Endgegner

Es vergehen Monate, in denen ich jeden Morgen mit hochgezogenem Shirt vor dem Spiegel stehe und Luciens Namen bewundere. Es ist wie ein Grabstein für ihn, auch wenn ich nicht wissen kann, ob es ein er geworden wäre, wenn ich die Schwangerschaft durchgezogen hätte.

Aber Tom und ich haben uns auf diesen Namen geeinigt und es ergibt Sinn, dass wir ihn so genannt hätten, wenn er noch da wäre.

Jedes Mal, wenn ich mir das Tattoo ansehe, dessen weiße Farbe täglich mehr meiner hellen Hautfarbe ähnelt, und so wie eine echte Narbe aussieht, sage ich mir, dass es richtig war. Und dass es okay ist, deswegen traurig zu sein.

Ich habe mich im Internet schlau gemacht und es ist wohl gar nicht so selten, dass Frauen Schuld und Trauer nach einer Abtreibung empfinden. Auch, wenn die Entscheidung für sie selbst die Beste war, die sie in dem Moment hätten fällen konnten.

In einem Forum habe ich mich mit einigen anderen ausgetauscht und es tut gut, zu wissen, nicht allein zu sein mit diesen vielen widersprüchlichen Gefühlen.

Die Trennung ist über ein Jahr her und dennoch vermisse ich Tom immer noch. Trotz allem, was er getan hat, vermisse ich ihn und ich weiß nicht, ob ich ihn jemals nicht vermissen werde.

Aber in den letzten Monaten ist mir noch einmal bewusst geworden, dass auch das die richtige Entscheidung war.

Denn seitdem stelle ich sehr langsam, aber schmerzvoll fest, dass kein Ich mehr vorhanden war.

Nachdem wir uns getrennt haben, wusste ich nicht mehr, was zu mir gehört und was nicht, da es in meiner Erinnerung nur ein Wir gegeben hat. Die Zeit davor kann ich mir nicht vorstellen, es ist, als hätte sie nicht existiert und ein Ich niemals gegeben.

Was mag ich? Was tue ich gerne? Wer sind meine Freunde? Was sind meine Wünsche? Meine Ziele?

Es ist, als müsste ich ganz von vorne anfangen, als hätte ich noch keine Erfahrungen gemacht.

Ich habe zwei Jahre mit jemandem verbracht, dem ich mein gesamtes Ich geschenkt habe.

Wir haben Pläne geschmiedet für eine gemeinsame Zukunft und ich habe dabei ganz vergessen, was ich mir für meine Zukunft wünsche.

Das Tattoo erinnert mich daran, dass ich Entscheidungen, wichtige Entscheidungen, treffen kann. Dass ich stark genug bin, dass ich bereit bin für ein Leben nach der Beziehung.

Nach meinem achtzehnten Geburtstag habe ich eine kleine Wohnung für Kilian und mich gefunden.

Endlich habe ich ein sicheres Umfeld für meinen Bruder geschaffen, der sich nun vollends auf die Oberstufe vorbereiten kann. Ich bin erwachsen geworden, fühle mich stark und selbstbewusster.

Und dennoch bin ich aufgeregt bei dem Gedanken daran, dass ich Tom nach über einem Jahr heute wiedersehe.

Ich habe um ein Gespräch gebeten, denn ich habe noch einige Fragen, auf die ich Antworten brauche.

Jedenfalls habe ich das in den letzten Monaten festgestellt, in denen ich in Selbsthilfegruppen und Internetforen Unterstützung und Hilfe erfahren habe.

Sie ersetzen keinen Therapeuten, aber soweit bin ich noch nicht.

Erst möchte ich mit Tom sprechen, ihn Dinge fragen, die mir in der letzten Zeit auf der Zunge gelegen haben.

Vierzehn Monate, in denen ich wieder angefangen habe, gesund zu essen, Hobbies für mich zu finden und mich bei meinen alten Freunden dafür zu entschuldigen, dass ich sie links liegen gelassen habe.

Ich bin bereit, Tom gegenüber zu treten, und es fühlt sich so an, als sei er mein Endboss in diesem Kampf nach Normalität.

Wir treffen uns auf neutralem Gebiet, einer weiten Wiese im Stadtpark, auf der verschiedene Gruppen Fußball spielen oder grillen.

