenden, studieren. Reisen. Mit Kilian ausziehen. Mir Hilfe suchen. Gesund werden. Alles, nur nicht das.

„Abtreibung", flüstere ich und bin nicht einmal erschrocken darüber, wie leicht mir dieses Wort über die Lippen geht. Meine Frauenärztin weicht ein Stück zurück, weshalb ich es wiederhole, um sicher zu sein, dass sie richtig verstanden hat: „Eine Abtreibung. Alles andere ist unvorstellbar."

Stumm nickt sie und sucht schon die Formulare zusammen.

„Und mein Alter? Ich kann es nicht meinen Eltern sagen", ich schlucke. Mir wird kalt bei dem Gedanken daran. Tom kann ich es auch nicht erzählen, er hat so viel zu tun mit dem Druck, der auf ihm lastet, weil er sich noch nicht dafür entschieden hat, was er nach der Schule machen will. Zudem sind wir kein Paar mehr und er will mich bestimmt sowieso nicht wiedersehen.

Ich bin jetzt in der Oberstufe. Ein Jahr vor dem Abi. Ich habe es so weit geschafft und will jetzt nicht aufgeben.

„Ihr Alter ist unerheblich. Wenn Sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchten, müssen Sie einen Termin bei der Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle machen. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen."

„Und wo befindet sich diese Beratung?"

Doktor Vulff sucht mir freundlicherweise die Adresse raus, die sie mir mit einem mitleidigenden Blick übergibt.


                                                                                               *

Die Frau, die mich zu unserem Beratungsgespräch empfängt, hat so weit nach unten gezogene Mundwinkel, dass ich bezweifle, dass sie jemals in ihrem Leben gelacht hat.

„Sie sind minderjährig?", kommt sie direkt zum Thema und ich zögere, bevor ich wahrheitsgemäß antworte.

„In Ihrem Alter geht das Gesetz davon aus, dass Sie am besten für sich selbst entscheiden können. Wenn Sie einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, erhalten Sie von uns eine Bescheinigung am Ende dieser Beratung. Wir möchten Sie aber auch über die Alternativen aufklären." Ich schüttele langsam den Kopf.

„Ich brauche keine Alternativen."

„Sie scheinen psychisch sehr mitgenommen zu sein." Die Aussage klingt in meinen Ohren so absurd, dass ich lachen muss.

„Ich bin siebzehn und ungewollt schwanger. Ich habe kein geregeltes Familienleben, geschweige denn einen Partner. Meine meisten Freunde habe ich in den letzten Monaten verloren. Ich", ich mache eine Pause, in der ich den Kloß in meinem Hals zu unterdrücken versuche, „ich brauche Zeit, um mich selbst zu heilen, bevor ich die Verantwortung für ein anderes Leben auf mich nehmen kann. Ich möchte meinen Schulabschluss schaffen, den Kontakt zu meinen Freunden wieder aufbauen. Ich...ich brauche Hilfe für mich. Da ist kein Platz für ein", meine Stimme versagt, aber die Beraterin führt den Satz einfühlsam für mich zu Ende: „Für ein Baby?" Stumm nicke ich, während mir die Tränen die Wangen hinunterrinnen.

„Viele Mädchen in Ihrem Alter denken so, haben Angst. Das ist vollkommen normal."

„Ich möchte aber keine Angst haben, ich möchte einfach nur eine normale Schülerin sein. Ich hatte die letzten Jahre viel zu viel Angst vor viel zu vielen Dingen. Ich...ich glaube, ich bin einfach im Moment nicht in der Lage, um so etwas durchzustehen." Sie nickt verständnisvoll, aber ihre Augen begutachten mich mit einem traurigen Blick.

„Für viele ist die Adoption eine großartige Alternative", setzt sie an und die vorige Einfühlsamkeit in ihrem Gesicht ist der Entschlossenheit gewichen. Ich runzle die Stirn.

„Ich habe doch gesagt, dass ich keine", aber sie hebt die Hand und ich halte inne.

„Denken Sie daran, dass Sie ein Menschenleben töten, wenn Sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Eine Adoption ermöglicht es dem Kind aber, ein Leben zu haben."

„Ich", setze ich an, doch sie schüttelt wieder den Kopf.

„Bei einer Adoption gewinnen wirklich alle Seiten."

„Wie das? Ich bin siebzehn und vor dem Schulabschluss. Soll ich hochschwanger mein Abitur schreiben, damit mir die Fruchtblase während der Prüfung platzt?", rufe ich wütend. Jetzt hält sie einen Moment inne, weil sie wohl nicht mit einer solch lauten Reaktion meinerseits gerechnet hat.

„Eine Schwangerschaft ist nicht leicht, aber es haben schon so viele Frauen vor Ihnen geschafft. Ich bin mir sicher, dass Sie das auch durchstehen, wenn Sie es nur genug wollen."

„Ich will aber nicht schwanger sein." Ich verschränke die Arme vor der Brust und die Mundwinkel der Frau ziehen sich tatsächlich noch weiter nach unten. Ihre Brauen ziehen sich zusammen und kurz fürchte ich, dass sie mich anschreien wird. Aber ihre Stimme bleibt gelassen: „Sie sollten an das Leben in Ihrem Bauch denken. Möchten Sie ihm wirklich das Leben verwehren, nur weil Sie eine falsche Entscheidung getroffen haben?"

Erschrocken reiße ich die Augen auf. Eine falsche Entscheidung?

Ich, ich wurde... Ich kann den Gedanken nicht einmal zu Ende denken. Ich kann es nicht denken, nicht sagen. Wenn ich es ausspreche, und sei es nur in Gedanken, dann wird es wahr. Dann würde ich zugeben, dass Tom ein Täter und ich ein Opfer bin. Dass ich ein Opfer einer Straftat bin. Dass Tom ein Straftäter ist.

Und das kann ich nicht.

Denn er hat mich geliebt und ich ihn.

Also sage ich nichts, lasse mich weiterhin von ihr zutexten über meine Fehlentscheidungen und meinen Egoismus, nur, um am Ende, wie versprochen, die Bescheinigung in der Hand zu halten.

Mit brennenden Augen sehe ich auf das Stück Papier in meiner Hand.

In frühestens drei Tagen darf ich mich für eine Abtreibung anmelden.

Und genau das tue ich, immer noch wütend über die Frau, die mir eigentlich unvoreingenommen und entscheidungsoffen begegnen sollte.

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