Grenzen setzen

Ich werde am nächsten Morgen von einem lauten Klingeln geweckt und es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass es mein Telefon ist. Halb blind taste ich danach auf dem Boden, greife stattdessen aber in ein Gesicht, dass erschrocken aufstöhnt.

Malte liegt auf einer Wolldecke auf dem Boden, während mir jetzt erst klar wird, dass ich gestern Nacht in Maltes Bett eingeschlafen bin. Ich reibe mir erschöpft übers Gesicht, weil das Letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte, noch ein weiteres Drama ist. Zu meinem Glück hält Malte mir mein Telefon hin.

„Bigfoot", murmelt er und meint damit Tom, den ich in meinem Handy so eingespeichert habe. Verdammt.

Ich bedeute Malte leise zu sein, der sich müde zurück auf den Boden fallen lässt, und nehme das Gespräch an.

„Endlich, habe ich dich geweckt?"

„Ja", gähne ich und versuche gar nicht erst zu verbergen, wie müde ich bin.

„Warst du gestern noch lange wach?"

„Nicht mehr so lange." Ich höre Tom erleichtert aufatmen.

„Hör mal, Katie, ich weiß, irgendwas ist mit dir. Lass uns doch bitte darüber reden. In Ruhe. Ja?" Er hat wieder diesen lieblichen Klang in seiner Stimme, aber es löst keine Sehnsucht in mir aus, sondern pure Wut. Irgendetwas ist mit mir? Ist er sich denn keiner Schuld bewusst?

„Ich brauche Zeit", erwidere ich und reibe mir noch einmal übers Gesicht. Malte setzt sich auf und hebt skeptisch eine Augenbraue.

„Bitte", setze ich nach und meine damit sowohl Tom als auch Malte.

„Lass uns uns doch nächste Woche treffen? In einem Café vielleicht?" Ich seufze. Ich habe Angst. Nicht vor Tom, sondern dem Gespräch. Wenn ich es weiter hinauszögern kann, kann ich noch versuchen so zu tun, als sei nichts gewesen. Und vielleicht schaffe ich es und wir können wieder weitermachen wie bisher. Aber wenn ich mich mit ihm jetzt zusammensetze, dann weiß ich, wie dieses Gespräch enden wird. Und ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin.

Er ist so lange schon Teil meines Lebens und der Gedanke, darauf verzichten zu müssen ist, wie ein Kartenhaus zum Einstürzen zu bringen. Es hat mich Zeit und Mühe gekostet, es aufzubauen. Es vor Wind und Tornados zu beschützen. Wann wäre ich bereit, es zerfallen zu lassen?

„Nächste Woche", stimme ich zu, in der Hoffnung, dass es genügend Zeit ist.

„Ich kann auch Mira dazu holen, wenn es dir lieber ist?"

„Ja, mach." Vielleicht ist eine dritte Partei nicht schlecht. Vielleicht kann sie zwischen uns vermitteln, weil ich, für meinen Teil, nicht sicher bin, ob ich überhaupt ein Wort mit Tom gewechselt bekomme, wenn ich ihn sehe.

„Mehr Zeit also?", fragt Malte mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen, als ich auflege. Ich werfe ihm einen mahnenden Blick zu, aber er lässt nicht locker. Stattdessen legt er seine Hände auf meine Knie und sieht mich vom Boden aus an.

„Katie, wir wissen doch beide, wie das enden wird. Du kannst nicht so weitermachen. Du belügst dich selbst, wenn du denkst, du schaffst das. Du musst auch an dich denken, eine Grenze für dich ziehen."

Ich weiß, dass er recht hat, obwohl ich mir wünsche, dass es nicht so ist. Dankbar drücke ich seine Hand, während die nächsten Tränen sich schon einen Weg zu meinem Kinn bahnen.

„Bist du dann da?", frage ich mit zitternder Stimme. Malte nickt.

„Ruf mich einfach an. Jederzeit."

Seine Worte sind wie eine Tür, die plötzlich geöffnet wird, nachdem ich monatelang verzweifelt daran angeklopft habe. Endlich ein sanftes Lächeln, ein verständnisvolles Zunicken, dass es in Ordnung ist, dass ich Hilfe möchte. Dass es in Ordnung ist, dass ich es nicht allein schaffe. Dass jemand auf der anderen Seite der Tür ist, der tatsächlich bereit ist, mir diese Hilfe zu geben so gut er kann.

*

Dieses Wissen gibt mir ein sichereres Gefühl, als ich auf dem Weg zum Treffen mit Tom bin.