Kurz überlege ich, ob ich ihn umarmen soll, aber es kommt mir seltsam vor, also stehen wir uns schweigend gegenüber. Er sieht gut aus, gesünder als bei unserem letzten Zusammentreffen. Seine Wangen sind nicht mehr eingefallen, seine Haltung gerade. Er hält lässig eine Zigarette zwischen den Fingern, dessen Rauch mir in der Nase brennt. Ich habe an dem Tag aufgehört zu rauchen, als ich mich von Lucien verabschiedet habe.

„Du hast zugenommen", bemerkt er, doch seine Stimme klingt alles andere als anerkennend. Eher vorwurfsvoll.

„Ja", erwidere ich, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Und du trägst super viel Schminke", er streckt angewidert seine jetzt gepiercte Zunge heraus, aber ich nicke nur. Seine gerade Haltung hat nichts damit zu tun, dass es im besser geht. Es ist sein Ego, das ihn an einem imaginären Faden hochzieht. Wie ein Puppenspieler. Und mit einem Mal weiß ich, dass er mich provozieren will, damit ich das hier abbreche.

Aber ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt schon aufzugeben. Ich habe Fragen und ich will Antworten. Ich verdiene sie.

„Schon ein bisschen fett und hässlich", murmelt er Richtung Boden und mein Selbstwertgefühl bekommt einen Dämpfer. Ich atme tief durch. Er will nur provozieren. Wie ein kleiner Junge.

Aber ich kann das. Ich brauche diese Aussprache. Damit ich abschließen kann. Ich lasse mich nicht beirren.

Er ist mein Endboss und ich werde nicht zurückweichen in diesem Kampf.

„Wollen wir, wollen wir vielleicht ein Stück gehen?", ich deute mit der Hand eine Runde um die Wiese an und Tom nickt gelangweilt, während er mit den Augen rollt.

Trotz seiner drei genieteten Gürtel hängt die Hose unter seinem Hintern und ich kann seine grau gestreifte Boxershorts erkennen. Die Gestreifte in pink aus dem selben Set habe ich getragen, mittlerweile ist sie aber wahrscheinlich im Müll wie alle anderen Erinnerungsstücke an unsere Beziehung.

„Warum wolltest du mich sehen?" Tom steckt seine Hände in seine Hosentaschen und schlurft neben mir her, wirbelt den Staub und vereinzelt kleine Steine vom Sandweg auf.

Er will also direkt zum Thema kommen. Ich atme tief durch und bleibe stehen. Ich warte bis Tom sich mir zuwendet, dann stelle ich eine der vielen Fragen, die ich mir im letzten Jahr jede Nacht gestellt habe: „Ich habe immer noch eine Frage. Hast du mich damals...in Berlin...hast du mich mit ihr betrogen?"

Tom sieht mich erschrocken an, seine unbeteiligte Maske ist augenblicklich verschwunden.

„Katie, niemals. Niemals hätte ich dich betrogen." Ich atme erleichtert aus und doch weiß ich nicht, ob ich seinen Worten Glauben schenken kann. Mittlerweile hat er einen Instagramaccount, den ich über die letzten Monate immer mal wieder besucht habe. Dadurch weiß ich, dass er wenige Tage nach unserer Trennung mit ihr zusammengekommen ist. Letzte Woche haben sie Jahrestag gefeiert.

Und trotzdem will ich ihm glauben, um damit abschließen zu können.

„Wirklich?", frage ich deshalb und Tom seufzt.

„Wirklich." Doch dann schaut er mich mit diesem Blick an, den er früher immer hat, wenn er im Kopf seine Gedanken abwog. Ich warte. Wenn ich ihn immer noch so gut kenne, wie damals, wenn in ihm noch ein Funken Ehrlichkeit mir gegenüber da ist, dann wird er mir sagen, was er denkt. Es ist wie das Hoffen auf Regen in einer Dürre. Erst ist man glücklich über das herunterkommende Wasser, doch schnell fürchtet man, dass der Boden nicht alles aufnehmen kann. Und man ertrinkt.

„Es ist nicht so, dass ich nicht daran gedacht hätte und ich war auch versucht, es zu tun und schlussendlich war es Flo, der mich davon abgehalten hat", er zieht die Schultern hoch, als sei das eine Entschuldigung, „aber ich habe nicht mit ihr geschlafen, während wir noch zusammen waren."