Er hat sich ein Café ausgesucht, einen Coffee-Shop, wie sie an jeder Ecke der Stadt existieren. Es ist noch nicht Herbst, aber der Sommer ist vergangen. In wenigen Wochen wird Tom zwanzig. Im Oktober sind es zwei Jahre, seitdem wir uns kennengelernt haben. Im Winter dann werde ich endlich achtzehn und kann mit Kilian ausziehen.

Mich hat in den letzten Tagen verspätet die Sommergrippe eingeholt und meine Nase glüht wie die von Rudolf.

Von weitem sehe ich schon Mira mit Tom. Angelehnt an die Fensterfront des Coffee-Shops rauchen sie, ohne viele Worte miteinander zu wechseln.

Mira.

Es ist gut, dass sie da ist. Ich weiß, wie dieses Gespräch enden wird. Wir brauchen sie.

Ich atme tief durch, dann schleppe ich mich regelrecht zum Eingang, um von einem besorgt schauenden Tom begrüßt zu werden: „Du siehst miserabel aus."

„Ich fühl' mich auch so."

„Ich auch", gibt er zu. Mit dem Schuh drückt er die Zigarette auf dem Boden aus. Tom sieht nicht gut aus, er ist blass, sein Gesicht wirkt eingefallen. Der goldene Schimmer in seinen Augen ist kaum erkennbar, eher trübe sieht er mich an und ich kann seine Trauer spüren.

Er weiß, was ich heute sagen will, und mein Hals schnürt sich zu.

Kann ich ihm das wirklich antun?

Ich habe mir bereits zurechtgelegt, was ich sagen würde, habe vor dem Spiegel geübt, um mich durch seine Blicke nicht ablenken zu lassen, falls er es mir ausreden will. Ich muss das tun. Ich weiß, dass es die einzig richtige Entscheidung ist, um gesund zu werden.

Ich brauche Hilfe, die Tom mir nicht geben kann. Stattdessen ist er zu lange einer der Gründe dafür gewesen.

Ich folge den beiden hinein zu einem Tisch auf der Galerie und bestelle einen Pfefferminztee, weil ich wegen meiner Erkältung sowieso nichts mehr schmecken kann. Als unsere Getränke kommen und Tom sich noch immer nicht gesetzt hat, sehe ich ihn fragend an.

„Ich habe Mira meine Seite unserer Situation geschildert. Ich würde vorschlagen, dass ich euch Zeit gebe, damit du ihr auch deine Sicht erzählen kannst. Ihr könnt mich dann ja wieder reinholen."

Überrascht starre ich ihn einige Sekunden an, aber Tom dreht sich um und geht ohne dass ich es schaffe, etwas zu erwidern. Mira hat ihre Hände über die Tischplatte gelegt und drückt nun meine, sodass ich sie wieder ansehe.

Sanft lächelt sie.

„Hey", sie flüstert es beinahe, drückt meine Hände nochmal. Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht sofort in Tränen auszubrechen.

„Was ist los zwischen euch?", mit dem Daumen streicht sie über meinen Handrücken und zieht so meinen Blick wieder zu ihrem Gesicht. Verzweifelt schüttele ich den Kopf, während sich die Tränen bilden.

„Viel zu viel", presse ich hervor und meine Atemzüge zittern wie bei einem Erdbeben.

„Er sagt, ihr habt euch wegen Kleinigkeiten und alltäglichen Dingen gestritten", setzt Mira an und ich lache auf bei dem Gedanken, all diese Momente als Kleinigkeiten abzustempeln.

„Dir geht es nicht gut." Es ist eine Bemerkung, die ihr Sorgenfalten über die Stirn schieben und mit einem beunruhigten Gesicht mustert sie meine Unterarme, die ich wie ertappt vor der Brust verschränke, damit sie die neuen Narben nicht sieht.

„Katie." Mira greift nach meinen Armen, entblößt die hellen und dunklen Striemen darauf, die getrockneten Blutlinien und die Krusten, die sich von Handgelenk bis Armbeuge ziehen.

„Sind das alle?", fragt sie, als kennt sie die Antwort bereits. Ich beiße mir auf die Unterlippe, schließe die Augen und senke den Kopf, bevor ich ihn langsam schüttele. Meine Schultern beben, ein Wimmern entfährt mir.

„Hee", Mira kommt zu mir auf die Holzbank ohne meine Hand loszulassen und umarmt mich, wiegt mich hin und her.

„Ich, ich kann nicht mehr", schluchze ich in ihren Hals hinein und spüre, wie sie nickt.

„Er liebt dich, wirklich. Er ist der festen Überzeugung, dass ihr das noch hinkriegt. Wenn du es auch willst."

Ich schluchze wieder, reibe mir die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht, um Mira wieder anzusehen, die meinem Blick standhält. Ich versuche all meine Verzweiflung in diesen Blick zu legen, all das, was passiert ist und wie ich mich fühle, weil ich nicht weiß, wie ich es in Worte fassen kann. Wir sehen und lange an, bis ihre Augen sich kaum merklich weiten.

„Für dich ist es schon endgültig", flüstert sie. „Du hast dich schon entschieden."

Wieder kommt ein Schwall Tränen mein Gesicht hinunter, aber ich schaffe es, zu nicken.

„Ich, es, das alles, es wird zu viel", versuche ich zu erklären, „das bei der Hochzeit, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, verstehst du? Ich kann einfach nicht mehr. Ich liebe ihn und, weiß Gott, ich will ihn nicht verletzen, aber... ich kann nicht nur an ihn denken, ich muss an uns denken. Und ein wir wird es auf Dauer nicht mehr geben können. Weil ich es nicht mehr aushalte... Mira, ich kann einfach nicht mehr." Die letzten Worte presse ich heraus. Ich verschlucke mich, huste, lache gekränkt und breche daraufhin wieder in Tränen aus.

Knapp zwei Jahre würden heute ein Ende finden. Und auch wenn es meine Entscheidung ist, mir tut es mindestens genauso weh. Ich schließe die Augen für einen Moment, um mich wieder zu fassen. Als ich Mira ansehe, nickt sie. Ich nicke.

Daraufhin seht sie auf und holt Tom zu uns hinein. „Was hast du denn die ganze Zeit da draußen gemacht?", frage ich ihn lächelnd, um meine Trauer zu überspielen.

„Geraucht", achselzuckend, mit einem schiefen Lächeln im Gesicht, setzt er sich gegenüber von mir. Ich strecke meine Hände über den Tisch nach seinen aus und er ergreift sie. Ich drücke seine Hände, sehe ihm in die Augen, um ein letztes Mal nicht Tom, sondern Bigfoot zu sehen. Meinen Bigfoot.

Aber die Worte, die durch meinen Kopf schwirren, bringen wieder die Tränen zum Vorschein. Ich blinzele sie davon und lächel. Tom wartet.

„Ich weiß, dass es in den letzten Wochen nicht gut gelaufen ist zwischen uns beiden", beginne ich. Das wird das Schwerste sein, was ich jemals tun muss.

Ich denke daran, wie wir uns damals das Versprechen gegeben haben ‚Heute, morgen, immer'. Wie ich ihn angelacht habe, er mich umarmt hat, mich hochgehoben hat, mich geküsst hat, mein gesamtes Gesicht geküsst hat.

„Ich liebe dich", sage ich und Tom gibt mir mit seinem Gesichtsausdruck zu verstehen, dass er genauso fühlt.

Das konnten wir von Beginn an, nur mit Blicken kommunizieren. Wir taten es auf der Bahnfahrt von ihm zu mir oder von mir zu ihm, die über eine Stunde dauert. Wir taten es, wenn wir gemeinsam im Bett lagen. Wenn wir zusammen auf dem Balkon eine Zigarette geraucht haben, wenn wir auf Feiern eingeladen waren und in unseren Grüppchen standen, um über den gesamten Raum hinweg miteinander reden zu können.

Doch jetzt kann ich mein Herz brechen hören.

„Aber ich kann nicht mehr", Tom blinzelt, als hätte er nicht verstanden. Seine Hände entziehen sich langsam den meinen. Er blickt zu Boden. Tränen tropfen auf seine Hände.

Und ich kann sein Herz brechen hören.

Wir beide sitzen uns gegenüber, weinen, versuchen die Scherben unserer Herzen aufzusammeln, und lassen sie doch liegen.

Ich sehe ihn an, aber er sieht mich nicht.

Ich will Antworten, aber er hat nur Fragen.

Mira sitzt zwischen uns und ihr Blick verrät mir, dass sie am liebsten etwas sagen möchte, von dem sie noch nicht weiß, was es ist.

Wortlos setzt sie sich neben Tom. Es ist verständlich. Er braucht sie mehr als ich.

Ich habe noch nie einen Menschen so am Abgrund stehen sehen, abgesehen von mir selbst. Jede Faser meines Körpers tut mir weh mit dem Wissen, dass ich Schuld für seine Schmerzen bin.

„Das mit bei der Hochzeit, ich", versuche ich zu erklären, aber mir bleiben die Worte im Hals stecken, als Tom verzweifelt zu mir aufschaut.