In meinem Magen breitet sich eine wütende Hitze aus, denn ich kenne ihn zu gut. Ich kenne die Schlupflöcher, die er nimmt, damit er mich nicht anlügen muss.

Er hat nicht mit ihr geschlafen, aber mit ihr Nachrichten ausgetauscht, mit ihr in einem Bett gelegen, wahrscheinlich mit ihr rumgeknutscht, vielleicht sind sie bis zur zweiten Base vorgerückt.

All das ist möglich, wenn ich in sein Gesicht sehe und zwischen den Zeilen höre, die er sagt.

Die Wut in meinem Bauch klettert meine Speiseröhre hoch und lässt Worte hinaus, die ich nicht sagen will: „Im Januar habe ich einen Termin beim Tätowierer."

Toms Blick verrät alles, in seinen Augen bin ich nicht der Typ für Tattoos. In seinen Augen bin ich das hässliche Mädchen mit zu viel Schminke, das fett geworden ist, wie er mir nicht nur heute an den Kopf geworfen hat. Es ist unglaublich, dass ich erst jetzt bemerke, wieviele fiese Sprüche und Blicke von ihm ich aushalten musste.

Dabei ist er wahrscheinlich der einzige Mensch, der mich als fett bezeichnen würde, denn laut BMI bin ich immer noch an der Grenze zum Untergewicht, obwohl ich seit unserer Trennung ganze zehn Kilo zugenommen habe.

Erst dadurch ist mir bewusst geworden, wie viel zu dünn ich tatsächlich gewesen bin während unserer Zeit. Weil ich aussehen wollte wie eines dieser Animemädchen, von denen er immer geschwärmt hat. Wie diese Fuchsfrau aus seinem Spiel, das er immer gezockt hat.

Aber ich fühle mich in meiner Haut jetzt wohler. Vor dem Spiegel fühle ich mich schön. Das zusätzliche Fett und auch die Muskeln haben meinen Körper genau an den richtigen Stellen gutgetan. Mein Gesicht ist auch runder geworden, durch Foundation und Puder aber definierter geschminkt. Hässlich bin ich nur in seinen Augen.

Und mit einem Mal merke ich, dass das okay für mich ist.

„Mein zweites", füge ich dennoch herausfordernd hinzu.

„Dein zweites?"

„Ja", antworte ich kurz gebunden, wohlwissend, was ich da gerade tue. Ich will, dass er es weiß. Dass er weiß, was ich durchmachen musste. Dass er versteht, dass unsere Beziehung mich mehr geprägt hat als alles andere auf der Welt und das auf so vielen verschiedenen Ebenen.

Tom legt eine Denkpause ein, in der er wohl abwägt, ob er fragen soll.

Bitte frag mich, flehe ich still, frag mich, damit ich dir sagen kann, wie es mir ergangen ist, damit du hörst, welche Entscheidung ich treffen musste, damit du siehst, wie gebrochen ich war.

„Wie auch immer, ich habe letztens Pilze ausprobiert und ich muss schon sagen, die waren echt der Hammer."

Das hier hat keinen Zweck. Tom ist zu stolz, oder in seinem Ego noch zu sehr verletzt, als dass ich richtig mit ihm reden kann. Es macht mich rasend, dass er so eine Blockade aufgebaut hat und ich nicht mehr an ihn rankomme und gleichzeitig kann ich es ihm nicht verübeln. Ich habe damals Schluss gemacht. Ich bin in diesem Fall die Böse. Und er hat allen Grund verletzt zu sein.

Es ist ein egoistischer Wunsch von mir, es ihm zu erzählen. Von Anfang an wollte ich das Geheimnis um Lucien für mich behalten und jetzt auf einmal habe ich den Drang ihm alles zu erzählen, nur damit er sich schuldig fühlt. Ich wollte stark sein, ihm zeigen, dass ich ohne ihn kann, aber mit jeder Sekunde wird mir bewusster, dass es eine Lüge ist. Ich will in seiner Nähe sein, ich will seine Arme um mich spüren, seiner Stimme lauschen, wie sie mich in den Schlaf wiegt.