„Ich dachte, das hätten wir geklärt?"

Mira redet auf ihn ein, flüstert ihm ins Ohr und Tom atmet tief durch und legt schlussendlich einen Rucksack auf den Tisch.

„Das ist für dich. Badesalz, Duftkerzen und mehr. Ich wollte dich eigentlich verwöhnen, hatte gehofft, dass wir zu dir oder mir gehen. Dich gesund pflegen."

Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll, dann drücke ich den Rucksack ein Stück in seine Richtung zurück.

„Ich kann das nicht annehmen", flüstere ich. Ich fühle mich schon grausam genug.

„Bitte, ich will, dass du wieder gesund wirst", ich muss unwillkürlich lächeln, was Tom schüchtern erwidert. Es muss ein seltsames Bild sein uns zu sehen, wie wir mit Tränen in den Augen traurig einander anlächeln und einen Rucksack zwischen uns hin und her schieben.

„Ich werde wieder gesund, aber nimm es bitte zurück. Ich schaffe das schon."

Unentschlossen sieht er zwischen mir und Mira, die den Rucksack an sich nimmt und die ersten Schritte Richtung Ausgang geht. Wie ferngesteuert stehen wir auf und folgen ihr. Es gibt nichts mehr zu sagen und jede Sekunde länger würde uns nur unnötig mehr Schmerzen bereiten.

Vor der Tür zieht Tom mich in seine Arme und ich will ihn plötzlich nicht mehr loslassen. Er ist mir so vertraut. Bigfoot. Ich kenne jede seiner Narben, jede seiner Muttermale, jeden seiner Gesichtsausdrücke. Ich kenne seine Wünsche, Gedanken, Träume und Ziele. Ich kenne ihn besser als mich selbst. Besser als irgendwen auf der Welt.

Er kennt mich besser als sich selbst. Besser als irgendwen auf der Welt.

Er ist mein Gegenstück, mein Seelenverwandter, mein Wächter, mein aufgehender Stern, mein Bigfoot.

Ich war sein Sonnenschein, seine Nase, sein Littlefoot, sein Wunschtraum.

„Du willst wirklich Schluss machen", flüstert er dicht an meinem Ohr als könne er meine Zweifel spüren. Aber es ist nicht Bigfoot, der mich liebevoll fragt, sondern Tom, der es wie eine Drohung klingen lässt. Ich drücke ihn sanft von mir und er beißt sich auf die Lippen, sieht zu Boden und versteckt seine Hände in den Taschen.

Aber lange kann er sich nicht halten und er beginnt wieder zu weinen und zieht mich damit mit. Wir stehen uns schweigend gegenüber. Stumm holt er ein Buch aus seinem Rucksack hervor. Lucien. Das Buch, das ich ihm über die letzten Monate vorgelesen habe. Das Buch, nach dem wir unseren ersten Sohn benennen wollten in unseren Schwärmereien von einer gemeinsamen Zukunft.

Er rümpft die Nase und hebt daraufhin seinen Kopf. Seine grünen Augen funkeln mich voller Schmerz an. Seine Wangen sind leicht gerötet, das Haar klebt an der Stirn.

„Wenn du schon nicht den Rucksack willst, solltest du wenigstens das mitnehmen. Ist schließlich deins."

Und mit einem Mal klirrt es, zerspringt. Tief in mir drinnen. Es ist der Teil, zu dem ich in den letzten zwei Jahren geworden bin. Dank ihm.

Die einzelnen Splitter kratzen an meiner Lunge, meinem Magen, meinem Herzen. Ich kann nicht atmen. Ich keuche, schnappe nach Luft. Flehend sehe ich ihn an. Ich will ihn umarmen, ihm sagen, dass wir das gemeinsam irgendwie schaffen könnten. Dass dies nicht das Ende sein muss, wenn wir bereit wären, es noch einmal zu versuchen.

Aber das wäre gelogen.

Und wir haben uns noch niemals belogen.

„Ich liebe dich", flüstere ich und nehme das Buch an mich, bevor ich im Getose der Menschenmenge der Innenstadt verschwinde.


Tom,

Diese Seelenverwandtschaft, du bist mein Seelenverwandter, wir kennen uns besser als irgendwer sonst. Dennoch frage ich mich manchmal, ist das Liebe?

Ich liebe dich, das habe ich dir gesagt.

Jetzt. Heute. Immer. Das habe ich dir versprochen.

Ich will mein Versprechen so gern halten können, jederzeit.

Aber es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich hoffe, du verstehst das.

Katie


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