Nach allem, was passiert ist, wünsche ich mir immer noch nichts sehnlicher, als wieder bei ihm, mit ihm zu sein und ich spüre einen Funken Hass in mir aufspüren.

Nicht auf ihn oder das, was er getan hat, sondern auf mich. Weil ich trotz allem, nach all dieser Zeit, immer noch nicht loslassen kann.

„Ja, klingt gut. Freut mich für dich", sage ich in einer monotonen Stimme und zwinge mir ein Lächeln auf. Er hat gewonnen. Ich bin noch nicht bereit für meinen Endgegner.

„Ich sollte gehen."

„Ja", antwortet Tom mit fester Stimme.

Die Sehnsucht, ihn zu umarmen, brennt auf meiner Haut wie Feuer. Ich will ihn nicht aufgeben und doch, wenn ich jetzt gehe, dann würde ich ihn wahrscheinlich nie wiedersehen.

Er ist glücklich, hat sein Leben in den Griff bekommen, sich eine neue Beziehung aufgebaut und keinen Gedanken mehr an mich verschwendet.

Und hier bin ich, immer noch so gebrochen wie am Tag unserer Trennung. Dabei war ich doch diejenige, die Schluss gemacht hat, muss es mir da nicht besser gehen als ihm?

Es geht immer denen besser, die Schluss machen. Aber irgendwie stimmt das nicht. Irgendwie geht es mir kein Stück besser. Ich dachte damals, dass mich die Trennung befreien würde, aber seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an ihn gedacht habe.

Ich drehe mich weg, weil ich spüre, wie die Tränen heiß in mir aufsteigen und ein Kloß sich in meinem Hals bildet. Ich kann nicht mehr sprechen, aber ein Schluchzen kann ich auch nicht unterdrücken.

„Katie?"

Ich höre, wie Tom einen Schritt auf mich zukommt. Er ist kein schlechter Mensch, weil er schlimme Dinge getan hat.

Wenn ich bereit bin, ihm zu verzeihen, warum bin ich dann nicht auch bereit, ihn zu vergessen?

Er legt vorsichtig eine Hand auf meine Schulter und dreht mich langsam zu sich um. Ich ziehe die Nase hoch und trotz meiner Tränen kann ich in seine erschrockenen Augen sehen.

„Ich wünschte nur", schniefe ich, „ich wünschte, es wäre anders. Ich, ich dachte, ich kann das... ohne dich, aber das stimmt nicht, Tom... Ich vermisse dich jeden verdammten Tag und ich weiß, dass du glücklich bist und ich will dich nicht in deinem Leben unterbrechen, aber du hast mehr als nur mein Herz damals gebrochen... Du hast mich gebrochen." Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

„Und ich glaube nicht, dass ich mich irgendwann davon erholen werde." Meine Unterlippe zittert.

„Ich glaube, du bist ein Arsch gewesen und ich dachte, ich wollte, dass du weißt, dass es mir gut geht, aber es geht mir nicht gut... Du hast unsere letzten Jahre weggefegt wie Staub auf einer Tischplatte und ich bin immer noch dabei, die Körner wieder aufzuheben, um daraus unser Bild zu basteln... Ich will dich nicht gehen lassen, obwohl ich weiß, dass es das Beste ist und... es tut mir leid, dass ich Schluss gemacht und dich damit so verletzt habe, aber es ging nicht anders... Du hast mich gerettet... mehrmals hast du mich davor bewahrt, mir etwas Schlimmes anzutun und ich... ich liebe dich dafür... Aber du warst es auch immer wieder, der mich in dieses dunkle Loch geworfen hat... und ich hasse dich dafür... Und ich bin so verwirrt und weiß nichts mit mir anzufangen, seit du nicht mehr da bist.... Ich dachte, wir seien füreinander da und das immer... Aber", meine Stimme versagt, mein Atem geht nur noch in unregelmäßigen Stößen und ich spüre, wie mein gesamtes Gesicht kribbelt und mein Kopf sich leer anfühlt. Ich heule all meinen Frust des letzten Jahres heraus und stehe wie ein kleines Kind vor ihm.

Tom sieht mich entgeistert an, bevor er meine Schultern packt und mich in seine Arme zieht. Er drückt mich an sich und ich spüre seine Lippen an meinem Ohr, als er flüstert:

„Es tut mir leid."


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